Kapitel Achtundsechzig

Carrie

Einen Tag vor unserem Abflug nach Japan befinden Reid und ich uns am frühen Abend im Schlafzimmer und packen unsere Koffer für einen zehntätigen Aufenthalt.

»Wir können uns nicht eine Katze und einen Hund anschaffen, oder?«, frage ich ihn irgendwann und blicke zu ihm hinüber. »Was machen wir, wenn wir mal verreisen?«

»Eine Katze und einen Hund?«

»Das wäre doch die perfekte Lösung, oder? Dann hätten wir beide, was wir wollen, und die zwei hätten immer einen Freund zum Spielen.«

»Oder sie bekriegen sich. Aber so oft verreisen wir ja gar nicht. Und Cat und Gabe würden sich bestimmt kümmern. Connie sicher auch.«

»Dann bist du also einverstanden? Mit einer Katze und einem Hund?«

»Wenn es dich glücklich macht, Kleines, dann ja.«

Ich strahle ihn an. »Ich finde es toll, dass wir das machen.«

Er lacht. »Und ich finde es toll, dass du es toll findest.«

Mein Handy klingelt, und ich werfe einen Blick aufs Display. »Mein Bruder. Ist es schlimm, dass es mir davor graut, ihn in Japan zu sehen?«

»Nach dem, was du mir von ihm erzählt hast, nicht«, sagt Reid. Es läutet an der Tür. »Das wird unser Essen sein. Ich hole es.« Er verlässt das Schlafzimmer, und ich nehme den Anruf entgegen.

»Hey«, melde ich mich.

»Hey, Schwesterchen. Ich hab heute mein Geld gekriegt. Du hast echt den Megadeal abgeschlossen.«

»Danke. Reid und ich sind ein gutes Team.«

»Ach ja, Reid. Das ist das Einzige, was mich an dem Ganzen stört, und der Mann war uns diesen Deal mehr als schuldig. Ich kann nicht fassen, dass du mit ihm zusammengezogen bist. Und noch weniger kann ich fassen, dass Dad dir nicht gesagt hat, wieso du nicht mit ihm zusammenleben solltest.«

Wut breitet sich in meinem Bauch aus. »Was willst du mir damit sagen?«

»Der Mann hat die feindliche Übernahme unserer Firma mit den miesesten Mitteln durchgesetzt. Und dann hat er Dad rausgekickt. Das sollten eigentlich schon Gründe genug sein.«

»So war das aber nicht.«

»Willst du mich verarschen? Er hat uns zur Aufgabe der Firma gezwungen. Hör zu: Du hast mir eine Menge Geld verschafft, deshalb werde ich dich und damit unsere Familie vor Schlimmerem bewahren, bevor er irgendwann zum nächsten Schlag ausholt, und das wird er. Der verfolgt irgendeinen Plan, das kann ich dir versprechen. Ich schicke dir den Beweis. Schau ihn dir an.« Im nächsten Moment hat er schon aufgelegt.

»Komm nach unten zum Essen!«, ruft Reid.

»Bin gleich da!«

Ein Piepen verkündet den Eingang einer E-Mail auf meinem Handy. Ich gehe damit in den Nebenraum und setze mich dort aufs Sofa. Ich schlucke schwer, dann vergrößere ich das Dokument, das von Reid aufgesetzt wurde, und fange an zu lesen: Die Schuld gilt als beglichen und die Veröffentlichung jeglicher sich negativ auswirkender Dokumente als untersagt, wenn West im Gegenzug Maxwell das Recht erteilt, sämtliche Firmenanteile aufzukaufen und eine feindliche Übernahme durchzuführen.

