Frankie setzte so schnell zurück, dass die Reifen Steinchen aufwirbelten und die Vögel in den Käfigen in Angst und Schrecken versetzten, sodass sie panisch in den Metallkäfigen herumflatterten. Dann zog sie den Wagen gerade und nahm Kurs aufs Stadtzentrum, fuhr jedoch viel zu schnell für den unbefestigten Weg. Das Auto hatte mehr Power, als Frankie gerade zur Verfügung haben sollte – oder überhaupt. Sie warf ihm einen Blick zu. »Sprich.«
Nein, wenn er jetzt sprach, würde sie Fragen stellen. Frankie während der Fahrt von den Lippen zu lesen, war unter normalen Umständen schon Furcht einflößend. In ihrer derzeitigen Verfassung käme es einem Albtraum gleich.
»Warten wir doch, bis wir wieder stehen«, sagte er.
Sie schaute ihn an. Dabei näherten sie sich einer Kurve, riesige Rote Eukalyptusbäume flankierten die Straße. »Sofort.«
Caleb klammerte sich an den Sitz. »Okay, aber guck du bitte unbedingt auf die Straße.« Er wartete, bis sie wieder nach vorn schaute, und gab dann die Unterhaltung wieder, versuchte allerdings, Quinns Panik so gut wie möglich auszuklammern. Er hatte ihr seine Nummer gegeben, aber wieso sollte sie die nutzen? Selbst wenn ihr irgendwann doch noch was einfiele, hatte Quinn keinen Grund, ihm zu trauen.
»Großreinemachen?«, wiederholte Frankie, als er fertig war, ihr Blick finster.
»Der Muskelmann ist eine gute Spur«, sagte er schnell. »Bei der Party war Abendgarderobe Pflicht, also wird es auch Fotos geben. Wenn du ihn darauf erkennst, haben wir einen Ansatzpunkt und können ihn finden.«
»Ich kann den nicht erkennen.«
»Du erinnerst dich sicher an mehr, als du glaubst. Wenn du erst …«
»Es war dunkel, ich habe nur einen Schemen gesehen, und dann wurde gleich geschossen.«
Mann, das Glück war echt nicht auf ihrer Seite.
Ohne langsamer zu werden, bog Frankie in die Hauptstraße von Burton und scheuchte eine Schar Tauben auf. Ein abblätterndes Schild verkündete, dass der Ort zu den Finalisten des Tidy-Town-Wettbewerbs gehörte, Einwohnerzahl: 520. Beide Angaben wirkten historisch. Zehn oder zwölf Geschäfte, ein zweistöckiges Pub und ein paar geparkte Autos. Die einzigen sichtbaren Lebewesen waren drei Teenager, die vor der Milchbar herumlungerten, die damit warb, Zigaretten, Kaffee und Internet zu bieten. Frankie fuhr abrupt links ran.
Caleb löste die Finger aus dem Sitzpolster. »Kaffee?«
»Telefon. Das Netz ist hier sehr löchrig.« Sie stieg aus und ging unter den leicht gelangweilten Blicken der Jungs zu einem ranzigen Fernsprecher.
Calebs Blick wanderte zu den Schlagzeilen der Zeitungen im Fenster der Milchbar. Großes Foto eines gut gekleideten jungen Mannes in Handfesseln, darüber die Worte »Jacklin plädiert auf unschuldig«. John Jacklin, der ziemlich sicher schuldige Bauunternehmer, dessen Fall Tilda und Frankie gestern noch in den Nachrichten gesehen hatten. Schon zeichnete sich eine Idee ab: ein Kleinunternehmer, der einem großen Bauprojekt im Weg stand, war sicher einer Menge Leute ein Dorn im Auge. Vielleicht lohnte es sich, mal zu prüfen, ob in letzter Zeit jemand in Albertos Nachbarschaft eifrig Grundstücke gekauft hatte.
