Reid
Am Sonntagmorgen wache ich auf der Couch auf, mit einer Flasche Scotch neben mir und einem so schlimmen Kater, wie ich ihn seit mindestens zehn Jahren nicht erlebt habe. Die Erkenntnis, dass ich nicht ins Bett gegangen bin, weil Carrie nicht bei mir war, weckt in mir den Wunsch, gleich wieder zu trinken, aber das werde ich nicht tun. Ich kann es mir nicht leisten, betrunken zu sein – nicht, solange ich mich mit meinem Vater auseinandersetzen muss. Aber verdammt, wann hab ich mich je so nach einer Frau in meinem Bett gesehnt – nein, in meinem Leben? Jetzt. Genau in diesem Moment. Scheiße.
Genervt fahre ich mir mit den Fingern durchs Haar und stehe auf, gehe in die Küche, um mir mein Kopfschmerzmittel zu holen, und schlucke zwei Pillen mit einer Flasche Wasser hinunter. Dank des Katers bekomme ich schon wieder Migräne, verdammt, ich spüre schon das Pochen in meinen Schläfen. Ich hole mein Handy aus der Tasche der Jogginghose, die ich mir letzte Nacht nach dem Duschen angezogen habe, und checke meine Nachrichten, obwohl ich weiß, dass keine von Carrie dabei sein wird. Ich habe recht. Sie hat mir nicht geschrieben, und bis Montag komme ich nicht an sie heran, da bin ich mir sicher. Vorher wird sie nicht mit mir sprechen. Sie kennt meinen Vater nicht. Sie weiß nicht, was ich mir bei meiner Reaktion gedacht habe, und ich kann ihr das nicht einmal erklären. Ich muss hier raus. Ich muss laufen gehen. Entschlossen trinke ich noch eine Flasche Wasser leer, bevor ich in mein Schlafzimmer marschiere. Doch als ich dort angekommen bin, ziehe ich mich nicht um, sondern rufe Carrie an.
Sie nimmt ab. Sie nimmt tatsächlich ab. »Reid.«
Verdammt, es gefällt mir, wenn sie meinen Namen sagt. »Ich will dich sehen und mit dir reden.«
»Nein. Und morgen arbeite ich von hier aus.«
Das macht mich wütend. »Nein«, sage ich in hartem Tonfall. »Das tust du nicht. Weil Geschäftsführer das nicht tun, und das würde ich jedem anderen auch sagen. Wenn du die Firma leiten willst, hast du im Büro anzutreten, egal, welche persönlichen Probleme du hast.«
»Ach ja, ich habe anzutreten, damit sich deine Investition lohnt.«
»Verdammt richtig. Du bist für sämtliche Investitionen verantwortlich. Das ist der Job der Geschäftsführung, und die Angestellten müssen sehen, dass du vor Ort bist und genau dafür sorgst. Wenn du willst, dass ich dich beim Vorstand unterstütze, kommst du morgen ins Büro. Hast du mich verstanden?«
»Ich werde da sein.«
Ich schließe die Augen, hasse mich dafür, dass ich das gerade tun musste, aber es war nur zu ihrem Besten. Sie will die Firma zurückhaben, das weiß ich, und ich werde nicht zulassen, dass mein Vater – und damit auch ich – sie kleinkriegen. »Dann sehen wir uns morgen.« Ich beende die Verbindung, kurz davor, aus der Haut zu fahren, während ich das Handy zurück in meine Hosentasche stopfe. Im nächsten Moment klingelt es, und ich ziehe es hastig wieder heraus, in der Hoffnung, dass es Carrie ist, doch es ist mein Vater.
Ich verziehe das Gesicht und gehe dran. »Vater.«
»Wir sollten uns treffen.«
»Nachdem ich die Papiere für deinen Rückzug aus der Kanzlei fertighabe. Ich gebe dir dann Bescheid.«
»Und wenn ich die nicht unterschreibe, machst du mich fertig«, stellt er fest.
»Ganz genau. Und das mit Freuden.«
»Ich hab dich gezeugt, mein Junge.«
»Glaub mir, das ist mir leider mehr als bewusst. Ich melde mich.« Abrupt lege ich auf und rufe direkt Gabe an.
»Wir müssen reden. Ich komme rüber.«
»Mit so was hab ich schon gerechnet«, entgegnet er.
