Rhys Delaneys Kanzlei lag nur wenige Blocks vom Strand in Williamstown entfernt. Das Haus hatte durch seine Backsteintürmchen und bullaugenartigen Fenster einen recht schrägen Charme, alles andere wirkte aber wie ein typisches Geschäftsgebäude. Hinter den Türen wartete der mit beruhigendem, grauem Teppich ausgelegte Eingangsbereich, dahinter ein Flur, von dem rechts und links Büros abgingen und der am hinteren Ende in einen offenen Bereich mit weiteren Tischen mündete. Die Rezeptionistin hinter dem hohen Holztresen telefonierte gerade und nickte ihnen zu: Das Gespräch schien ernst zu sein, denn sie runzelte immer wieder die Stirn und fragte Dinge am Computer ab. Frankie wartete gerade mal zehn Sekunden, denn ging sie in die hinterste Ecke des Wartebereichs und wickelte das Handy aus der Folie. Schon das zweite Mal in den letzten zwanzig Minuten, dass sie prüfte, ob eine Nachricht gekommen war.
Die Rezeptionistin legte auf und schaute ihn an. Das Schild auf dem Tresen verriet, dass es sich um Mrs Marion Gillis handelte: Büroleiterin. Eine unerbittlich aussehende Frau in Frankies Alter mit einem kurzen Pony und Hornbrille. Der Wandkalender mit dem Bild vieler Katzenkinder, die kleine Schleifchen trugen, musste von einer Kollegin sein. Sie lächelte Caleb kühl an. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Das hoffe ich. Mein Name ist Caleb Zelic. Meine Partnerin und ich wollen zu Rhys Delaney.«
»Wollen Sie …?« Der Rest ging verloren, weil sie sich wieder dem Bildschirm zuwandte.
»Wie bitte?«
»Wollen Sie …?« Und wieder zum Bildschirm.
Wollte er was? Einen Kaffee? Ein Einhorn? Menschen, die ihn beim Reden anschauten?
»Entschuldigen Sie, könnten Sie mich ansehen, wenn Sie sprechen? Ich bin taub und lese von den Lippen.«
Sofort flog ihr Kopf herum, offen stehender Mund. »Oh, das tut mir so leid. Sie armer Kerl, wie schrecklich.«
Verdammt, ein Klageweib. Ein sehr lautes Klageweib. Ihre Mitleidsäußerung hatte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden erregt, inklusive Frankie. Seine Schuld: Er hatte sich von ihrer strengen Fassade täuschen lassen, statt die weit größere Bedeutung der Kätzchen in Betracht zu ziehen. In der Hoffnung, damit auf ihre Lautstärke Einfluss zu nehmen, wurde er leiser. »Wir würden gern zu Mr Delaney. Ist er da?«
»Sie sprechen sehr gut, wirklich. Ein bisschen leise vielleicht, aber sonst wie ein normaler Mensch.«
Alles für einen Meteor, eine Waffe, irgendetwas, um das zu beenden. »Ist Mr Delaney da?«
»Ich frage nach.« Sie griff nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer. »Das muss so schwer für Sie sein. Kennen Sie Cochlea-Implantate? Der Sohn der Cousine meiner Nachbarin hat …«
Caleb wandte den Blick ab, bis sie den Hörer sinken ließ.
»Sie haben Glück«, sagte sie. »Den Gang runter, letztes Büro rechts. Brauchen Sie Hilfe?« Sie schaute zu Frankie, die auf sie zukam. »Oder ist das Ihre Betreuerin?«
Caleb verfiel in einen leichten Laufschritt, um sie hinter sich zu lassen. Vor Delaneys Büro holte Frankie ihn ein, klopfte an und wartete nicht auf eine Reaktion, bevor sie eintrat. Auf ihren Mangel an Mitgefühl war Verlass. Gott sei Dank.
