Reid
Falls es mein Vater war, der Carrie das angetan hat, bringe ich ihn um.
Eine Stunde, nachdem wir von dem Brand in Carries Wohnung erfahren haben, wird Carrie von der Polizei befragt. Ich stehe ein paar Schritte von ihr entfernt, zusammen mit Cat und Gabe, aber mein Blick ruht auf Carrie. Ich sehe, wie ihre Hand zittert, als sie sich damit durchs Haar fährt, und die bloße Vorstellung, dass mein Vater irgendetwas damit zu tun haben könnte, lässt Wut in mir aufsteigen, die ich nur mühsam niederkämpfen kann. Gleichzeitig macht es mich fertig, dass Carrie sofort mit Widerstand auf den Vorschlag, mit mir zusammenzuziehen, reagiert hat, und ich frage mich, ob sie denkt, ich hätte ihr das angetan, ich hätte ihr alles genommen: erst ihre Firma, dann ihre Wohnung.
»Reid?«
Cats Stimme bringt mich in die Gegenwart zurück, und ich zwinge mich, den Blick von Carrie zu lösen und stattdessen meine Schwester anzusehen.
»Kann ich irgendetwas tun? Braucht Carrie irgendwas, um die nächsten Tagen zu überstehen, das ich ihr besorgen soll?«, fragt sie.
Ich hole mein Portemonnaie aus der Hosentasche und gebe ihr meine Kreditkarte. »Kauf ihr alles, was sie brauchen könnte. Und wenn es dreißigtausend Dollar kostet, bezahlst du die. Ich hab genug Geld, das ist mir egal. Sie braucht schicke Sachen fürs Büro. Sie braucht das Gefühl, dass ihr noch Dinge gehören.«
»Aber sie wird sich die Sachen selbst aussuchen wollen«, wirft Cat ein, »und heute Abend bekomme ich nicht mehr viel.« Sie blickt auf ihre Uhr. »Ziemlich wenig sogar.«
»Kauf ein, was du kriegen kannst. Was ihr nicht gefällt, kann sie umtauschen, aber sie wird mein Geld nicht annehmen wollen. Deshalb will ich das machen, bevor ich ihr versprechen muss, es nicht zu tun. Das Geld, das sie von der Versicherung bekommt, soll ein finanzielles Polster für sie sein. Und kauf dir auch was, als Dankeschön, weil du das tust.«
»Dafür brauche ich keine Bezahlung«, wehrt Cat ab. »Geld gibt mir nicht das Gefühl, geliebt zu werden, Reid.«
Nachdenklich sehe ich sie an, und mir ist klar, dass sie nicht nur über sich spricht.
»Ich weiß, Cat, aber ich will, dass sie sich sicher fühlt, deshalb soll sie alles, was sie braucht, bei mir haben. Das ist jetzt auch ihre Wohnung.«
Cats Miene wird weicher, und sie nickt. »Sie braucht jetzt Sicherheit«, sagt sie. »Und du hast recht, was ihre Sachen angeht. Ich gebe mein Bestes. Einer meiner weiblichen Fans hat eine Boutique, die macht sie bestimmt für mich auf. Bis später.« Sie macht sich auf den Weg, und ich wende mich Gabe zu.
»Denkst du …«, setze ich an.
»Ich glaube nicht, dass Dad was damit zu tun hat. Das hier schweißt Carrie und dich nur noch enger zusammen, und genau das will er nicht, wie sein Vertragsentwurf mehr als deutlich macht. Aber ich werde ihm mal einen Besuch abstatten. Wenn ich ihm in die Augen sehe, weiß ich, ob er das war oder nicht.«
Carrie kommt zu mir. »Einige Leute werden noch vermisst. Ich hätte auch darunter sein können.«
Der bloße Gedanke jagt mir Angst ein. Instinktiv lege ich die Arme um sie und drücke sie fest an mich.
»Aber das bist du nicht. Weiß man schon, was das Feuer verursacht hat?«
»Ein Kurzschluss im Restaurant. Da hat wohl eine Maschine Feuer gefangen, die sie längst hätten austauschen müssen.«
Gabe stößt ein Pfeifen aus. »Klingt nach Fahrlässigkeit. Da wird jemand aber ziemliche Schwierigkeiten bekommen«, sagt er und begegnet meinem Blick. Kaum merklich schüttle ich den Kopf, um ihm mitzuteilen, dass ich nicht von dieser Brandursache überzeugt bin.
