Wach. Eine Silhouette über ihm, die an ihm rüttelte. Kat blutete, Kat brauchte einen Krankenwagen. Schon saß er aufrecht. Nicht Kat: Frankie. Er auf einer Couch in einem Motel. Er ließ den Kopf in die Hände sinken und versuchte, sich daran zu erinnern, wie man atmete. Gleißendes Licht, als Frankie die Lampe einschaltete. Er hob den Kopf.
»Los«, sagte sie. »Wach auf.«
»Ich bin wach.« Äußerst wahrscheinlich, dass er nie wieder schlafen würde. Der kurze Schlaf war tief und sonderbar traumlos gewesen. Die Art Schlaf, in deren Genuss sonst nur Unschuldige kamen. Oder Menschen mit entsprechenden Medikamenten. Er warf einen Blick auf die Uhr. 05:12.
»Tilda?«, fragte er schnell.
»Nein. Ich habe … früh … Jacklin.«
»Bitte?«
»Ich habe … Kumpel in der U-Haft … früh … Jacklin.«
»Äh.« Er puzzelte die Wörter zusammen, wagte einen Versuch: »Du hast einen alten Kumpel in der U-Haft kontaktiert, und der lässt uns morgen früh zu Jacklin?«
»Ja.«
Ein schwacher Trost, dass er nicht der Einzige war, den sie mitten in der Nacht geweckt hatte. Durch die Tür zum Schlafzimmer sah er ihr ungemachtes Bett, ein Laptop auf dem Kissen. Ein Laptop?
»Wo kommt denn der Computer her?«
»Junkie … dreißig Dollar. Jacklins …«
»Warte, ich setz erst mal die Hörgeräte ein.« Hoffentlich würde das auch seinem Hirn auf die Sprünge helfen. Normalerweise konnte er Frankie ohne sie von den Lippen lesen.
Er stand auf, Kopf und Körper protestierten. Er stolperte quer durch das Motelzimmer. Frankie war ihm dicht auf den Fersen, sprach unaufhörlich, während er sein Handy vom Bett nahm und damit ins Bad ging. Er schlug ihr die Tür vor der Nase zu, schloss sicherheitshalber ab.
Ein schrecklicher Anblick erwartete ihn im Spiegel: blutunterlaufene Augen, eine dunkelblaue Beule an der Stirn, getrocknetes Blut, wo die Haut geplatzt war. Er wusch es weg, so gut es ging, wickelte dann das Handy aus. Kat hatte die Nummer des Motels, trotzdem konnte er das Gefühl, das das Wachgerütteltwerden bei ihm ausgelöst hatte, nicht ganz abschütteln. Neunzehnte Woche, ein Meilenstein, den sie bisher noch nicht erreicht hatten. Nur fünf weitere, dann galt das Urteil »wahrscheinlich lebensfähig«.
Das Display leuchtete auf: acht SMS. Acht SMS mitten in der Nacht. O Gott.
Er wischte durch die Nachrichten, ohne sie zu lesen. Tedesco und Alberto; nichts von Kat. Er ließ sich auf die Toilette sinken und schloss die Augen. Zwei sehr unterschiedliche Zukunftsaussichten innerhalb weniger Sekunden. Als sein Puls wieder unter hundert war, las er die Nachrichten. Erst die von Tedesco.
Konnte keine offiziellen Informationen über den Informanten oder die Polizisten bekommen. Äußerste Vorsicht ist geboten. Du musst davon ausgehen, dass ihr Tod zusammenhängt, die Umstände sind verdächtig.
Tedesco hatte außerdem Links zu interessanten Zeitungsartikeln geschickt: Nichts, was sie nicht selbst schon gefunden hatten. Mist. Es schien einfach keinen Ansatzpunkt zu geben. Caleb bedankte sich kurz und öffnete Albertos Nachricht.
Polizei ansehen. Hilfe nein.
Die Knappheit sprach Bände. Englisch war Albertos erste Fremdsprache, er nutzte es ungern, aber normalerweise drückte er sich viel klarer aus. Schwer zu sagen, wie er weiter vorgehen sollte. Vor dem Schlafengehen hatte Caleb noch eine Reihe von Mails mit Fragen zu Ilarias Ex verschickt. Was nur möglich gewesen war, weil er den Rezeptionisten mit einem deftigen Betrag bestochen hatte, um den Motelcomputer nutzen zu dürfen. Große Hoffnungen machte er sich nicht – selbst wenn er Tony finden sollte, war es schwierig, seine Beteiligung nachzuweisen, außer sie erwischten ihn in flagranti. Wenn er denn überhaupt beteiligt war. Laut Sammis Bericht war, wer immer sich in Albertos Bestellsystem eingewählt hatte, in Australien gewesen.