»Carrie.«

Beim Klang von Reids Stimme springe ich auf und wirble zu ihm herum. »Hast du meinen Vater gezwungen, seine Firmenanteile abzugeben, beziehungsweise hast du sie alle aufgekauft, weil der Vorstand ihm den Geschäftsführerposten entziehen wollte?«

Er erstarrt. Vollkommen. »Ich habe deinen Vater zu gar nichts gezwungen, und das weißt du auch. Wo kommt das denn auf einmal her? Was hat dir dein Bruder erzählt, dass du mir schon wieder misstraust?«

Ich gehe um das Sofa herum und drücke ihm mein Handy in die Hand, auf dessen Display immer noch das Dokument geöffnet ist. Er schaut es kaum an, bevor er mir das Telefon wieder zurückgibt.

»Das ist anders, als es aussieht.«

»Da ist von der Begleichung einer Schuld die Rede. Hast du dieses Dokument verfasst?«

»Ja. Aber das ist alles anders, als es den Eindruck macht.«

»Ich liebe dich, Reid, und ich vertraue dir. Aber bitte erklär’s mir. Ich will nicht irgendwelche falschen Schlüsse ziehen.«

Er legt mir die Hände auf die Schultern. »Ich kann nichts anderes tun, als dir zu sagen, dass ich dieses Dokument tatsächlich aufgesetzt habe. Mehr kann ich dir nicht erklären. Ich kann nur noch mal sagen, dass es anders ist, als es aussieht.«

»Wieso? Wieso kannst du mir das nicht erklären?«

»Weil dann meine Familie alles verliert und mein Vater sich an dir rächen wird. Und er wird nicht aufhören, bis du komplett am Boden liegst. Er wird uns auseinanderbringen, und am Ende haben wir beide gar nichts mehr, uns eingeschlossen.«

»Aber ich würde die Sache für mich behalten. Ich würde niemandem sagen, dass ich Bescheid weiß.«

»Doch, Carrie, das würdest du. Weil es dich vollkommen aus der Bahn werfen würde. Du würdest das ganz sicher nicht für dich behalten, und deswegen schütze ich hier nicht nur meine Familie, sondern auch dich, Kleines.«

»Weiß Royce über das Bescheid, was du mir nicht sagen kannst?«, frage ich.

»Er versucht, es herauszufinden, aber es ist ziemlich tief vergraben«, entgegnet er. »Bisher hat er noch nichts gefunden.«

»Jetzt fällt mir erst auf, dass er noch gar nichts über meinen Vater herausgefunden hat.«

»Weil er zuerst versucht hat, das hier zu finden.«

»Und du wolltest, dass er es findet?«

»Ja. Es bringt mich fast um, dass ich dir nichts dazu sagen darf.«

»Aber mein Vater könnte es?«

»Das wird er aber nicht, Carrie. Definitiv nicht. Ich hab ja schon versucht, ihn dazu zu bringen. Deswegen war ich in Montana.«

»Ich werde schon dafür sorgen, dass er es mir erzählt.«

»Oder er überzeugt dich doch noch davon, dass ich der Böse bin.«

»Du solltest mehr Vertrauen zu mir und uns haben.«

Er vergräbt die Finger in meinem Haar. »Dann flieg nach Montana. Ich werde morgen in den Flieger nach Japan steigen. Wenn du mitkommst, weiß ich, dass du mir vertraust und nicht die Lügen glaubst. Wenn nicht, beenden wir das hier.«

»Wir beenden das hier? So schnell?«

»Ich habe dich in Bereiche meiner Seele blicken lassen, in die ich nie jemanden reinlassen wollte. Ich brauche die Gewissheit, dass du mir vertraust, Carrie, sonst macht das mit uns keinen Sinn. Also, flieg nach Montana. Ich kümmere mich um den Flug.« Damit wendet er sich ab und verschwindet im Schlafzimmer, während ich mein Gesicht in den Händen vergrabe. Was könnte ich Schlimmes in Montana herausfinden, wovor er sich so fürchtet? Er scheint sich ziemlich sicher zu sein, dass ich nicht mit ihm nach Japan fliegen werde, und das macht mir Angst.

Ich muss mich zwingen, ins Schlafzimmer zurückzugehen, doch Reid ist gar nicht hier. Also packe ich meinen Koffer fertig.