»Meine Wohnung liegt direkt darüber«, fügt Carrie hinzu und sieht mich an. »Die meinten, es ist extrem unwahrscheinlich, dass man noch irgendwas von meinen Sachen retten konnte. Ich schätze, ich werde keine persönlichen Gegenstände in deine Wohnung mitbringen.«
»Aber du bist am Leben, Kleines. Das ist die Hauptsache.«
»Ich muss noch was regeln«, verkündet Gabe. »Carrie, speichere meine Handynummer in deinen Kontakten ein. Falls du mich brauchst, kannst du mich jederzeit erreichen.«
Sie greift nach ihrer Tasche, doch sie zittert viel zu stark, um sie zu öffnen. Ich halte ihre Hände fest.
»Lass mich das machen. Nachher«, sage ich und blicke meinen Bruder an. »Ich kümmere mich darum.«
»Ich melde mich bei euch beiden«, entgegnet er, dann geht er davon.
»Die wollen, dass ich in der Nähe bleibe«, sagt Carrie und tritt vor mich. Sie bebt am ganzen Körper und schlingt die Arme um sich. »Aber zu dir kommen wir gerade nicht durch, und mir ist so kalt. Außerdem bin ich todmüde.«
Ich nehme sie in die Arme und presse sie ganz dicht an mich. »Ich halte dich warm«, sage ich. »Bei mir bist du sicher, und du hast jetzt ein Zuhause bei mir.«
»Ich weiß.«
»Wirklich?«
»Ja.« Sie schmiegt sich noch enger an mich, trotzdem konnte ich die Anspannung in ihrem Tonfall hören, die ich ihr am liebsten nehmen würde. »Ich wäre jetzt gerne schon da oder würde am liebsten einfach nur hier in deinen Armen bleiben«, fährt sie fort, »aber nicht mal das geht. Ich muss meine Versicherung anrufen. Und meinen Vater.« Ihre Stimme überschlägt sich fast vor lauter Sorge. »Soll ich meinen Vater überhaupt anrufen? Wieso ist das mein erster Gedanke, nachdem er sich so mies verhalten hat?«
»Jetzt atmest du erst mal tief durch, Kleines. Das ist dein erster Gedanke, weil er dein Vater ist, der Mensch, der sich um dich gekümmert hat, als du noch ein Kind warst. Und egal, was passiert ist: Wir gehen immer davon aus, dass unsere Eltern sich Sorgen um uns machen. Und er tut das ganz bestimmt.«
»Mag sein. Ich bin mir da nicht mehr so sicher, und gerade kann ich auch nicht mit ihm sprechen. Ich kann das jetzt einfach nicht, und ich will auch nicht, dass er hier auftaucht, während in der Firma so viel passiert.«
»Dann schicke ihm einfach eine Nachricht. Dann weiß er wenigstens, dass es dir gutgeht, falls er auf anderem Wege von dem Feuer erfährt.«
»Ja. Gute Idee. Ich kann gerade nicht klar denken. Ich schreibe ihm.« Erneut greift sie zu ihrer Handtasche, und diesmal sind ihre Hände so ruhig, dass sie ihr Telefon herausholen kann. Sie tippt die Nachricht ein und liest sie mir vor: »Falls du von dem Brand in Battery Park hörst: Mir geht es gut.« Als sie mich ansieht, liegt Unsicherheit in ihrem Blick, was für sie eher untypisch ist, aber gerade ist ja auch ihre Wohnung abgebrannt.
»Perfekt«, befinde ich.
Sie drückt auf Senden.
»Irgendwann wirst du ihm allerdings erzählen müssen, dass du deine Wohnung verloren hast.«
»Ich weiß, aber nicht jetzt, auch nicht, wenn er anruft. Im Moment kann ich einfach nicht damit umgehen, wenn er mich wieder dazu drängt, zu ihm nach Montana zu kommen. Ich ziehe da nicht hin.«
Weil du bei mir einziehst, aber diesen Gedanken behalte ich für mich. Ich muss sie nicht noch zusätzlich auf die Kluft aufmerksam machen, die zwischen ihr und ihrem Vater liegt. Stattdessen halte ich sie einfach nur fest und helfe ihr durch den Sturm hindurch; den Sturm, der immer stärker zu werden scheint – für uns beide. Ihr Vater antwortet nicht auf ihre Nachricht, und ich brüte immer noch über dem Verdacht, dass mein Vater ihr diesen Schmerz zugefügt hat.
***
Carrie
Mir ist so kalt, dass ich nicht aufhören kann zu zittern.
