Sie erreichten das Untersuchungsgefängnis, ein modernes Gebäude am Stadtrand, das große Ähnlichkeit mit einer Kunstgalerie hatte, eine Stunde vor Beginn der Besuchszeit. Statt der sonst üblichen Poller standen große Steinurnen am Eingang, bepflanzt mit heimischen Gräsern. Nicht gerade das Ambiente, das Jacklin mittlerweile gewohnt war, aber fast gemütlich, wenn man den Stacheldraht und die Kameras ausblendete.
»Nobel«, sagte Frankie, während sie den Weg zum Eingang entlangliefen. »Meinst du, die würden mich hier wohnen lassen?«
Als besäße sie kein frei stehendes rotes Edwardian in Brunswick. Dann hatte sie ihr Haus also verkauft? Das war sicher nicht leicht gewesen, nach zwanzig Jahren. Aber klug, wenn sie Schulden gehabt hatte; das Häuschen hatte sicher einen ordentlichen Preis eingebracht.
»Du hast dein Haus verkauft?«
»War nicht meins.« Sie trat durch die Automatiktür.
Innen war es gleich weit weniger einladend: Metalldetektoren, Panzerglas, doppelt gesicherte Türen. Ein Schild am Empfangsschalter machte darauf aufmerksam, dass alle Besucher nach Drogen und Schusswaffen untersucht würden. Frankie hatte demonstrativ die Pistole in ihrem Stiefel verstaut, aber er hatte nicht daran gedacht, sie nach Drogen zu fragen. Sie war ziemlich durcheinander, die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sie noch irgendwo Heroin hatte. Wenn er nachfragte, wurde sie wütend, wenn er nicht nachfragte, wurde sie vielleicht verhaftet. Pest oder Cholera. Als sie den Schalter erreicht hatten, tippte er sie an und deutete diskret auf das Schild.
Sie schaute ihn mit versteinerter Miene an. »Sehe ich aus, als wäre ich bescheuert?«
Er zögerte kurz. »Rhetorische Frage?«
Er prallte förmlich an ihrem Blick ab, also überließ er ihr die erste bürokratische Hürde.
Es dauerte vierzig Minuten, bis sie alle Anträge ausgefüllt und Untersuchungen hinter sich gebracht hatten. Aber dann wurden sie endlich in eine Art Cafeteria gebracht. Die Metalltische waren fest im Boden verankert, drum herum schwebten ebenso fest verlötete Sitze, fächerten sich auf wie sonderbare, weiße Seerosen. Viele saßen bereits dort, Gefangene in olivgrünen Overalls, Besucher in Jeans oder Jogginganzug. Der typische Geruch von vielen Körpern auf engem Raum, Schweiß und Angst. Alter Stress kam unerwartet in ihm hoch. Ant war gerade mal neunzehn gewesen, als er, eher kurz, wegen Drogenbesitzes eingebuchtet worden war. Dennoch waren es sechs schier endlose Monate gewesen, und jeder Besuch hatte Ants Verzweiflung etwas gemildert, auf Calebs Erschütterung hatten sie den gegenteiligen Effekt.
Frankie ging voran zu einem unbesetzten Tisch nahe der Tür, durch die die Gefangenen hereinkamen. Sie strahlte nicht mehr diese totale Hektik aus, aber sie war noch immer nervös. Sie rutschte auf dem Stuhl herum, rieb sich mit den Händen über die Jeans und ließ die Tür nicht aus den Augen. Wie gern hätte er wegen des Hauses nachgehakt. Sie hatte zwei Jahrzehnte dort gewohnt; das war für den brutalen Melbourner Mietmarkt nicht nur üblich, sondern schlichtweg außergewöhnlich. Ein so langes Mietverhältnis gab es eigentlich nur zwischen Verwandten. Das hieß also: Maggie.
Sie sprach, ohne ihn anzusehen. »Ich spüre förmlich, wie angestrengt du nachdenkst. Stell doch einfach die verdammte Frage.«
»Was für eine Abmachung genau habt ihr, Maggie und du?«
Jetzt schaute sie ihm in die Augen. »Ich erledige hin und wieder was für sie, und gelegentlich lässt sie mich auf Tilda aufpassen. Ist das genau genug?«
Lässt sie auf Tilda aufpassen: in dem einen Wörtchen schwang eine Menge Vergangenheit mit. Maggie hatte die Macht in ihrer Geschwisterbeziehung, und Frankie hasste sie beide dafür. Flüchtige Bezüge zu seinen eigenen Geschwisterdramen. Er hatte Ant nicht erst geschadet, als er ihn in den Fall verwickelt hatte. Er war schon immer zu kontrollsüchtig gewesen, zu voreingenommen. Hatte ihn weder mit Geld noch mit ermutigenden Worten unterstützt. Jeder guten Phase war er mit Argwohn begegnet.
Eine eisige Vorstellung bohrte sich in sein Bewusstsein. Würden seine Kinder ihn auch so sehen? Als Vater, der unfähig war zu lieben, ohne zu kritisieren? Der Apfel fiel wohl wirklich nicht weit vom Stamm.
Frankie setzte sich auf. »Ist er das?«
Ein Gefangener stand in der Tür, ließ den Blick durch den Raum wandern. Dünnes, braunes Haar, ein Kinngrübchen. Die Art von oberflächlicher Schönheit, die sich nicht gut mit Stress und olivgrünem Overall verträgt. Caleb hob die Hand. Jacklin schaute ihn an, bewegte sich aber nicht. Seine Stirn gerunzelt vor Zweifel.
Ein weiterer Gefangener wollte an ihm vorbei. Eine Hand auf Jacklins Schulter, mit der anderen schubste er Jacklin. Eine sich wiederholende Bewegung, als würde er ihm heftig in den Rücken schlagen. Nein, nicht schlagen – stechen.
Caleb kam auf die Beine.
Jacklin stolperte vorwärts und sank auf die Knie, die Augen weit aufgerissen. Blut troff ihm aus dem aufgerissenen Mund. Leute standen auf, rannten, Licht blitzte. Wärter stürmten zur Tür und rissen den Angreifer zu Boden. Traten ihm das Messer aus der Hand, das über den Boden schlitterte und eine Blutspur hinterließ.
Jacklin kippte langsam nach vorn und blieb reglos liegen, den Kopf so ausgerichtet, als würde er sich noch immer umsehen; doch die Augen standen offen.