Delaney wirkte irgendwie klamm, hatte ein 0815-Gesicht und trug ein Hemd, das bestimmt mal weiß gewesen war. Sein feuchter Händedruck bestätigte den ersten Eindruck. »Bitte, setzen Sie sich doch. Wie kann ich Ihnen helfen?« Leicht zu lesen, bloß eine sehr verschwitzte Oberlippe. Caleb hatte das dringende Bedürfnis, ein Taschentuch zu nehmen und sie abzutupfen.
Frankie drehte ihren Stuhl so, dass Caleb sie beide klar sehen konnte. »Wir sind auf der Suche nach Informationen.«
Sie reichte Delaney eine Visitenkarte. Eine der Trust Works -Visitenkarten, ihre beiden Namen auf der Vorderseite, darunter »Betrugsermittlungen«. Außerdem das Wort »Partner«. Die trug sie schon ganz schön lange bei sich.
»Betrug?« Delaney schluckte. »Ich kann nicht ganz folgen. Sind Sie von der Polizei?«
»Wir arbeiten eng mit der Polizei zusammen.« Frankie holte einen Notizblock aus der Tasche und schlug eine leere Seite auf. »Erzählen Sie mir etwas über Maggie Reynolds. Woher kennen Sie sich?«
Delaneys Schultern lockerten sich, als habe er mit einer anderen Frage gerechnet. »Es tut mir leid, aber der Name sagt mir nichts. Kann ich Ihnen sonst irgendwie weiterhelfen? Eigentumsübertragung? Ein Vertragsentwurf?«
»Mr Delaney.« Frankie wartete, bis er ihr in die Augen schaute. »Wir wissen Bescheid.«
Delaneys Blick huschte zu dem Holzrahmen auf seinem Schreibtisch, auf dessen Foto seine Frau und eine junge Familie zu sehen waren. »Da war nichts.«
»Erklären Sie uns, was genau Sie mit ›nichts‹ meinen«, sagte Caleb. »Dann müssen wir uns vielleicht nicht an Ihren Chef wenden.« Er nickte zu dem Foto. »Oder an Ihre Frau.«
»Nichts. Wirklich. Mich hat einfach nur eine Frau angesprochen, bei einer Party letzte Woche. Wir haben geredet, mehr nicht.«
Maggie?
»Wie hieß sie?«
»Kw … wo.«
Da hatte Caleb keine Chance. Frankie schrieb etwas auf und hielt dann den Block so, dass Caleb es lesen konnte. Quinn Devereaux .
»Beschreiben Sie sie«, forderte Caleb ihn auf.
»Schön, wirklich wunderschön, langes, schwarzes Haar. Zierlich.«
Keine gute Beschreibung, aber definitiv nicht Maggie: Sie war genauso groß und schlaksig wie Frankie.
»Wir müssen alles wissen«, sagte Caleb. »Wann, wo, was genau.«
»Es war eine Wohltätigkeitsveranstaltung. Game Goers heißt die Organisation. Ich mache kostenlose Beratungen für sie.« Er unterbrach sich kurz, wohl um zu checken, ob er sie beeindruckt hatte, fuhr dann schnell fort: »Quinn kam zu mir, fing einfach an zu reden. Schon recht bald schlug sie vor, dass wir auf ihr Zimmer gehen und dort weitertrinken. Erst dort habe ich begriffen, was sie war … Sie wissen schon.«
»Eine Prostituierte«, sagte Frankie.
Delaney wirkte verletzt. »Eine Kriminelle. Sie wollte wissen, ob ich Briefkastenfirmen gründen könnte, über die sich Geld filtern ließe.«
»Geld filtern?«, fragte Frankie. »Ist das der vornehme Ausdruck für Geldwäsche?«
»Ich bin ja nicht darauf eingestiegen. Ich bin sofort gegangen, als ich begriffen habe, was sie wollte. Hab sie nie wiedergesehen.«
Rhys Delaney heute dabei
Die Nachricht stammte von jemandem mit dem Buchstaben D. Möglicherweise Devereaux.