»Ich habe einen Privatjet für dich organisiert«, verkündet Reid, als er zurückkommt. »Der bringt dich, wohin du willst, wann immer du willst.«

Wenige Minuten später begleitet er mich nach unten, wo ein Taxi auf mich wartet, und drückt mir die Wegbeschreibung zur Ranch meines Vaters in die Hand. Doch bevor ich einsteige, zieht er mich noch einmal an sich.

»Ich liebe dich. Vergiss das nicht.« Dann gibt er mir einen Kuss, einen tiefen, leidenschaftlichen Abschiedskuss, und als er anschließend davongeht, habe ich Tränen in den Augen.

***

Es schneit, als ich um Mitternacht in Montana ankomme, aber mir ist es egal, wie spät es ist. Während ich meinen Mietwagen abhole, rufe ich meinen Vater an, aber er geht nicht dran. Ich hinterlasse ihm eine Nachricht: »Ich bin hier. Ich muss mit dir reden.«

Anschließend fahre ich zur Ranch, folge der Wegbeschreibung, die Reid mir gegeben hat, doch das Tor ist verschlossen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ins Hotel zu gehen, das sich als ziemlich heruntergekommen rausstellt, aber in der Kleinstadt gibt es kein anderes. Ich lege mich auf das harte Bett und würde am liebsten Reid anrufen, aber ich glaube nicht, dass er mit mir sprechen will. Nicht, solange ich nicht mit meinem Vater geredet habe, und dieser Gedanke tut wahnsinnig weh. Ich liege wach und denke an unseren letzten Kuss. Das Dokument, das mein Bruder mir geschickt hat, lese ich nicht noch einmal durch. Ich kann es einfach nicht.

Als am nächsten Morgen mein Wecker klingelt, stehe ich sofort auf, und um sieben bin ich startbereit, im passenden Outfit für meinen Ranchbesuch: Jeans, Stiefel und Mantel, um der Dezemberkälte zu trotzen. An der Tankstelle kaufe ich mir einen Kaffee und einen Donut und fahre dann zu meinem Vater. Diesmal steht das Tor offen, und ich folge einem schneebedeckten Weg bis zum herrschaftlich anmutenden Haupthaus, wo ich parke. Ein Rancharbeiter informiert mich darüber, dass mein Vater gerade einen Morgenausritt unternehme, ich jedoch gerne im Haus warten dürfe.

Wenige Minuten später sitze ich in einer eleganten Küche an einer wuchtigen Holzinsel, habe meinen Mantel auf dem Stuhl neben mir abgelegt und genieße einen Kaffee. Zwei Stunden später beginne ich, mir Sorgen zu machen, dass ich meinen Flug nicht mehr erwische, doch in diesem Moment kommt mein Vater endlich herein – in Jeans und Stiefeln, statt im Anzug, wie ich es sonst von ihm gewohnt bin. Er wird von einer hübschen Brünetten begleitet, die ein ähnliches Outfit trägt wie er.

»Ich nehme an, Sie sind Stella«, sage ich. »Und ich will nicht unhöflich sein, aber ich habe nur noch eine Stunde, bis mein Flieger geht, und ich muss mit meinem Vater unter vier Augen sprechen.«

»Natürlich«, entgegnet sie und zieht sich taktvoll aus der Küche zurück.

»Erzähl mir, wie das mit der Firma und Reid wirklich abgelaufen ist.«

»Das hab ich dir doch schon erzählt.«

»Ich weiß, dass du Anthony dazu angestiftet hast, mir dieses Dokument über die feindliche Übernahme zu schicken. Und du weißt genau, wie sich das auf meine Beziehung zu Reid auswirken würde. Dad, ich liebe Reid, sehr sogar, und wenn du mich auch liebst, dann sag mir das, was er mir nicht sagen darf. Erzähl mir, was wirklich passiert ist.«