»Ich jogge rüber. In etwas weniger als ›ner Stunde bin ich da.«
»Du joggst … Dann hast du dich also nicht mit Carrie versöhnt.«
»Nicht mal annähernd.«
»Mensch, Reid. Scheiße. Was hast du jetzt vor?«
»Ihn dafür bezahlen lassen.« Ich beende das Telefon und betrete meinen begehbaren Kleiderschrank. Ein paar Minuten später habe ich mir ein T-Shirt, einen Kapuzenpulli und Laufschuhe angezogen und mir die Zähne geputzt. Dann gehe ich in Richtung Wohnungstür, und als ich meine Schlüssel von der Konsole im Flur nehme, fällt mein Blick auf Carries Reisetasche, die direkt neben meinem Koffer steht – genau dort, wo ich sie gestern Nacht abgestellt habe. Ich reiße die verdammte Wohnungstür auf und verschwinde. Ich muss hier dringend raus.
Kurze Zeit später dröhnt Musik aus dem Kopfhörer in meine Ohren – mein Versuch, alles auszublenden, während ich laufe, doch es funktioniert nicht. In Gedanken spiele ich erneut die Szene mit meinem Vater in der Küche durch. Er ist so ein Scheißkerl. In dem Moment, als er dort auftauchte, hatte ich nur noch einen einzigen Gedanken: Seine Aufmerksamkeit von Carrie abzulenken und sie so schnell wie möglich da rauszuholen. Eine Strategie, die ich selbst torpediert habe, indem ich ihr hinterhergerannt bin. Damit war alles für die Katz. Ich hätte sie einfach nur in den Arm nehmen und aus der Küche führen sollen, um dann meinen Vater rauszuschmeißen. Das muss ich ihr sagen. Entschlossen bleibe ich stehen und hole mein Handy heraus, stecke es jedoch gleich wieder zurück. Ich muss ihr das persönlich sagen, und wenn das bedeutet, dass ich bis morgen warten muss, dann warte ich.
Erneut fange ich an zu laufen, und diesmal höre ich erst nach einigen Kilometern auf, als ich das Hochhaus erreiche, in dem mein Bruder wohnt. Ohne mich anzumelden, gehe ich am Sicherheitsdienst vorbei – ich stehe auf der Besucherliste, und die Wachleute kennen mich gut –, und innerhalb weniger Minuten komme ich vor Gabes Wohnung an. Wie immer hat Gabe die Tür für mich offen gelassen, und so gehe ich einfach hinein und durchquere den Wohnbereich – einen großen Raum, der von Backsteinmauern und einer deckenhohen Fensterfront begrenzt wird. Das Zimmer ist komplett in Brauntönen gehalten, und die maskuline Einrichtung schreit geradezu: ewiger Junggeselle – eine Einstellung, die ich gut nachvollziehen kann. Schließlich ging es mir mal genauso.
Bis Carrie kam.
Ich steige die Treppe hinauf, die ein Stockwerk höher in die Küche führt, und sehe mich neben Gabe auch meiner Schwester gegenüber, die beide an der holzverkleideten Kücheninsel stehen – genau wie ich in Jogginghose und T-Shirt.