Caleb lehnte sich vor. »Wir haben Zugriff auf Ihre Handydaten, wir wissen, dass Sie sich gestern mit Quinn getroffen haben.«
»Nein.« Delaneys Zunge berührte die feuchte Oberlippe, eine pfeilschnelle Bewegung wie bei einer kleinen pinken Eidechse. »Ich meine, ja, eigentlich wären wir verabredet gewesen, aber sie hat in letzter Sekunde angerufen und abgesagt.«
»Zeigen Sie mir die Anrufliste.«
Delaney scrollte durch sein Handy und reichte es Caleb. Nur ein Anruf von Quinn, eingegangen gegen Mittag des gestrigen Tages. Der Anwalt hatte Quinns Kontakt mit einem Foto von ihr versehen: eine elfengleiche Frau Anfang dreißig mit langem schwarzem Haar. Die Caleb vage bekannt vorkam. Aus den Fernsehnachrichten, irgendein Skandal um eine Person des öffentlichen Lebens, der Vorwurf des Tauschs sexueller Gefälligkeiten gegen Informationen. Eine belastende Erinnerung: Irgendwie verknüpfte Caleb schlechte Nachrichten mit diesem Gesicht.
Er schickte sich ihren Kontakt und schaute dann Delaneys Fotos durch. Ein Mann, der ein Foto von einer Frau hatte, die ihm gerade erst begegnet war. Das musste er selbst aufgenommen haben. Und da war nicht nur eins, sondern insgesamt fünf Aufnahmen von Quinn in einem hautengen, mitternachtsblauen Kleid, ein Sektglas in der Hand. Doch, er hatte sie definitiv schon mal gesehen.
Und dann ließ sich die Erinnerung zuordnen. Ein Wartezimmer im Krankenhaus, ein Nachrichtensender, der wieder und wieder dieselbe Meldung brachte. Es war Kats zweite Fehlgeburt gewesen; ein ausgedehnter Schmerz, dazu die Angst, dass so ihre Zukunft aussehen würde.
Frankie starrte ihn an, fragte sich wohl, warum er so lange brauchte, um eine Anrufliste durchzugehen. Er gab ihr das Telefon.
»Ist mit Quinn alles in Ordnung?«, fragte Delaney, während Frankie nun ebenfalls die Fotos durchschaute. »Ihr ist nichts passiert, oder?«
Damit hatte Caleb nicht gerechnet.
»Warum fragen Sie?«, wollte er wissen.
»Sie hat irgendwie ängstlich geklungen. Und sie geht nicht mehr ans Telefon.« Delaney sprach weiter, ohne eine Reaktion abzuwarten. »Sie tragen das aber nicht weiter, oder? Meine Frau hat gerade ein Kind bekommen. Ich meine, also, ich habe ja eigentlich nichts gemacht, aber das könnte mich trotzdem den Job kosten.«
Ein fast überwältigendes Bedürfnis, auf den Mann einzutreten. Ohne zu antworten, stand Caleb auf und ging zur Tür. Dort angelangt, drehte er sich noch einmal um. »Sagt Ihnen der Name Kirner etwas? Oder so was in der Art?«
Auf Delaneys Gesicht trat noch mehr Schweiß, während er verzweifelt nach einer Antwort suchte, die dafür sorgte, dass sie schnellstmöglich verschwanden. »Ich glaube nicht.«
Frankie folgte Caleb, sagte, als sie ein paar Schritte entfernt waren: »Der Typ bringt uns nicht weiter, wir müssen Quinn finden. Hab ich das richtig gesehen? Du kennst sie?«
»Sie war vor ein paar Jahren in einen Sexskandal verwickelt. Mit einem Politiker oder Richter. Jemand mit einem großartigen Namen, irgendwas in Richtung Lovecock oder so. Klingelt da was bei dir?«
»Nein, aber dein Gedächtnis für Gesichter ist schon fast ein bisschen unheimlich. An ihren Nachnamen kannst du dich wahrscheinlich nicht erinnern, oder? Ich gehe nämlich stark davon aus, dass der nicht Devereaux ist.«
»Nein.« Er warf einen Blick in den Eingangsbereich. Mrs Gillis war wieder am Telefon. Er marschierte schnellen Schritts an ihr vorbei und tat so, als hätte er ihr Winken nicht gesehen.