Stella kommt zurück durch die Tür. »Sie weiß nichts davon?«

»Das ist ziemlich kompliziert.«

»Erzähl es ihr, sonst tue ich es.«

»Lass mich mit meiner Tochter allein.«

»Er hat sich in schmutzige Geschäfte verstrickt und stand kurz davor, erwischt zu werden«, erklärt Stella. »Und damit meine ich, illegale Geschäfte, für die er ins Gefängnis hätte kommen können. Deshalb hat er es so aussehen lassen, als hätte er sein Händchen fürs Geschäft verloren. Er wusste etwas über Reids Vater, für das wiederum der ins Gefängnis hätte kommen können, aber der alte Maxwell hat es so angestellt, dass nur Reids Name mit diesen Machenschaften in Verbindung stand. Reid hatte keine Ahnung davon.«

»Ich erzähle ihr den Rest, Stella«, sagt mein Vater. »Ich erzähle es ihr.« Er sieht mich an. »Du hast mich immer für einen Helden gehalten, und ich wollte nicht, dass dieses Bild von mir zerstört wird. Deshalb habe ich einen Deal mit Reid geschlossen: Er sollte das Ganze so aussehen lassen wie eine feindliche Übernahme und sämtliche Infos über meine schmutzigen Geschäfte beseitigen. Im Gegenzug habe ich dafür gesorgt, dass er keinen Ärger wegen der Machenschaften seines Vaters bekommt. Ich habe ihm sämtliche relevanten Dokumente übergeben, unter der Bedingung, dass du niemals etwas davon erfährst. Wenn er dir davon erzählt hätte, hätte ich sämtliche seiner Firmenanteile bekommen. Und das, was ich gegen seinen Vater – und damit auch gegen ihn – in der Hand hatte, war so schlimm, dass er in den Deal eingewilligt hat. Er wollte das hinter sich bringen. Er wollte, dass dieser Krieg zwischen uns endet, und damals kannte er dich ja noch nicht, also wäre er gar nicht in Versuchung geraten, dir je davon zu erzählen.«

»Und dann bin ich bei ihm aufgetaucht, und alles hat sich geändert.«

»Du bist bei ihm aufgetaucht?«, fragt mein Vater, doch ich ignoriere seine Frage.

»Was hat Reids Vater verbrochen?«

»Jemand ist gestorben«, entgegnet er. »Mehr werde ich dazu nicht sagen. Ich will nicht, dass du die Einzelheiten kennst. Auf jeden Fall war das Material so belastend, dass selbst Reid Maxwell keinen Ausweg aus der Klemme gesehen hat, in die ihn sein Vater gebracht hat. Und ich habe deinen Bruder nicht dazu angestiftet, dir dieses Dokument zu schicken. Er weiß über die Sache mit Reids Vater und eurer Mutter Bescheid. Er hasst die Maxwells.«

»Wieso hast du ihm das alles erzählt, aber mir nicht?«

»Weil ich wollte, dass du noch einen Menschen in deinem Leben hast, auf den du dich verlassen kannst. Ich wollte dein Held bleiben.«

»Und trotzdem hast du dich mir gegenüber ziemlich mies verhalten, was Reid angeht.«

»Weil es so eng mit euch wurde und er einfach zu viel wusste.«

»Hättest du es mir jetzt erzählt, wenn Stella es nicht getan hätte?«

»Das weiß ich nicht.«

Diese Antwort tut weh, aber wenigstens ist sie ehrlich. Ich nehme meinen Mantel und meine Tasche und gehe an ihm vorbei. Stella weicht zurück, um mir Platz zu machen, doch ich bleibe vor ihr stehen.

»Vielen Dank. Sie haben mir geholfen, obwohl Sie mich gar nicht kennen.«

»Werden Sie glücklich mit ihm«, entgegnet sie, »dann bin ich froh, dass ich das getan habe.«

Ich gehe davon und schaue nicht mehr zurück. Ich muss nach Hause zu Reid. Er muss mir in die Augen schauen, damit er weiß, dass ich ihm immer noch vertraue. Ich habe nie damit aufgehört.