In den frühen Morgenstunden wurde er ruckartig wach. Trockener Mund, das Gefühl zu fallen. Über ihm eine hohe Decke, Skizzen an den Wänden: Kats Gästezimmer. Sie lag in dem T-Shirt und der kurzen Hose, die sie als Schlafanzug trug, neben ihm auf dem Bettzeug. Den Arm um ihn gelegt. Hielt ihn im Schlaf. Er erinnerte sich nicht daran, dass sie zu ihm gekommen war, um ihn zu trösten, aber der Schatten eines Albtraums lag auf ihm wie ein blauer Fleck. Ein neuer Horror: der Pier, ein sich absenkender Himmel, Frankies erlöschende Augen.
Ein Wagen fuhr vorbei, die Scheinwerfer erhellten kurz Wände, Bett und die ihm so vertrauten Gesichtszüge Kats. Weiche Haut, dunkle Wimpern, die Spur eines Lächelns in den Augenwinkeln. Ein Gesicht, mit dem er mal jeden Tag aufgewacht war.
In der Nacht hatten sie stundenlang in der Küche gesprochen, Tasse um Tasse gesüßten Tee getrunken und versucht, die Wahrheit aus Frankies Lügen zu filtern. Kats Miene spiegelte blanken Horror. Ob wegen Frankies Verrat oder aus Sorge um ein Kind, war unmöglich zu sagen. Vielleicht wegen seiner Rolle in all dem.
Er zog die Bettdecke vorsichtig unter ihr hervor und deckte sie beide zu. Kat schmiegte sich verschlafen an ihn. Er genoss ihre Wärme, starrte in das abgedunkelte Zimmer und flehte den Schlaf an, zu ihm zurückzukehren.
Kats Seite war kalt, als er aufwachte. Der Tee auf dem Nachttisch hingegen noch heiß. Die Verbrennung durch Frankies Kugel pulsierte an seinem Oberarm. Wenige Zentimeter weiter nach rechts und … Hatte sie vorbeischießen wollen , oder hatte er sich nur rechtzeitig bewegt?
Er zog die Sachen vom Vortag an und setzte die Hörgeräte ein. Dann betrachtete er die Skizzen für Kats neues Projekt. Ein weiterer Weißbauchseeadler, aber ein ganz anderer Stil, trotzdem zweifellos ihre Handschrift. Brustkorb und Beine aus Sperrholz, ausgebreitete Flügel. Lebhaft und dynamisch, als würde er gleich abheben. Es sah ganz so aus, als wollte sie sich an beweglichen Gelenken versuchen. Wenn er ihre krakeligen Angaben richtig deutete, dann wurde die Skulptur fast so groß wie Kat. Kein Wunder, dass sie so aufgeregt war.
Als er sich auf die Suche nach ihr machte, sangen die vibrierenden Bodendielen ihm ein Lied davon, dass gerade volles Haus herrschte. Georgie hatte wohl ebenfalls die Nacht hier verbracht, inklusive Nachwuchs. Als er gestern Abend hereingekommen war, hatte er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen, Kat musste sie wohlweislich verscheucht haben.
Er kam nur bis zur Küchentür. Die Küche selbst ein großer Raum mit einem breiten Tisch in der Mitte. Die Wände waren übersät von Kats Bleistiftzeichnungen. Kat konnte er nicht entdecken, dafür ihre drei Schwestern mit allerlei Nichten und Neffen. Insgesamt sechs Kinder, inklusive dem Sohn von Georgies Nachbarin, alle unter zwölf. Aßen Toast und Spiegeleier, die Zwillinge stapelten Töpfe in der Ecke. Ein an- und abschwellendes Gewirr aus Stimmen. Kaum vorstellbar, dass dieser Ort makellos sauber wäre, wenn sie aufbrachen. Oder der Kühlschrank voll.
Georgie war gerade dabei, Tee aufzugießen. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einem nützlichen Pferdeschwanz zusammengefasst. Sie hatte die gleichen blauen Augen wie Kat, ihre waren nur nicht ganz so versöhnlich. Sie war gerade vierzig geworden und wuchs gemächlich in die Position der Aunty innerhalb der Gemeinde. Die Leute aus Bay hatten schon angefangen, sie so zu nennen. Sie schaute Caleb lange an. »Der verlorene potenzielle nicht länger Ex-Mann.«
Dann hatte Kat ihr nicht den Grund für seinen späten Besuch erzählt. Oder vom Zustand, in dem er aufgekreuzt war. Er fand Georgie zwar Furcht einflößend, aber unfreundlich war sie nicht.
»Hi, Georgie. Sind schon Ferien? Nein, oder?«
»Projekttag. Komm, setz dich zu uns.«
Amelia und Helen hatten sich umgedreht. Mehr blaue Augen, mehr begutachtende Blicke. Plötzlich war er sich seines Dreitagebarts, der blaugrünen Beule an der Stirn und des schon zu lange getragenen, leicht eingerissenen Oberteils überdeutlich bewusst – und das, obwohl er sich hier als passabler Partner für ihre kleinste Schwester bewähren sollte.