Es ist zweiundzwanzig Uhr dreißig, als Reid und ich endlich sein Wohnhaus betreten dürfen, das jetzt auch mein Wohnhaus ist, aber das kann ich im Moment gar nicht richtig verarbeiten. Ich bin vollkommen aufgewühlt, aber in der Sekunde, als Reid und ich sein Apartment betreten, lässt die Anspannung ein wenig nach. Meine Knie sind wie aus Gummi, und ich bin so müde, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Um mich dreht sich alles, und einen Augenblick lang habe ich das Gefühl, einfach umzukippen. Reid scheint das zu ahnen, denn er hebt mich auf seine starken Arme und trägt mich. Sein Körper wärmt mich, und ich lasse den Kopf an seine Schulter sinken. Eine Minute später sind wir in seinem Schlafzimmer angekommen, und er setzt mich auf dem Bett ab.
Ich ziehe die Schuhe aus und verharre einfach auf der Kante der Matratze, während mein Blick zu dem Bettkasten links von mir gleitet.
»Das einzige Foto, das ich noch von meiner Mutter hatte, war in der Wohnung«, sage ich, als Reid neben mir auf dem Bett Platz nimmt und sein Jackett auszieht. »Ich hab sie zwar seit Jahren nicht gesehen, aber das Bild stand für einen Teil meines Lebens, der mich zu der Person gemacht hat, die ich heute bin.«
»Ich könnte dir jetzt sagen, dass wir ein anderes Foto von ihr finden werden oder auch sie persönlich«, entgegnet Reid, wirft sein Jackett aufs Bett und legt mir die Hand auf den Oberschenkel, »aber ich weiß, das willst du nicht hören. Dieses Foto hatte eine besondere Bedeutung für dich.«
Ich bedecke seine Hand mit meiner. »Manchmal verstehst du mich in Bereichen, bei denen ich es gar nicht von dir erwartet hätte.«
Er küsst meine Hand. »Ich will alles verstehen, was dich angeht, Carrie.« Seine Stimme klingt ganz tief und rau und trotzdem warm.
Ich betrachte sein wahnsinnig attraktives Gesicht und suche darin nach Bestätigung – oder vielleicht auch nach Anzeichen dafür, dass er lügt? Wieso rechne ich damit, dass er lügt? Aber eigentlich weiß ich genau, warum. Es hat nichts mit unseren Eltern zu tun, auch nicht mit der Firma oder Geld. Dieser Mann löst zwar starke Gefühle in mir aus, er versteht mich, und ich fühle mich mit ihm verbunden, aber wenn ich jetzt bei ihm einziehe, kontrolliert er wirklich jeden Bereich meines Lebens. Dadurch mache ich mich verletzlich, und mich ihm so auszuliefern, erfordert Vertrauen.
»Alles?«, hake ich nach.
»Ja.« Er streicht mir das Haar aus der Stirn, und diese Berührung ist so sanft, dass sie mir einen Schauer über den Rücken jagt. »Alles«, wiederholt er. »Ich will alles über dich wissen. Ich will alles, Carrie.«
»Alles ist ziemlich viel.«
»Zu viel?«, fragt er.
In diesem Augenblick klingelt es an der Tür. Reid zieht die Hand zurück und beendet damit diesen intimen Moment zwischen uns.
»Das ist Cat. Sie hat ein paar Sachen für dich besorgt.«
»Das hätte sie doch nicht machen müssen. Für die nächsten Tage habe ich noch genug hier.« Ein Zittern geht durch meinen Körper, und anstatt das Schlafzimmer zu verlassen, geht Reid zu seinem Wandschrank und kommt mit seinem marineblauen Bademantel zurück.
Er bleibt vor mir stehen, und als er mir den Mantel um die Schultern legt, wirken seine Gesichtszüge härter, und in seiner Stimme schwingt Anspannung mit, als er sagt: »Ich bin gleich wieder da.« Dann gibt er mir einen Kuss auf den Kopf, und die Zärtlichkeit, die er in diese Geste legt, steht nicht nur in völligem Gegensatz zu seiner Anspannung – ich hätte sie ihm auch vor gar nicht allzu langer Zeit nicht zugetraut. Doch in diesem Moment ist sie mir mehr als willkommen. Ich bin zwar stark – das bin ich wirklich, und morgen bin ich auch wieder bereit zu kämpfen -, aber heute Abend will ich einfach nur noch überleben.
Reid verlässt das Schlafzimmer, und ich strecke mich auf dem Bett aus, Reids Bett, das auch meins werden könnte, wenn ich bereit bin, bei ihm einzuziehen. Falls ich bereit bin.