Caleb setzte sich gerade auf, als Frankie den Hörer auf den Fernsprecher knallte und mit großen Schritten zur Milchbar marschierte. Die Jungs wichen wie angewidert vor ihr zurück. Caleb verließ schnell den Wagen und hatte sie kurz hinter dem Eingang eingeholt. Der Raum war groß, es gab ein paar Reihen schlecht bestückter Regale und eine Bain-Marie, in der Pommes und Pasteten vor sich hin schwitzten. Im hinteren Teil stand direkt neben den eingeschweißten Magazinen ein klobiger, grauer Computer.
Frankie steuerte geradewegs die Theke an. Der Besitzer schaute mit einer Intensität auf den Fernseher, die ahnen ließ, dass für ihn eine Menge vom Ausgang des Drei-Uhr-Rennens in Caulfield abhing. Beeindruckende Augenbrauen und Wampe, schmale Lippen. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Rennen. »Es gibt nur das zu essen, was man sehen kann. Wer Sojamilch oder so veganen Scheiß will, hat Pech.«
»Er hält uns für Touris«, sagte Frankie. »Kluger Mann. Ihr Fernsprecher ist kaputt.«
»Nicht meiner.«
»Gut zu wissen. Funktioniert der Computer? Gibt’s Internet?«
Er sah nicht mal zu ihr auf. »Was glaubste denn? Wäre schön blöd, den zu haben ohne Internet.«
Sie legte den Kopf schief. »Gibt es denn welches?«
Caleb trat vor sie. »Wir buchen eine Stunde.«
Frankie loggte sich sofort in ihren E-Mail-Account ein: eine Handvoll ungelesener Nachrichten inklusive ein paar Audiodateien von ihrem Telefonnachrichtendienst; nichts mit Tildas Namen im Betreff. Sie spielte sie nacheinander an. Als sie alle durchhatte, wandte sie sich an ihn. Die Sehnen in ihrem Hals gespannt wie Seile. »Da stimmt was nicht. Sie hätten längst Kontakt aufnehmen müssen.«
Fünf Stunden. Würde es so weitergehen? Nie wirklich wissen, was passiert war, nur jeden Tag ein bisschen weniger hoffen, während ihm das Herz in der Brust verschrumpelte?
»Es gibt kein Regelwerk.« Er nickte zum Monitor. »Such mal nach Fotos der Party. Wir können eine Übersicht von Männern anlegen, die zur Beschreibung des Muskelmannes passen, und sie Quinn vorlegen. Was hatte Delaney gesagt, wie hieß die Wohltätigkeitsorganisation?«
»Game Goers. Sportler für geistige Gesundheit.«
Kein Wunder, dass der Anwalt dort hinwollte. Vermutlich war er den ganzen Abend zwischen den Footy-Spielern, ihren Ehefrauen und Quinn hin- und hergezischt.
Frankie fand die Internetseite der Organisation und klickte durch die Fotos: viele sehr weiße Zähne und Solariumsbräune, sehr viele blonde Männer, die aussahen wie Bodybuilder. »O Gott«, sagte sie. »Wie einer dieser Albträume, wo alle gleich aussehen.«
»Such mal nach Quinn, vielleicht ist er im Hintergrund.«
Die Feier hatte in einem großen Saal mit Säulen aus dunkel getöntem Glas mit goldenen Verzierungen stattgefunden. Menschen in Paillettenkleidern und eleganten Smokings lächelten in die Kamera. Delaney und Quinn erschienen ein paar wenige Male im Hintergrund, denn die Fotografen hatten sich auf die Promis konzentriert, nicht auf verschwitzte Anwälte.