Georgie stellte das Radio aus, dabei hatte er gar nicht mitbekommen, dass es eingeschaltet gewesen war. »Frühstücke mit uns, wir haben viel zu viel.«
Ihm stand eine Befragung bevor, und er würde nicht damit durchkommen, so zu tun, als verstünde er sie nicht: Alle drei Schwestern wussten, wie sie sich verständlich machen konnten. Nur zu gut.
»Danke, nein. Wo ist Kat?«
»Keine Ahnung. Also, wie geht es dir?« Georgies Blick wanderte zu seiner Stirn.
»Ist sie weg?«
Amelia klopfte auf den leeren Stuhl neben ihr. »Setz dich doch, erzähl uns, wie’s dir ergangen ist.« Ihre Lachgrübchen wurden sichtbar. »Was du so angestellt hast.« Die jüngste der drei und gewöhnlich seine beste Verbündete, aber er war nicht blöd: Wenn Kat ihnen nicht gesagt hatte, weshalb er hier übernachtet hatte, dann würde er den Teufel tun, das selbst anzusprechen.
»Hat sie gesagt, wann sie wieder zurückkommt?«
Georgie gab den subtilen Ansatz auf. Resolut stemmte sie die Hände in die Seiten, eine so gewohnheitsmäßige Geste für sie, dass Caleb sie zu ihrem Gebärdennamen gemacht hatte. »Du schläfst also neuerdings hier?«
Er räusperte sich. »Nur diese Nacht.«
»Ihr seid aber nicht …?«
»… seid ihr …?«
»Heißt das …?«
»… Katy?«
Er hielt die Hand hoch. »Eine nach der anderen. Oder benennt eine Wortführerin.«
Georgie zeigte auf und wartete geduldig, während Caleb abwog, ob er das gesehen haben wollte oder nicht. Woher nahmen sie die Zeit, an einem Freitagmorgen alle um Kats Küchentisch zu sitzen? Sie waren alle berufstätige Mütter und Pflegekräfte. Ihre Arbeitsplätze und Wohnsitze dreieinhalb Autostunden von hier entfernt in Resurrection Bay. Sie trotzten damit den Gesetzen von Zeit und Raum.
»Okay, schieß los«, sagte er zu Georgie.
»Will Katy, dass du wieder einziehst?«
»Das musst du sie fragen.«
»Willst du?«
Sie lehnten sich vor, keine von ihnen blinzelte. Wichtig, sich die Angst nicht anmerken zu lassen, aber schwierig in der Umsetzung, diese Menschen kannten ihn schließlich schon sein halbes Leben lang, trotzdem schaffte er das.
»Das ist Kats und meine Angelegenheit.«
Darüber lachten sie. Georgie brachte die Teekanne zum Tisch, noch immer lächelnd. »Katy ist unter der Dusche. Ich glaube, sie versteckt sich vor uns.« Sie zögerte. »Oder vor dir.«
Caleb suchte nach Kats Akkubohrer und zog, während er wartete, die Schrauben der Verandastufen fest. Vorübergehende Lösung, bis er Zeit hatte, zum Baumarkt zu gehen. Kat war sicher nicht begeistert, aber immerhin konnte er eine Sache von der Liste der Dinge, die ihm schlaflose Nächte bereiteten, streichen.
Er war gerade mit dem Geländer fertig, als sie mit zwei dampfenden Tassen erschien. Barfuß in Jeans und einem rostroten Oberteil, die Haare noch feucht, obwohl es kühl war. Kälte hatte ihr noch nie etwas ausgemacht, in der Schwangerschaft noch weniger. Sie kam die Stufen herunter, ohne deren neue Stabilität zu würdigen, und reichte ihm eine der Tassen. Ihre Zehennägel waren rot, gelb und schwarz lackiert. »Die Schwestern haben gesagt, dass ich dich hier finde.« Lautsprachlich, aber sie ließ sich so wunderbar lesen. Lippen und Gesichtsausdruck sprachen Bände: Besorgnis und Entschlossenheit. Sobald sie den Tee abgestellt hatte, damit sie gebärden konnte, würde sie ihm genau sagen, was er tun sollte und warum.
»Haben sie das Wort ›verstecken‹ benutzt?«
Sie lächelte. »Haben sie. Waren sie besonders gemein zu dir?«
»Wie könnte ich das einschätzen?« Er setzte sich zu ihr auf die unterste Stufe und wappnete sich, als ihr Blick zum Akkubohrer wanderte.
