Kapitel Vierundfünfzig

Carrie

Am Sonntagmorgen wache ich auf meiner Couch auf, wohin ich mich zurückgezogen habe, nachdem ich mich im Bett nur hin und her gewälzt habe. Ich konnte nicht schlafen, so allein in meinem Bett, obwohl ich es wirklich versucht habe. Ich habe sogar die doppelte Dosis Melatonin genommen, denn wenn ich sowieso schon dabei bin, mich wegen Reid fertigzumachen, warum dann nicht auch noch zum Junkie werden? Nicht, dass Melatonin eine Droge wäre, aber trotzdem. Eigentlich neige ich nicht zu Exzessen, nur wenn es um diesen Mann geht. Genau deshalb habe ich gestern Nacht wach in meinem Bett gelegen und mir vorgestellt, bei ihm im Bett zu sein; mir ausgemalt, was er alles mit mir gemacht hätte – neben mir einzuschlafen eingeschlossen. Dann kam erneut die Erinnerung daran hoch, wie er auf der anderen Seite der Küche bei seinem Vater stand. Diese zwei Varianten von Reid sind so gegensätzlich, dass sie mich vollkommen verwirren.

Ich setze mich auf und stütze den Kopf in die Hände. Vom vielen Weinen brummt mir der Schädel, und schließlich tapse ich in die Küche, mache mir eine Tasse Kaffee und stürze anschließend zwei Kopfschmerztabletten mit einem Schluck Wasser hinunter. Dann hole ich mein Handy aus der Tasche meiner Jogginghose – die ich im Bett anhatte, weil ich jederzeit bereit sein wollte, etwas zu tun, wenn ich auch keine Ahnung habe, was – und checke meine Nachrichten. Tatsächlich warte ich auf eine Nachricht von Reid, weil ich eben zu den erbärmlichen Frauen gehöre, die einem Mann hinterhertrauern, der sie benutzt und vor noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden gedemütigt hat.

Ich nehme meine Tasse aus der Maschine und schütte literweise Kaffeesahne mit Erdnussbuttergeschmack hinein, weil ich gestern Nacht doch kein Eis mehr gegessen habe, und finde, dass ich mir ein bisschen Maßlosigkeit verdient habe. Mit der Tasse gehe ich zur Couch zurück und komme zu dem Schluss, dass ich den heutigen Tag nur durch Arbeit und exzessiven Sport überstehe. Da es in Japan gerade mitten in der Nacht ist, schicke ich meinem Bruder eine E-Mail wegen der Eventarena und hoffe, er hat wirklich so gute Kontakte zu den Verkäufern, wie er gesagt hat. Nachdem ich die Mail abgeschickt habe, gehe ich ins Schlafzimmer, ziehe mir Sportklamotten an und mache mich auf den Weg in das Fitnessstudio ein paar Stockwerke über mir. Auf ein unangenehmes Zusammentreffen mit Reid beim Joggen verzichte ich heute lieber.

Ich will gerade meine Wohnung verlassen, als mein Handy klingelt und Reids Name auf dem Display aufleuchtet. Diesmal gehe ich sofort dran. Ich will ein paar Tage von zu Hause aus arbeiten. Ich brauche Abstand, und genau das sage ich ihm auch. Arschig, wie er ist, belehrt er mich über meine Pflichten als zukünftige Geschäftsführerin, die ihre persönlichen Probleme beiseitezuschieben hat. Er hat ja recht: Ich sollte mich von keinem Arschloch – also ihm – davon abhalten lassen, meine Ziele zu verfolgen und meinen Job zu erledigen. Jetzt bin ich fast genauso wütend auf mich, wie ich es auf ihn bin. Aber nur fast.