Caleb wickelte das Handy wieder ein und setzte seine Hörgeräte ein. Sofort war da ein dumpfes, rhythmisches Geräusch. Entweder hatte Frankie angefangen, Möbel zu rücken, oder aber sie trommelte gegen die Badezimmertür. Er öffnete, und sie hielt ihm einen Pappbecher hin. »Hat ja ganz schön gedauert.«
Caleb begutachtete das Getränk auf dem Weg zum Sofa. Trübgraues Gebräu, das sumpfig roch. Wie ein Moor am Vormittag. Sollte er das wirklich trinken oder lieber zur Analyse einschicken? »Was ist das?«
»So ein Superfoodscheiß von einem Yogazentrum. Der einzige Laden, der offen hatte. Sie haben mir versichert, dass Koffein drin ist.«
Er probierte es. Geschmäcker, die niemals kombiniert werden sollten: Milch und irgendwas Gemüsiges, dazu eine leichte Erdnote. Er fischte etwas Grünes von seiner Lippe. Brokkoli. Er trank einen Brokkoli-Latte. Oder eher – er trank ihn nicht.
Er stellte den Becher auf den Couchtisch. »Okay, woher kommt dein plötzliches Interesse an Jacklin? Du hast doch gesagt, der weiß vermutlich nichts von Maggies Machenschaften.«
Sie setzte sich neben ihn aufs Sofa. »Da hab ich noch gedacht, er ist ein Kunde. Ist er aber gar nicht, er arbeitet für sie. Und er ist nicht einfach nebenbei angeheuert wie Quinn – er weiß Bescheid.« Sie holte den Laptop. »Ich hab mich ein bisschen umgeguckt. Jacklin hat sein Unternehmen vor zehn Jahren mit einer Finanzspritze seines Vaters aufgebaut. Die ganze Zeit lief es mehr schlecht als recht, bis er vor zwei Jahren plötzlich Erfolg hatte. Unerklärlichen Erfolg.«
»Wir wissen doch schon, dass er Geld gewaschen hat.«
»Um Geld zu waschen, musst du erst mal Geld haben. Das kommt von anderen. Guck.« Mit schwindelerregender Geschwindigkeit klickte sie durch Dutzende geöffneter Tabs. »Die Anklage lautet: Fingieren von Rechnungen, Arbeitsverhältnissen und Grundstücksverkäufen. Wir reden von fünfzehn, zwanzig Millionen.«
Sie hatte recht, das war sehr viel mehr Geld, als ein wenig erfolgreicher Bauunternehmer allein erwirtschaften konnte. Aber Frankie hatte ihn nicht um fünf Uhr früh geweckt, um über Geldwäsche zu reden.
»Du willst dir also sein Apartment mal genauer ansehen, bevor wir ihn besuchen?«
»Ich dachte schon, du fragst nie.« Sie schob ihm den Laptop rüber, auf dem das Bild eines riesigen Apartmentblocks aus Metall und Glas zu sehen war. »Er ist einer von dreien, die im obersten Stockwerk wohnen.«
»Die Polizei wird schon alles durchsucht haben.«
»Uns geht es ja nicht um stichhaltige Beweise, nur um mögliche Verbindungen. Er ist Single, bei ihm zu Hause wird also nicht viel rumstehen. Ich bin dieser Tage ziemlich gut darin, Schlösser zu knacken.« Sie zögerte. »Aber vielleicht sollten wir trotzdem ein Brecheisen mitnehmen. Nur für den Fall der Fälle.«
Er vergrößerte die Aufnahme. Gläserne Wände, ein durch Security gesicherter Eingang, Kameraüberwachung. Intensive Kameraüberwachung. Er konnte wirklich nicht begreifen, warum Hollywood ihn und Frankie hatte laufen lassen, aber noch mal würde ihm das definitiv nicht passieren. Wenn sie dabei erwischt wurden, dass sie Jacklin ausschnüffelten, waren sie tot. Und das nur wegen eines Apartments, das von der Polizei schon einmal auf den Kopf gestellt worden war.
»Zu viele Kameras«, sagt er.