Sie stellte die Tasse ab und gebärdete: »Wenn du dich unbedingt mit handwerklicher Betätigung therapieren willst, solltest du dich vielleicht erst dem Schimmel im Bad widmen.«
Nett, aber gleichzeitig ein Warnschuss. Er probierte den Tee – schwarz mit einer Vanillenote. Nichts, woraus sich etwas schließen ließe.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Gut.« Er unterbrach sie selbst, setzte neu an. »Keine Ahnung. Wie betäubt. Entschuldige den Albtraum, ich habe dich sicher geweckt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Hast du die noch oft?«
»Das war der erste seit Ewigkeiten.« Ihm entging ihr Stirnrunzeln nicht, weshalb er hinzufügte: »Ehrlich, ich bin wiederhergestellt. So gut wie. Und ich rufe Henry an, wenn ich ihn brauche.« Er dachte darüber nach, was er als Nächstes sagen könnte. Ihre Versöhnung war fast gescheitert, weil er es mit einem Fall übertrieben hatte. Wenn Kat nicht wollte, dass er weiter nach Tilda suchte, hatte er ein massives Problem.
Sie berührte sein Bein, damit er sie ansah. »Du musst noch mal mit Tedesco sprechen.«
»Wieso?«
»Ich weiß, wie schwer es ist, ihn zu überzeugen, aber du brauchst Hilfe, und ihm kannst du trauen.«
»Ich hatte vor, ihn heute zu kontaktieren. Dann ist es für dich in Ordnung, wenn ich weiter nach Tilda suche?«
»Natürlich, wie sollst du dir sonst jemals wieder selbst in die Augen schauen können? Ich muss die ganze Zeit an sie denken. Sie muss solche Angst haben.« Kat holte einen Zettel aus der Tasche, reichte ihn Caleb.
Station C, Zimmer 310
»Was ist das?«
»Maggies Zimmernummer. Ich habe im Krankenhaus angerufen, sie ist bei Bewusstsein.«
Das Blut gefror ihm in den Adern. Kat sprach mit Leuten, er hatte Kat in diesen Fall reingezogen. Der Horror vom letzten Mal, als das passiert war, blieb ihr für immer auf die Haut geschrieben.
»Keine Panik«, sagte sie. »Ich weiß doch, wie’s geht. Hab von einem Münzsprecher angerufen, keinen Namen genannt. Die Schwester hat gesagt, sie erlauben Besuch von maximal zehn Minuten für Familienmitglieder. Klingt so, als wäre Maggie noch ziemlich mitgenommen, aber es ist trotzdem den Versuch wert. Wenn sie weiß, wo Tilda sein könnte, hast du sie schon fast gefunden.«
Ein Strudel aus Gefühlen, mit den meisten musste er sich später befassen. Erst mal darauf konzentrieren, dass Kat nicht noch weiter in die Sache hineingeriet. »Wann fahren deine Schwestern zurück?«
»Wenn sie dich genug schikaniert haben.«
»Es wäre gut, wenn du mit ihnen fährst. Ich kann Tilda wesentlich besser helfen, wenn ich mir nicht gleichzeitig Sorgen um dich mache. Dann hole ich dich Donnerstag zum Ultraschalltermin ab.« Welches Argument könnte er noch anbringen? »So sparen sich deine Schwestern auch einen Weg, die haben doch sicher auch viel zu tun.«
»Du musst gar nicht so dick auftragen, ich hatte sowieso vor mitzufahren.«
Irgendwo war da ein Haken, musste einfach einer sein. »Ehrlich?«
»Ich arbeite mit Jarrah. Er hat ein großes Atelier in Resurrection Bay.«
Caleb versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen. »Der Vogel aus Sperrholz?«
»Genau.« Sie schaute ihn an. »Jarrah macht die Mechanik. Er ist ausgebildeter Ingenieur.«
Natürlich war er das. Ausgebildeter Ingenieur, Frohnatur, überhebliches Grinsen.
Zeit, das anzusprechen. »Was läuft da eigentlich zwischen dir und Jarrah?«
Ihr Blick war auf ihn gerichtet, klarblaue Augen im Morgenlicht. Es dauerte einen Moment, bis sie antwortete. »Derzeit sind wir nur Kollegen.« Da war also was. In den langen Monaten, nachdem ihre Ehe implodiert war. Wartende Scheidungspapiere, eingestellte Kommunikation, Kat, die sich von zwei Fehlgeburten und einem wortkargen Arschloch namens Ehemann erholte.
»War es was Ernstes?«, fragte er. Suchte etwas in ihm den Schmerz?
»Es lief ein paar Monate. Dann bist du wieder aufgetaucht.«
Er war sich nicht sicher, wie er das werten sollte, aber es war erst mal ein Gefühl, das auf dem wachsenden Stapel landete, um den er sich später kümmern wollte. »Konntest meiner rauen Schönheit wohl nicht widerstehen?«
Ein Lächeln. »Und deiner Bescheidenheit.« Sie griff zu ihrem Tee und trank, den Blick auf den Garten gerichtet. Wenige Millimeter von ihm entfernt; viel zu weit.