»Lass mich raten«, sage ich und lehne mich gegen den Türrahmen. »Du bist hier, um Gabe die großen Neuigkeiten mitzuteilen. Bist du …«
»Wenn ich ein Geheimnis hätte«, entgegnet Cat, »würde ich es euch zweien nicht sagen. Zumindest nicht jetzt.«
»Das heißt, sie ist schwanger, verkündet es aber noch nicht offiziell«, sagt Gabe an mich gewandt und stützt sich auf der Kücheninsel auf. »Eine Einschätzung, die sich auf dem Sachverhalt gründet, dass sie es nicht abstreitet.«
»Meine Güte, ich bin doch hier nicht im Zeugenstand vor Gericht.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Wie ist es mit Carrie gelaufen?«
»Das hast du ja gestern gesehen. Sie hasst mich jetzt.«
»Weil du ihr das Gefühl gegeben hast, dass du sie nur benutzt, Reid.«
»Das weiß ich, verdammt. Aber in dem Moment dachte ich, es wäre das Beste, um sie aus seiner Schusslinie rauszuholen.«
»Ich weiß«, entgegnet Cat. »Das hast du mir schon gesagt, aber ich an Carries Stelle wäre jetzt ziemlich verletzt.«
»Klingt, als wäre eine dicke Entschuldigung fällig«, sagt Gabe. »Das kostet dich mindestens sechs Dutzend rote Rosen.«
»Nein«, widerspreche ich. »Sie denkt, ich hätte mir ihre Firma nur unter den Nagel gerissen, um ihr und ihrem Vater zu schaden. Sie glaubt, ich würde sie für irgendeinen Racheplan benutzen. Wenn ich da mit Rosen ankomme, hält sie das nur wieder für einen billigen Trick.«
»Das sehe ich genauso«, bestätigt Cat. »Damit machst du es unter Umständen sogar noch schlimmer. Was hast du stattdessen vor?«
»Ich erzwinge Dads Rückzug aus der Kanzlei. Das habe ich ihm schon gesagt.« Ich blicke zu Gabe hinüber. »Hat er dich angerufen?«
»Nein. Cat hat mir schon erzählt, was du gestern zu ihm gesagt hast, aber wie zum Geier willst du ihn dazu zwingen?«
»Ich weiß etwas über ihn, das niemand sonst wissen soll.«
»Wieso zur Hölle haben wir ihn dann nicht schon längst rausgekickt?«, fragt Gabe. »Worauf warten wir noch?«
»Du willst das wirklich durchziehen?«, hakt Cat nach.
»Ja. Eigentlich schon, seit ich Moms Brief gelesen habe.«
»Du hast ihn tatsächlich gelesen?«
»Ja, Cat, tatsächlich. Ich wusste nicht, was für ein Mensch er ist. Aber ich bin nicht wie er. Spätestens nicht mehr, seit ich Carrie getroffen habe.«
»Soll ich mal mit ihr reden?«, schlägt meine Schwester vor.
»Nein«, lehne ich ab. »Noch nicht. Vielleicht später, aber ich will dich da nicht mit reinziehen. Sie soll sich ihr eigenes Bild von dir machen. Ich will, dass sie erkennt, dass wir nicht so sind wie er. Und bei dir hatte sie zumindest gestern schon mal den richtigen Eindruck, das weiß ich.«
»Wir müssen ihm zeigen, dass wir zusammenstehen«, lenkt Gabe unsere Aufmerksamkeit zurück auf unseren Vater. »Wir drei. Das ist er nicht gewohnt, und damit demonstrieren wir ihm, dass wir seinen Scheiß nicht mehr mitmachen.« Sein Handy klingelt, und während er mit dem Anrufer spricht, verziehen sich seine Lippen zu einem Grinsen. »Schicken Sie ihn rauf.« Dann beendet er das Telefonat. »Er ist hier. Perfektes Timing.«
»In der Tat«, sagt Cat. »Ich bin nämlich immer noch sauer, weil er sich auf Reese′ Party so aufgeführt hat.«
»Möchte jemand einen Drink, während wir warten?«, erkundigt sich Gabe, den Blick auf Cat gerichtet.
»Hör mit deinen Tricks auf. Ich erzähle dir nicht, ob ich schwanger bin«, gibt sie zurück. »Und jetzt trinke ich bestimmt keinen Alkohol. Ich brauche einen klaren Kopf.«
»Ich mache ihm mal die Tür auf«, verkündet Gabe. »Er müsste gleich hier sein.« Es klingelt. »Und da ist er auch schon.« Gabe umrundet die Kücheninsel, während ich ein paar Schritte vorgehe, um ihn durch die Tür zu lassen. Als er weg ist, sehe ich Cat an.
»Lass uns ins Wohnzimmer gehen. Ich will nicht mit ihm hier so eingepfercht sein. Dadurch fühlt er sich wahrscheinlich nur noch stärker, weil seine Macht so richtig zur Geltung kommt.«
»Gute Idee«, befindet Cat und eilt bereits aus der Küche und die Treppe hinunter.
Ich folge ihr, und in dem Moment, als wir das hintere Ende der Couch erreichen, kommt Gabe mit unserem Vater herein. Während der gegenüber von uns stehen bleibt, gesellt sich Gabe zu uns und stellt sich neben Cat, sodass unser Vater uns ansehen muss.
