15. Kapitel

Er wartete gegenüber der Tankstelle. Vor einer Imbissbude. Sein Gesicht brannte noch immer, Augäpfel wie in heißer Asche gerollt. Trotzdem behielt er die Digitaluhr der Tankstelle fest im Blick. Vierzehn Minuten. Noch eine, und er würde wieder hineingehen. Die wachsende Befürchtung, dass sie nicht auf einen Anruf warten, dass sie die Situation anpacken und nach Tilda suchen sollten. Schwer vorstellbar, dass Frankie ihn helfen lassen würde. Jedes Wort, das sie in ihrer Wut in seine Richtung gespuckt hatte, war verdient. Trotzdem musste er einen Weg finden. Konnte nicht auch noch das Blut eines Kindes an den Händen haben. Alles wäre besser als das: dass er ins Gefängnis ging, dass sein Kind vaterlos aufwuchs. Das sähe Kat ganz genauso.

»Die meisten sind innerhalb weniger Stunden tot.«

Die Zahlen der Uhr schlugen um: 10:30.

Jetzt war sie seit einundfünfzig Minuten weg.

Er wartete auf eine Lücke im fließenden Verkehr und lief dann schnell über die Straße.

In der kleinen Tankstelle war es voll. Leute standen an, um fürs Tanken zu zahlen, ein paar halbwüchsige Jungs waren auf der Suche nach Snacks, drängelten und riefen einander irgendetwas zu. Frankie bahnte sich gerade den Weg zur Tür. Als sie ihn sah, blieb sie abrupt stehen.

Eine Woge der Hoffnung. »Sie haben angerufen?«

»Nein, ich mach mich auf die Suche nach ihr.« Sie schob sich an ihm vorbei nach draußen.

Er folgte ihr zu ihrem Wagen. »Ich möchte helfen«, sagte er. »Wir sind ein gutes Team, das weißt du. Und wenn wir zusammen suchen, haben wir eine echte Chance, sie zu finden.«

Sie holte ihren Schlüssel aus der Tasche, ging zur Fahrerseite.

»Du kannst mir trauen«, sagte er. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie … Imogen ist mir egal, soll sie mich doch verhaften. Lass mich einfach helfen, Tilda zurückzubekommen. Bitte.«

Frankie öffnete die Tür und schaute ihn mit harter Miene an. Das war’s. Jetzt würde sie ihm sagen, er solle sich bloß verpissen, würde in den Wagen steigen und davonfahren.

»Wenn du verhaftet wirst, nützt du mir ja kein bisschen«, sagte sie. »Denk dir was aus, um Imogen auf Abstand zu halten.«

 

Er holte sein Handy, die Alufolie und Maggies Laptop aus seinem Wagen. Als er bei Frankie einsteigen wollte, schaute diese demonstrativ auf den Computer. »Wozu brauchst du den denn?«

»Wir müssen Kontakt zu Guy Fawkes aufnehmen, wenn ich das Video geknackt habe.« Sie wollte protestieren, doch er schüttelte nur den Kopf. »Es geht nicht darum, Imogen loszuwerden, es geht um Informationen.«

Er schrieb Imogen, dass Frankie abgehauen sei, er ihr aber auf den Fersen sei. Begeistert wäre sie bestimmt nicht, doch damit hätte er sie immerhin für ein paar Stunden vom Hals.

»Darf ich das Handy mitnehmen?«, fragte er Frankie, rechnete aber nicht damit, dass sie zustimmte.

»Trotz deiner bescheuerten Aktion könnte es durchaus nützlich sein. Solange du es in die Folie wickelst und nur benutzt, während wir uns bewegen.«

Erleichtert atmete er auf. Früher hatte er es ausgehalten, stundenlang nicht aufs Handy zu schauen, aber die Zeiten waren vorbei. Seine SMS wurden jetzt auch auf seinen E-Mail-Account weitergeleitet, und er trug das Handy immer dicht bei sich. Nachts schloss er es an den Vibrationswecker an, damit er keine Nachricht von Kat verpasste.