»Die sind doch kein Problem. Und die Security wird uns nicht aufhalten, wenn wir aussehen, als gehörten wir da hin.«
»Ich mache mir nicht wegen der Security Sorgen.«
»Himmel! Vor ein paar Monaten hast du dich mit Bikern angelegt, sie quasi dazu herausgefordert, dich abzuschlachten, und jetzt bekommst du Muffensausen, wenn wir uns unerlaubt Zugang verschaffen wollen. Seit wann bist du denn so eine Memme?«
Seit neunzehn Wochen.
Er hatte keine Ahnung, was in seinem Gesicht geschrieben stand, aber die Unerbittlichkeit auf ihrem ließ nach. »Vielleicht sollte ich allein hin«, sagte sie langsam. »Eine Einzelperson ist weniger auffällig als ein Paar.«
»Wir haben sie noch nicht gefunden.« Wie sollte er sich je wieder selbst in die Augen sehen, wenn er doch wusste, was er getan hatte? Was er nicht getan hatte?
Er stand auf. »Wir haben kein Brecheisen. Du musst die Tür eintreten, wenn du sie anders nicht aufkriegst.«
John Jacklin wohnte in den Docklands, einem feinen neuen Vorort, der auf den Ruinen der ehemaligen Kaianlagen erbaut worden war. Ein Ort mit teurer Gartengestaltung und kundenlosen Geschäften, was sich von einem trägen Riesenrad aus beobachten ließ. Zu dieser Uhrzeit waren wenig Leute unterwegs; vermutlich ferngehalten von dem eisigen Wind, der durch die Häuserschluchten pfiff. Sie warteten seit fünfzehn Minuten darauf, dass jemand das Tor zur Tiefgarage des Apartmentkomplexes öffnete, und Calebs Hände waren schon taub vor Kälte. Sein Baumwollhemd und die leichte Jacke würden heute nicht reichen. Er musste in seine Wohnung, um neue Klamotten zu holen. Außerdem eine Zahnbürste und eine Handvoll Kopfschmerztabletten.
»Das dauert zu lang«, sagte er. »Versuchen wir’s mit dem Lieferantentrick.«
»Wie meine Mum zu sagen pflegte: ›Das wird nicht klappen, das kannst du gleich lassen. ‹«
Die zweite freiwillige Information über ihre Familie. So kannte er sie gar nicht. Er wagte eine Frage: »Kann dein Vater auch irgendwelche aufbauenden Sprichwörter beisteuern?«
»Nichts so Aufbauendes wie deiner. Wie ging der Satz noch? ›Wenn du dein Bestes gibst und es nicht reicht, gib mehr.‹?«
Wieso erzählte er ihr so was überhaupt?
»Das war ermutigend gemeint«, sagte er.
»Ermutigend? Lieber Gott, kein Wunder, dass du so supererfolgreich bist und dein Bruder ein Versager.«
Alles andere als supererfolgreich: Eheschwierigkeiten, Soloselbstständiger und in Therapie.
Frankie richtete sich auf, als ein Range Rover um die Ecke kam und in die Einfahrt bog.
Eine haarige Hand erschien im Fenster der Fahrerseite und wedelte mit einer Karte vor dem Sensor. Das Rolltor fuhr hoch. Als das Auto drinnen verschwunden war, rannten sie hinterher. Der Fahrer war schon unterwegs zum Aufzug. Ein weiteres Mal wedelte er mit der Karte vor einem anderen Sensor, sofort öffneten sich die Türen. Caleb näherte sich in lockerem Laufschritt, freundliches Lächeln auf dem Gesicht, um den Bewohner nicht zu alarmieren. Der Fahrer übersah ihn scheinbar absichtslos, und die Tür schloss sich direkt vor Caleb.
Frankie tauchte neben ihm auf. »Für dich nur der Personaleingang.«
Er nickte zum Kartenlesegerät. »Das heißt wohl, wir nehmen die Treppe.«
Ihr Grinsen verschwand.
Frankie brauchte nur beeindruckende vierzig Sekunden, um das Schloss zum Treppenhaus zu knacken, am elektrischen zu Jacklins Apartment scheiterte sie jedoch. »Ach, Scheiße.« Sie war rot im Gesicht, aber nicht ernsthaft außer Atem. Caleb hatte den starken Verdacht, dass sie sich auf einem der Absätze bis in den achtzehnten Stock ausgeruht hatte.
»Kein Ding«, sagte er und wickelte das Handy aus.