»Hallihallo!«
Als ich Cats Stimme höre, setze ich mich auf und ziehe den Bademantel noch enger um mich. Dann steht Reids wunderschöne und wahnsinnig liebe Schwester auch schon in der Tür, die Hände voller Tüten.
»Ich habe hier Chanel und noch einiges andere. Eine Bekannte von mir hat extra ihren Laden für mich aufgemacht.«
»Was? Vielen Dank, aber wie hast du das alles bezahlt?«
Sie stellt die Tüten ab und stemmt die Hände in ihre mit Jeans bedeckten Hüften.
»Mit Reids Kreditkarte. Er hat mir die Erlaubnis gegeben, ein Vermögen für dich auszugeben. Er möchte nämlich, dass du deine eigenen Sachen hier hast.«
»Aber ich will sein Geld nicht.« Ich spüre, dass meine Kehle ganz eng wird. »Ich will nicht, dass er das macht.« Instinktiv fasse ich mir an den Hals. »Gott, ich will nicht hierbleiben.«
Cat wird blass. »Was? Du willst nicht hierbleiben?«
»Nein. Doch. Doch, ich will schon. Wirklich.« Mir fällt meine erste Reaktion auf Reids Einladung ein, bei ihm einzuziehen. »Nur nicht so. Ich will einfach nicht das Gefühl haben, dass er sich mir gegenüber verpflichtet fühlt.«
»Aber das tut er nicht.« Sie setzt sich neben mich. »Er will dich bei sich haben. Bei Reese war das damals genauso. Und das ging ziemlich schnell.«
Ich kenne Cat zwar kaum, aber ich mag sie, und ich muss ihr einfach sagen, was ich gerade empfinde, um es loszuwerden und zu verstehen.
»Ich würde das ja gerne glauben, aber unsere Väter hassen sich, und es ist noch nicht lange her, da hat Reid sich mir gegenüber wie ein Arschloch verhalten. Dann habe ich plötzlich so tiefe Gefühle für ihn entwickelt, und das ist toll, aber es macht mir auch Angst und … es gibt ihm so viel Kontrolle über mich. Und wenn ich jetzt bei ihm einziehe, hat er alles unter Kontrolle, und das jagt mir eine Heidenangst ein.«
»Da irrst du dich.«
Der Klang von Reids Stimme lässt Cat und mich herumfahren. Er steht in der Tür, mittlerweile ohne sein Jackett, seine Weste und Krawatte.
»Zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben«, sagt er, »habe ich etwas nicht unter Kontrolle.«
Cat drückt meinen Arm. »Ich gehe dann mal. Ich rufe dich morgen an, um zu sehen, wie es dir geht.« Damit steht sie auf und eilt auf die Tür zu.
Reid tritt zur Seite, um sie durchzulassen, dann kommt er zu mir und setzt sich neben mich. Sanft nimmt er meinen Kopf in seine Hände und zwingt mich dazu, ihn anzusehen.
»Du hast die Kontrolle über mich, Carrie, und ich hätte nie gedacht, dass ich das je zulassen würde.« Seine Stimme klingt rau und heiser. Aufgewühlt. »Und ich verstehe, dass du denkst, ich hätte die Kontrolle über dich, aber es ist genau umgekehrt. Du hast mich vollkommen unter Kontrolle.« Er lehnt die Stirn an meine. »Wenn ich mir vorstelle, du wärst noch im Haus gewesen und hättest tot sein können … Das zerreißt mich.« Er weicht ein Stück zurück, um mich anzusehen. »Bleib bei mir, Carrie. Ich will, dass du bleibst, aber ich werde dich nicht unter Druck setzen. Ich möchte, dass du wirklich hierbleiben willst. Und ich hasse es, dass dieser Krieg zwischen unseren Vätern dazu führt, dass du mir so wenig vertraust.«
Seine Worte lösen so viele Gefühle in mir aus – zusätzlich zu dem Auf und Ab des heutigen Abends -, dass ich erneut zittere. Ich möchte ihm so vieles sagen, doch ich komme gar nicht dazu.
»Ich lasse dir ein heißes Bad ein«, verkündet er, und dann steht er auch schon auf und geht davon, als würde er sich plötzlich vor mir verschließen und zurückziehen.
Selbst nachdem er mir gestanden hat, dass er mich braucht, baut er wieder diese Mauer zwischen uns auf, und genau die bringt mich dazu zu zögern. Sie ist der Grund, warum ich Angst habe. Weil ich denke, dass er mir immer noch etwas verschweigt; etwas, das dieses ganze Chaos um uns herum betrifft. Ich will mit Reid zusammenleben, aber nicht mit Geheimnissen und Lügen.