Frankie sackte gegen die Stuhllehne. »Das ist doch zwecklos. Der ist eh nur ein Handlanger. Wir müssen rausfinden, wem Imogen da bei Transis auf der Spur war.«
»Hast du noch Kontakte zur Bundespolizei?«
»Nein, aber wir brauchen sowieso das, was nicht in den offiziellen Berichten steht. Wen sie geschmiert, wen sie haben laufen lassen, wer die Informanten sind.« Sie verzog das Gesicht. »Du wirst dich mit Imogen treffen müssen.«
»Wir können ihr nicht trauen.«
»Nein. Wir schreiben ihr, wenn wir fast da sind, geben ihr nicht viel Zeit. Treffen uns in einem Einkaufszentrum oder so. Das Highpoint’s liegt doch auf dem Weg.«
»Ich meinte eigentlich, dass wir ihren Aussagen nicht trauen können. Wir wissen schließlich nicht, in was sie verwickelt ist.«
»Die Qualität ihrer Informationen können wir ja prüfen, sobald wir sie haben.« Sie stand auf. »Ich besorge Kaffee.«
»Pass bloß auf, dass er nicht reinspuckt.« Caleb checkte schnell seine Nachrichten. Mails, die die Richtigkeit der Alibis von Albertos Angestellten bestätigten. Und eine weitergeleitete SMS von Kat. Die übliche Mischung aus Angst/Vorfreude beim Öffnen.
Hoffe, dir geht’s gut nach all der Aufregung. Arbeite an etwas Interessantem. Zeig’s dir vielleicht Fr xx
Dass Kat einen solch kreativen Höhenflug hatte, war etwas sehr Besonderes. Er hielt schon ein paar Monate an, trotz ihrer Ängste. Oder vielleicht auch genau deswegen. Bevor sie in sein Leben getreten war, hatte er nicht gewusst, dass man Schmerz in Schönes verwandeln kann. Er zögerte: Sollte er Tilda erwähnen? Nein, noch nicht. Er wollte Kat noch nicht mit seinen Sorgen belasten. Er schickte eine kurze Antwort und stand auf.
Frankie kam bereits mit den Kaffeebechern auf ihn zu. Das Gesicht des Besitzers hinter dem Tresen war dunkelrot angelaufen. Frankie schob Caleb einen Becher in die Hand und war schon halb durch die Tür, bevor er sich überhaupt in Bewegung setzen konnte.
Erst draußen holte er sie ein. »Was hast du getan?«
»Um Mandelmilch gebeten.«
Caleb hielt sich strikt an die Geschwindigkeitsbeschränkungen, da er sich der Pistole in Frankies Rucksack sehr bewusst war, und er wollte unter keinen Umständen heute noch in Polizeigewahrsam genommen werden. Mittlerweile prüfte sie schon alle fünfzehn Minuten, ob eine Nachricht gekommen war. Mit jedem Auswickeln des Handys wurde sie angespannter, und die Anspannung ließ gar nicht mehr nach. An der Kreuzung zum Einkaufszentrum wandte sie sich ihm zu, die letzten Sonnenstrahlen gaben ihrem Gesicht einen orangefarbenen Glanz. »Ich komme mit.«
»Das ist keine gute Idee. Wenn Imogen dich sieht, will sie sicher sofort die Unterlagen haben.«
»Ich lasse die Waffe im Wagen.«
Lieber Himmel, die hatte sie mitnehmen wollen? »Und wenn sie den Taser zückt? Versucht, dich festzunehmen?«
»Dann schlägst du sie, und ich renne weg.«
Das starke Gefühl, dass sie nicht scherzte.
Sie sah ihn noch immer an, aber hinter ihrer gerunzelten Stirn lief irgendein ausgeklügelter Entscheidungsprozess ab. »Wenn es mich irgendwann erwischen sollte: Die Bank ist bei Maggie um die Ecke. Schließfachnummer ist auf dem Schlüssel.«
Unverdientes Vertrauen, ungerechtfertigt noch dazu. Er hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren sollte.
Sie deutete zur Windschutzscheibe. »Grün.«
Er gab Gas, bog in die Tiefgarage und ließ den messingfarbenen Himmel zurück.