Nachdem ich beim Training eine Menge Dampf abgelassen habe, laufe ich zum Supermarkt hinüber und kaufe mir all die Dinge nach, die sich in meiner Reisetasche bei Reid befinden. Damit kehre ich in meine Wohnung zurück, checke meine E-Mails, nur um festzustellen, dass mein Bruder sich noch nicht gemeldet hat, und gehe anschließend unter die Dusche. Dann mache ich es mir erneut auf der Couch bequem und recherchiere Projekte – zur Sicherheit, falls der Plan mit dem Event Center doch platzt. Jede einzelne Stunde, die vergeht, ist eine Qual. Ich denke an Reid. Ich will Reid. Ich hasse Reid. Wahrscheinlich bin ich verliebt in Reid, weshalb ich ihn noch mehr hasse. Und hat er mir nicht genau das prophezeit? Er war sich sicher, dass ich ihn eines Tages hassen würde, weil er die ganze Zeit wusste, was er mir angetan hat.

»Arschloch«, flüstere ich.

Am Abend, als auf der anderen Seite der Welt eine neue Arbeitswoche angebrochen ist und ich mir gerade etwas beim Chinesen bestellt habe, ruft mein Bruder an.

»Ich hab gleich ein Meeting, aber ich will eine Gewinnbeteiligung.«

»Ich zahle dir eine Vermittlungsgebühr, aber eine Beteiligung bekommst du nicht.«

»Wie viel?«

»Gar nichts, wenn ich den Deal nicht abschließe, deswegen brauche ich die Telefonnummer.«

Er zögert einen Moment, rückt die Nummer dann allerdings doch raus. Unsere Verabschiedung fällt kurz aus, und im Anschluss rufe ich direkt im Büro des Event Centers an und erreiche den zuständigen Ansprechpartner, der gut Englisch spricht. Er bestätigt mir, dass das Center zum Verkauf steht, und informiert mich über die Bedingungen. Das Startgebot ist ziemlich hoch angesetzt, aber er schickt mir die Daten zu, auf denen die Bewertung basiert.

Die nächsten Stunden verbringe ich damit, diese Informationen auszuwerten und eine Präsentation zu erstellen, und das Ergebnis sieht wirklich gut aus. Ich maile Reid die Dateien, bevor ich mich auf der Couch ausstrecke und mich schlafen lege, meinen Laptop und mein Handy neben mir. Ich sollte mich nicht danach sehnen, dass es noch mal klingelt, aber das tue ich. »Ich hasse dich, Reid Maxwell«, murmle ich in die Dunkelheit hinein.

***

Reid

Am liebsten würde ich Carrie anrufen, aber ich könnte es nicht ertragen, wenn sie mich schon wieder abwürgt. Ich muss ihr persönlich gegenüberstehen und sie dazu bringen, mir zuzuhören. Da das gerade nicht geht, jogge ich heute besonders lang und powere mich richtig aus, doch als ich anschließend unter der kalten Dusche stehe, muss ich daran denken, wie ich mit Carrie in genau dieser Dusche Sex hatte. Ich stürze mich in die Arbeit und rufe die Investoren an, die ich für Graysons Projekt gewinnen will, was in einer Verabredung zum Essen mündet, auf die ich eigentlich gar keine Lust habe. Nachdem ich mehrere Stunden mit den »Geldsäcken« verbracht habe, wie sie sich gerne selbst nennen, und wieder nach Hause fahre, habe ich die Zusage für eine Investitionssumme in der Tasche, die so hoch ist, dass selbst mir ganz schwindlig davon wird – und ich habe schon öfter mit Riesenbeträgen jongliert. Das Event-Center-Projekt, das Carrie vorgeschlagen hat, klingt nach einem Wahnsinnsdeal. Ich hoffe, sie schafft es, ihn an Land zu ziehen. Ich hoffe, wir schaffen das.

Ich betrete mein gottverdammtes riesiges, aber gähnend leeres Apartment. Wieso wollte ich diese Wohnung noch mal unbedingt haben? Das Klingeln meines Handys reißt mich aus meinen Gedanken, und ich traue mich gar nicht, aufs Display zu schauen. Ich wünsche mir, dass es Carrie ist, aber ich weiß, dass sie mich nicht anruft. Schließlich hole ich das verfluchte Ding aus meiner Hosentasche und blicke auf den Namen des Anrufers.

