Er parkte den Wagen in der Nähe des Motels und kletterte auf einen Müllcontainer, um über den Zaun zu springen, der den Parkplatz auf der Rückseite einfasste. Es ging tief hinunter, Caleb landete hart, und der Schmerz drang ihm durch Mark und Bein. Von dieser Seite würde er nicht wieder zurückkommen. Frankies Auto stand noch auf dem Parkplatz, außerdem fünf weitere.
Caleb rannte die Treppe zu Frankies Apartment hinauf. Keine Reaktion auf sein Klopfen.
Frankie und Tilda verletzt drinnen. Sterbend. Tot.
Er hämmerte gegen die Tür, bis sie sich endlich öffnete. Frankie schaute ihn finster an. Sie trug wieder die für sie typische Jeans und ein schwarzes T-Shirt, die noch nassen Haare irgendwie hochgestylt. »Willst du vielleicht noch lauter klopfen? Vermutlich haben dich noch nicht alle Nachbarn gehört.«
Er rang um Luft. »Ihr müsst weg. Mir ist ein Mann gefolgt. Blaues Baseballcap, mehr weiß ich nicht. Keine Ahnung, ob er dein Killer ist, aber ich habe mein Handy hier in der Nähe benutzt.«
Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Ist er hier?«
»Auf dem hinteren Parkplatz jedenfalls nicht.«
»Schau mal vorn nach, ich bringe Tilda ins Auto.« Sie schloss schon wieder die Tür.
Er nahm den schmalen Pfad für Angestellte, der an der Seite des Motels entlangführte, schob dann das hohe Holztor auf, das zur Straße ging. Eine schmale Allee, das Herbstlaub türmte sich vor den geparkten Autos. Nichts bewegte sich, aber etwas war komisch. Caleb schaute noch einmal die Straße entlang, ohne besonderen Fokus. Da – ein silberner Holden stand ein paar Häuser entfernt, kein Laub davor. Eine Gestalt, gerade so erkennbar auf dem Fahrersitz. Runde Kopfform, vielleicht ein Baseballcap. Caleb zog sich langsam wieder zurück.
Als er den Parkplatz erreichte, stand Frankie schon mit laufendem Motor bereit, die Hände auf dem Lenkrad. Sie ließ das Fenster herunter. Tilda saß mit schreckgeweiteten Augen auf dem Rücksitz, nigelnagelneue Jeans und ein sicher zwei Nummern zu großer, blauer Pulli. Er schenkte ihr ein Lächeln, das sie nicht erwiderte.
»Ein Mann«, sagte er zu Frankie. »Silberner Holden, dreißig Grad nach rechts.«
Sie blieb reglos sitzen, nur ihr Blick sauste hin und her, offenbar spielte sie alle möglichen Fluchtwege durch. Hoffentlich fiel ihr etwas ein, auf das er bislang nicht gekommen war. »Ich locke ihn weg. Mit dem Auto«, sagte sie schließlich. »Du bleibst mit Tilda hier.«
Dann wäre er für Tilda verantwortlich? »Nein. Du bleibst, ich fahre.«
»Er ist hinter mir her. Bei dir ist sie sicherer.« Sie schaute ihm in die Augen. »Cal, bitte.«
Sie hatte recht, verdammt. »Okay.«
Frankie sagte etwas zu Tilda, woraufhin diese aus dem Wagen stieg und sich zu ihm stellte. »Tankstelle auf der Victoria Street«, sagte Frankie zu ihm. »In einer Viertelstunde.« Schon trat sie aufs Gas und war auf und davon.
Er nahm Tilda mit auf den schmalen Weg hinter dem Motel. Dort hockten sie sich hin, lehnten sich gegen die Gebäudewand, das Tor fest verriegelt. Hier gab es keine fetten Putten oder pinken Flamingos, nur unverputzte Ziegel und einen Lattenzaun. Die Kälte drang vom Betonboden durch seine Jeans.
Säure stieg ihm beißend in die Kehle. Frankie war eine gewiefte Fahrerin, trotzdem würde es schwierig sein, jemanden in diesen engen Straßen abzuhängen. Und selbst Henry Collins würde es schwerfallen, ihn freizusprechen, wenn Tilda seinetwegen ein weiteres Familienmitglied verlor.
Eine Bewegung neben sich, Tilda zog die Knie bis zum Kinn und umklammerte ihre Beine. Ihre Augen waren leicht gerötet, als gäbe sie sich große Mühe, nicht zu weinen.
»Alles okay?«, fragte er.
»Ich mache mir Sorgen.«
Lieber Himmel, diese Ehrlichkeit riss ihm den Boden weg.
»Das musst du nicht, dir passiert nichts. Und Frankie auch nicht«, fügte er schnell hinzu, als ihre Lippen anfingen zu zittern. »Da will nur jemand etwas, was sie hat. Wir treffen sie gleich wieder.«
Dürftige Versicherung, trotzdem wich die Anspannung ein wenig aus ihrem Gesicht. »Ist er ein Freund von dem Mann, auf den Mum wütend war?«
Caleb erstarrte. »Da bin ich mir nicht sicher. Auf wen war deine Mum denn wütend?«
»Ich soll nicht über ihre Arbeit sprechen.«
»Also arbeitet er mit ihr zusammen?«
Sie schloss den Mund, Frankies Gene zeichneten sich deutlich in ihrem vorspringenden Kinn ab. Okay, mit seiner üblichen Vernehmungsmethode kam er hier also nicht weiter. Das fing schon damit an, dass er das Wort »Vernehmung« benutzte.