»Ach, wie nett«, sagt er. »Meine drei geliebten Kinder, alle vereint.«
»Die beiden sind auf meiner Seite«, sage ich. »Du bist raus.«
Um seine Mundwinkel zuckt es, und er sieht mich an. »Ich ziehe mich aus der Firma zurück, aber nur gegen eine saftige Abfindung.«
»Wie hoch die sein wird, bestimme ich«, sage ich. »Und wir beide wissen, wieso.«
»Du hast doch gar nicht die Eier, um deine Drohung wahrzumachen.«
»Wenn du das wirklich glauben würdest, wärst du gar nicht hergekommen, um Gabe auf deine Seite zu ziehen. Du bist raus.«
»Irgendwann, wenn du nicht mehr nur an deine Arbeit denkst«, fügt Cat hinzu, »können wir vielleicht versuchen, eine richtige Familie zu sein.«
Finster blickt er sie an. »Du hast hier gar nichts zu sagen. Du wolltest nicht für die Kanzlei arbeiten, also halte dich jetzt auch raus.«
»Nicht in die Kanzlei einzusteigen war wahrscheinlich das Klügste, was du machen konntest«, kommentiert Gabe trocken.
»Und das alles nur wegen Wests Tochter?«, wendet mein Vater sich wieder an mich.
»Ich tue das für uns alle. Für Mom, und ja, auch für Carrie. Dieser Krieg ist vorbei. Aus. Schluss. Der alte West ist raus und du auch. Jetzt ist die nächste Generation dran und führt beide Firmen gemeinsam.«
Er starrt mich an, ein hartes Funkeln in den Augen. »Ich schicke dir meine Bedingungen. Wenn du sie erfüllst, bist du mich los.« Damit wendet er sich ab und geht zur Tür, bleibt jedoch abrupt stehen und dreht sich noch einmal zu mir um. Sein eiserner Blick durchbohrt mich, als er hinzufügt: »Aber ich werde nie ganz weg sein, mein Junge. Vergiss das nie.« Dann kehrt er mir erneut den Rücken zu und verschwindet endgültig.
Als die Tür ins Schloss fällt, stehen wir drei da wie erstarrt, und die Sekunden vergehen, bis Cat schließlich sagt: »Eine neue Generation. Mom klatscht jetzt bestimmt Beifall da oben.«
Nachdenklich reibe ich mir übers Kinn. In meinem Kopf gibt es nur Carrie. »Ich muss weg.«
»Zu Carrie?«, fragt Cat.
»Nein, aber ich habe eine Idee, wie ich sie zurückgewinnen kann.«
Eilig mache ich mich auf den Weg zur Tür und weiter zum Fahrstuhl. In der Sekunde, als ich aus dem Haus trete, rufe ich Carries Vater an, doch der nimmt nicht ab. Ich spreche ihm auf die Mailbox: »Ich möchte Ihnen einen Handel vorschlagen. Rufen Sie mich zurück.« Anschließend jogge ich zurück nach Hause und habe gerade die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als er mich anruft.
»Falls es bei diesem Handel um meine Tochter geht, vergessen Sie’s.«
»Wenn ich meinen Vater dazu bekomme, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen, erzählen Sie ihr alles.«
»Niemals. Ich habe diese Vereinbarung extra so getroffen, damit sie nicht alles erfährt, und ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass Sie mit ihr zusammenkommen. Darauf können Sie sich verlassen.«
»Ich bin gerade bereit, meinen Vater zu stürzen, im Austausch dafür, dass sie ihr alles erzählen.«
»Auch wenn Sie es sich nicht eingestehen wollen: Sie wollten ihn doch schon längst stürzen. Und ich habe Ihnen die Möglichkeit dazu gegeben. Danken Sie mir, indem sie sich verdammt noch mal von meiner Tochter fernhalten.« Er legt auf.
Es gibt nur einen Weg, Carries Vater zum Reden zu zwingen: Ich muss etwas Belastendes über ihn ausgraben und ihn damit erpressen. Das hätte er mehr als verdient, aber ich kann es trotzdem nicht tun. Nicht, wenn ich Carrie zurückhaben will, und das will ich.
Verdammt. Wenn ich sie nicht zurückgewinne, bin ich am Arsch, und wenn ich es tue, bin ich es auch.