»Hallo, Cat«, melde ich mich, schlendere zu meiner Bar hinüber und schenke mir einen Whiskey ein, weil mein Kater verschwunden ist und ich offensichtlich schon wieder bereit für den nächsten bin.

»Wie ist es mit Carrie gelaufen?«

»Gar nicht. Und vor morgen im Büro habe ich auch keine Möglichkeit, mit ihr persönlich zu sprechen. Falls sie mir überhaupt zuhört. Momentan bin ich anscheinend für sie gestorben.«

»Nein«, entgegnet meine Schwester. »Ich hab gesehen, wie sie dich angeschaut hat und wie du sie angeschaut hast. Reid, du hast noch nie eine Frau so angesehen, zumindest nicht in meiner Anwesenheit. Sie … sie hat dich verändert oder zumindest irgendwas bei dir bewirkt, vielleicht irgendeine Wunde geheilt. Ich weiß nicht, so eng sind wir beide ja nicht miteinander.«

»Cat …«

»Wir kriegen das schon wieder hin, das habe ich im Gefühl. Ich bin … ich bin jetzt bereit dazu, Reid … Aber irgendwas muss es doch geben, womit du Carries Vertrauen zurückgewinnen kannst. Warum erzählst du ihr nicht einfach das, was du ihr – wie du sagst – nicht erzählen kannst?«

»Weil ich dann meine Anteile an der Kanzlei verliere und Gabe gleich mit reinreiße. Und dann wird Dad Carries Firma plattmachen, und wir sind alle am Arsch.«

»Oh, mein Gott. So schlimm ist das?«

»Ja. Durch mein Schweigen schütze ich auch sie. Dad hat etwas getan, in dem ich mit drinhänge, ohne dass ich es wusste. Unwissenheit schützt bekanntlich vor Strafe nicht. Man wird mir eine Mitschuld geben.«

»Und Gabe?«

»Der weiß nichts davon. Und ich will nicht, dass er sich auch noch irgendwie mitschuldig macht. Er darf nichts davon erfahren.«

»Mein Gott, Reid. Das ist doch eine Riesenlast, die du da mit dir herumträgst.«

»Ich hatte das alles unter Kontrolle, bis ich Carrie kennengelernt habe. Durch sie hat sich alles geändert. Ich habe ihren Vater angerufen, um ihn davon zu überzeugen, den Vertrag aufzulösen, aber er will, dass ich aus ihrem Leben verschwinde. Der wird mir nicht helfen. Und die Ironie des Ganzen ist, dass mein altes Ich den Scheißkerl einfach in Grund und Boden stampfen würde, aber er ist ihr Vater, Cat. Sie liebt ihn, und ihre Mutter hat sie vor Jahren verlassen.«

»Du liebst sie.«

»Ich … Es ist noch zu früh, um von Liebe zu sprechen.«

»Man weiß es aber«, entgegnet Cat. »Es ist zwar verrückt, aber wenn man auf den Menschen trifft, der für einen bestimmt ist, weiß man es ziemlich schnell. Natürlich entwickelt sich die Liebe noch weiter, trotzdem weiß man es schon früh. Rede mit ihr. Ich weiß, du kannst das. Sie will ganz bestimmt auch mit dir reden – sie braucht nur das Gefühl von Sicherheit.«

»Sicherheit«, sage ich, und das Wort hallt noch in mir nach. Ihre Mutter hat sie verlassen, ihr Bruder ist weggezogen, ihr Vater hat sie angelogen. »Ja, ich glaube, du hast recht.«

»Gib ihr das Gefühl, dass sie sich auf dich verlassen kann. Ich weiß, das ist gerade sehr viel, aber sie braucht dich. Gib mir Bescheid, falls ich mit ihr sprechen soll.«

»Danke, Cat.« Ich zögere einen Moment, bevor ich hinzufüge: »Du hast mir gefehlt.«