Frankie zog ihre Tasche von der Rückbank. Nicht länger passiv zu sein schien sie ein wenig beruhigt zu haben, trotzdem waren ihre Bewegungen noch immer etwas fahrig, beim Öffnen des Reißverschlusses an ihrem Rucksack rutschte sie mehrmals ab. Irgendwann hatte sie endlich eine Kamera aus einer der Innentaschen gefischt, die sie ihm hinhielt. Ein teures Teil mit vielen Einstellmöglichkeiten und einem großen Touchdisplay, auf dem man sich die Fotos anschauen konnte.

»Was soll ich damit?«, fragte er.

»Maggies Unterlagen. Ich wollte sie nicht hochladen.« Dann holte sie eine Kaugummipackung aus dem Aschenbecher, in der sich eine kleine Speicherkarte verbarg.

Caleb steckte sie in die Kamera und verschaffte sich einen Überblick über die wenigen Fotos. Dann vergrößerte er das erste. Ein ziemlicher Vertrauensbeweis von Frankie, sie ihm zu zeigen. Seitenweise Tabellen. Keine Namen, am linken Rand nur sich wiederholende Zahlenkombinationen, die bestimmten Klienten zugeordnet sein mussten. Etwa dreißig verschiedene. Daneben standen Daten und Beträge: eingehende Summen, ausgehende Summen. Viele Nullen hinter dem Dollarzeichen. Caleb machte eine schnelle Überschlagsrechnung, hörte auf, als er bei zehn Millionen angelangt war.

Er warf Frankie einen Blick zu. »Das dürfte eine Menge Leute ziemlich nervös machen.«

»Deshalb hängst du es auch besser nicht an die große Glocke, dass du’s gesehen hast. Tilda ist wesentlich weniger gefährdet, wenn niemand auf dieser Liste weiß, dass wir sie haben. Das gilt auch für uns. Wir übergeben die Originale an die Kidnapper und tun so, als wäre das alles nie passiert, okay?«

Dagegen hatte er nichts einzuwenden. Der Gedanke, dass dreißig sehr gut vernetzte Kriminelle wussten, dass er ihre schmutzige Wäsche gesehen hatte, war kein angenehmes Gefühl.

»Klar«, sagte er. »Und jetzt?«

»Höchstwahrscheinlich haben die Kidnapper auch den Killer auf mich angesetzt. Amon ermordet. Und wenn sie von diesen Unterlagen wissen, dann stehen sie entweder selbst auf der Liste oder haben Verbindungen zu jemandem, der drauf ist. Ich habe allerdings keine Ahnung, wie wir auch nur einem von denen einen Namen zuordnen sollen.« Sie zögerte. »Kluge Ideen willkommen.«

Er betrachtete die erste Seite. Sie hatte recht – die Zahlenkombinationen konnten ohne weitere Informationen nicht in Namen verwandelt werden. Guter Schachzug von Maggie. Und endlich eine Erklärung dafür, dass sie Frankie den Schlüssel überhaupt anvertraut hatte.

»Meinst du, wir können irgendwie an die Stammdaten kommen?«

»Eher nicht. Ich schätze, die sind in einem anderen Bankfach.«

Also mussten sie anders an die Sache rangehen. Wer so viel Geld wusch, brauchte viele Helfer. Leute, die Bargeld durch Kasinos und kleinere Geschäfte schleusten; Buchhaltungen, die falsche Rechnungen stellten; Anwaltskanzleien, die Aufzeichnungen frisierten.

Anwaltskanzleien.

Rhys Delaney aus Maggies SMS-Korrespondenz war Anwalt.

Rhys Delaney heute dabei

Ein Mann mit lupenreinem polizeilichem Führungszeugnis, der sich vermutlich an dem Tag mit Maggie getroffen hatte, als sie überfallen worden war.

Frankie beobachtete ihn. »Hast du ’ne Idee?«

»Möglicher Beschäftigter.«