Aber ein Spiel könnte helfen und sie zusätzlich vielleicht ablenken. »Willst du ein Spiel spielen, während wir warten?«
Ein zögerliches Nicken.
»Was hältst du von ›Spion‹? Man stellt drei Fragen zu jemandem, den es wirklich gibt. Der andere muss wahrheitsgemäß antworten. Wer dabei das Interessanteste herausfindet, gewinnt.«
»Das habe ich noch nie gespielt.«
»Dann fange ich an, damit du siehst, wie es geht. Hast du schon mal von jemandem gehört, der Turner oder Kirner heißt?«
Tiefes Mitleid auf ihrem Gesicht. »Das ist keine gute Frage.«
»Offenbar nicht. Steigert deine Chance, das Spiel zu gewinnen. Also, hast du?«
»Nein.« Sie hielt den Zeigefinger hoch, um seine Fragen runterzuzählen.
»Was ist das Interessanteste, was du über den Mann weißt, auf den deine Mutter wütend war? Nur über ihn«, sagte er, weil sie die Stirn runzelte, »nicht über die Arbeit.«
Der Mittelfinger streckte sich. »Er ist gestorben.«
Okay, das war tatsächlich interessant. Meinte sie vielleicht Martin Amon?
»Wann …« Er verstummte, als sie den Ringfinger hob. »Das ist nur eine Nachfrage, also Teil der zweiten. Nur zur Klärung.«
Sie formte »Klärung« mit den Lippen und knickte den Ringfinger wieder ab.
»Wann ist er gestorben?«
Sie dachte nach, sagte dann: »Freitag.«
Dann konnte es nicht Amon sein, aber der Bundespolizist war nur wenige Tage später erschossen worden. »Okay«, sagte er, »letzte Frage – wie hieß er?«
»Keine Ahnung. Ich bin dran.« Ihre Augen wurden groß vor Erwartung. »Darf ich deine Hörgeräte sehen?«
Er zögerte, dann streifte er das Haar zurück. Tilda beugte sich vor, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt. Es fühlte sich an, als würde sie gleich einen Schraubenzieher herausholen und drauflosbohren.
Als sie schließlich wieder von ihm abrückte, fragte sie: »Kannst du ohne die gar nichts hören?«
»Fast nichts. Nur was sehr laut ist.«
»Wie viele …« Sie zögerte. »Nur zur Klärung.«
Er musste ein Grinsen unterdrücken. »Natürlich.«
»Wie viel Dezibel?«
»Etwa hundertzehn.«
»Wie ein Presslufthammer?«
Bemerkenswert gute Schätzung. »Ja. Wieso kennst du dich mit Dezibel aus?«
»Ich lese viel.«
Das konnte er sich gut vorstellen. All die Stunden in der Bücherei nach der Schule. »Du hast noch eine Frage übrig, aber ich glaube, du hast sowieso schon gewonnen.«
»Dauert es lange, sich einen Gebärdennamen für jemanden einfallen zu lassen?«
Schön eingefädelt: eine Erinnerung an sein Versprechen, ohne ihn unter Druck zu setzen.
»Manchmal«, antwortete er. »Aber ich bin mir sicher, ich finde bald einen für dich.« Er stand auf. »Ich werf mal gerade einen Blick auf die Straße. Wenn die Luft rein ist, gehen wir zu Frankie.«
Keine Spur von einem silbernen Holden, keine Männer – mit oder ohne Baseballcap. Er behielt die Straße eine geschlagene Minute im Blick, dann kehrte er zu Tilda zurück. »Dann los.«
Die Platanen ragten rostrot in den dunkelblauen Himmel, die Sonne drängte die morgendliche Kälte zurück. Eine überraschende Berührung, als Tilda ihre Hand in seine schob: warm und ein bisschen klebrig. Er schaute zu ihr, doch Tildas ganze Konzentration war auf den Bürgersteig gerichtet, denn sie wollte auf jedes Blatt treten. Eine Ahnung von Hoffnung: Wenn eine Berufskriminelle wie Maggie ein Kind wie Tilda hinbekam, müsste er das ja auch halbwegs gut hinbekommen können.
Eine Bewegung links von ihm. Jemand sprang hinter einem Gartenzaun hervor.
Caleb stieß Tilda weg, während ihm eine brennende Flüssigkeit ins Gesicht spritzte. Augen und Mund brannten, die Lunge wie zugeschweißt. Schon war er auf den Knien, krallte die Finger in den Kopf. Kleine Hände auf seinem Arm. Tilda. Sie rutschten ab, sie wurde weggezerrt. Caleb machte einen Satz nach vorn, bekam einen schmalen Körperteil zu fassen, klammerte sich daran, die Augenlider wie verschmolzen. Mehr brennende Flüssigkeit. Luft und Gesicht fingen Feuer. Er auf allen vieren, hustend und würgend. Ein hohes Geräusch gelangte jäh über die Grenzen seines Hörvermögens. Er riss die Augen auf: gebrochene Farben und Licht, jemand auf dem Weg zur Straße, zu einem Auto.
Los, du musst zu ihnen. Er kroch über Beton und Gras, sein Atem versengte ihm die Kehle. Beim Auto angelangt. Tastend, mit ausgestreckten Händen: eine Radkappe, die Tür, der Griff. Zittrig schob er die Finger darunter. Ein Ruck, der ihm den Griff wegriss. Er stürzte vorwärts. Auf die Straße.
Fort.