In diesem Gebäude zählte die Aufmachung mehr als ihr Nutzen, und der schicke, biometrische Türöffner war genau, was er erwartet hatte. Caleb suchte ein Porträtfoto von Jacklin heraus – eine Aufnahme mit guter Beleuchtung und Auflösung, Jacklin selbst hatte das typische Grinsen auf dem Gesicht – und hielt es vor den Scanner. Das Schloss schaltete auf Grün.
Er wickelte das Handy wieder ein. »Bitte sehr, Schlösserknacken überflüssig.«
»Selbstgefällige Arschlöcher genauso.« Sie öffnete die Tür zu einem dunklen Zimmer. Groß und breit, eine Gläserfront am hinteren Ende ermöglichte den Blick über die Bucht, die Dämmerung blutete langsam in den finsteren Horizont.
Auf einer kleinen Kommode blinkte ein kleines, rotes Licht.
Caleb hob die Hand, damit Frankie noch nicht hineinging. »Wie lange, bis die Polizei hier ist?«
»Zwanzig, dreißig Minuten. Wenn wir ganz sicher sein wollen, etwas weniger.«
»Dann sind wir hier in zehn Minuten raus.« Er schaltete das Licht ein, und schon erstrahlte Jacklins Wohnung mit dem Flair einer luxuriösen Leichenhalle. Schwarzer Boden, weiße Wände, dazu Edelstahlmöbel. Kein Krimskrams auf den wenigen Oberflächen. Mist. Hier würden sie nichts finden außer krankenhaustauglichem Desinfektionsmittel.
»Trotzdem einen Versuch wert«, sagte Frankie, wirkte aber nicht sehr überzeugt.
»Du übernimmst die Schlafzimmer. Ich das Arbeitszimmer und das Bad. Such nach dem Schlüssel für Maggies Kundenliste.«
»Den hat sie ganz sicher nicht so einem kleinen Licht gegeben.«
»Trotzdem einen Versuch wert.«
Das Arbeitszimmer hatte denselben Pathologiecharme wie der Rest der Wohnung, dazu aber eine Chaoskomponente: ausgeleerte Schubladen, lose Blätter und Stifte am Boden. Kein Computer, aber ein weit offen stehender Wandtresor und ein ausgeräumter Aktenschrank. Nicht die Arbeit der Polizei – sondern eine überstürzte, aber gründliche Beweisvernichtungsaktion. Caleb fuhr mit den Händen an Wänden und Boden entlang auf der Suche nach einem weiteren Safe, fand aber keine losen Paneele oder dergleichen. Auch im Schreibtisch keine Verstecke oder doppelte Böden, die Blätter alle leer. Weiter ins Bad. Nichts als mattschwarze Fliesen und eine besorgniserregende Anzahl an Wanddüsen und Deckenbrausen. Dieser Raum war gemacht für sehr saubere Menschen. Oder sehr schmutzige.
Frankie war in der trostlosen Küche und kippte Schubladen aus. »Nichts«, sagte sie. »Die Wohnung wurde schon einmal gefilzt.«
»Ja.« Caleb warf einen Blick auf die Uhr der Mikrowelle: Sie waren seit zehn Minuten hier drin. »Zeit ist rum.«
»Erst noch das Wohnzimmer. Zwei Minuten.«
Er zögerte, folgte ihr dann. Nicht viel zu durchsuchen: eine schwarze Ledercouch, ein paar Designerstühle, ein einsamer Wandschrank. Die einzige Deko bestand aus einem künstlerisch in Szene gesetzten, ausgestopften Elchkopf an der einen, einer E-Gitarre und einer Schaufel an der anderen Wand. Caleb tastete auch hier Boden und Möbel ab, während Frankie den Schrank durchsuchte. Der Elch schenkte ihm einen bösen Blick, als er dahinter schaute. Auf einem kleinen Schild auf der Rückseite stand »Ontario«. Dann war Jacklin also Jäger. Was für ein Andenken war dann wohl die Schaufel? An einen schönen Tag im Garten? Nein, Spatenstich des Connoy Hotels. Dann betrachtete er das krakelige Autogramm auf der Gitarre: eine Telecaster, einst Eigentum von Keith Richards. Ein Mann mit einfachem Geschmack.
Er wandte sich an Frankie. »Zeit zum Aufbruch.«
»Warte, ich will noch schnell …«
Er ging einfach hinaus.
An der Tür zum Treppenhaus holte sie ihn ein. In flottem Tempo bewältigten sie die Stufen und huschten hinter einem cremefarbenen Mercedes aus der Tiefgarage, als gerade ein Streifenwagen vor dem Gebäude hielt.
»Siehst du«, sagte Frankie. »Reichlich Zeit.«