»Na ja … Irgendwann demnächst unterhalten wir uns mal darüber, wieso es überhaupt dazu gekommen ist, aber jetzt musst du erst mal die Frau, die du liebst, zurückerobern.«

Nachdem wir uns verabschiedet haben, kippe ich meinen Whiskey hinunter und denke dabei über Cats Worte nach. Langsam fängt es in meinem Kopf an zu arbeiten, und ich gehe ins Wohnzimmer hinüber, klappe meinen Laptop auf, der noch auf dem Couchtisch steht, und finde eine E-Mail von Carrie mit dem Betreff Event Center Details in meinem Postfach vor. Sofort gehe ich die Zahlen durch, mit denen wir Grayson todsicher ködern können. Ich rufe ihn direkt an.

»Reid. Ich hoffe, du hast gute Nachrichten für mich.«

»Wir haben ein fantastisches Projekt in Japan aufgetan und bereits diverse Investoren mit im Boot. Carrie hat das Projekt gefunden, ich hab mich nur um die Geldgeber gekümmert.«

»Dann könnte ich das also nicht allein stemmen?«

»Nein. Dafür ist es zu groß. Wir können dir auch nicht garantieren, dass das Objekt nicht an einen anderen Bieter geht, aber was wir dir garantieren können, ist, dass du es definitiv kaufen willst. Und wir werden darum kämpfen.«

»Das macht mich neugierig. Am Mittwochabend um sieben feiere ich die Eröffnung meines neuen Hotels. Kommt doch um fünf in mein Büro im Hotel und anschließend mit auf die Party. Meine Assistentin schickt euch die entsprechenden Infos.«

»Gerne. Bis dann.«

Ich öffne mein E-Mail-Programm, um Carrie zu schreiben, aber ich kann es nicht. Ich muss mit ihr sprechen. Also hole ich mein Handy heraus und rufe sie an.

»Hallo«, meldet sie sich schon beim ersten Klingeln. »Du hast die Zahlen also bekommen.«

»Ja. Sie sehen super aus. So ein grandioses Projekt hatten wir alle noch nicht. Ich hab meinen Teil schon getan: Ich habe uns heute hundert Millionen gesichert, die ich sicher noch auf dreihundert erhöhen kann.«

»Oh, mein Gott. Das wird Grayson umhauen.«

»Ich habe ihn schon angefixt, aber noch keine Details genannt. Ich habe gerade erst mit ihm telefoniert, wir sind am Mittwochabend um fünf mit ihm verabredet, und anschließend findet eine Party statt, zu der er uns eingeladen hat. Seine Assistentin schickt uns die entsprechenden Infos zu.«

»Das ist ja perfekt. Dann haben wir genug Zeit, um uns vorzubereiten.«

»Ja.« Ich zögere. »Carrie.«

»Ja?«

Es gibt so vieles, was ich ihr sagen will, aber ich weiß, dass sie mir nur wieder einen Schlag versetzen wird, und den nehme ich lieber persönlich entgegen. Dann kann sie anschließend wenigstens nicht einfach auflegen.

»Bis morgen.«

Ich will den Anruf schon beenden, als ich höre: »Reid.« Ihr Tonfall klingt dringlich.

»Ja?«

Einen Moment lang dringt Schweigen aus der Leitung. »Ich … Bis morgen.«

Doch sie legt nicht auf, und ich auch nicht. Schließlich sagt sie: »Kannst du jetzt endlich auflegen?«

»Weil du es nicht kannst?«, frage ich.

»Leg einfach auf, Reid.«

Scheiße.

Ich beende den Anruf, und es bringt mich beinahe um, aber nach diesem Telefonat weiß ich zumindest, dass ich immer noch eine Chance habe. Wobei das nicht reicht: Ich muss an ihren Vater rankommen, aber nicht, um ihn zu zerstören. Ich werde ihn stinkreich machen. Vielleicht ist er dann ja bereit, Carrie das zu erzählen, was ich ihr nicht erzählen darf.