38. Kapitel

Jordans Mitbewohner hieß Ike. Vielleicht auch Mike. Anfang zwanzig, eher stämmig und völlig bekifft. Nach ein paar Anläufen kapierte er endlich, dass Caleb nicht gekommen war, um mit Jordan zu sprechen, sondern mit seinen Freunden.

»Ach so, ja, komm rein«, sagte er. »Ben kannte ihn am besten. Komm mit und …« Er marschierte los und sprach dabei einfach weiter.

Caleb folgte ihm, inständig hoffend, dass Ike auf dem langen Weg durch den Flur nicht vergaß, was sie eigentlich wollten. Das Haus gehörte zu einem der wenigen Straßenzüge in Carlton, die noch nicht saniert waren. Abgewetzter Teppich, abblätternde Wandfarbe, der satte Geruch von Drogen und dreckigem Geschirr. Nicht direkt verwahrlost, aber nah dran. Laut Lovelay hatte Jordan an der Melbourne University nicht weit von hier studiert und von einem »kleinen Polster« gelebt, bereitgestellt von seinem Stiefvater.

Ike brachte Caleb in ein verrauchtes Zimmer. Lila Samtvorhänge vor den Fenstern, dazu zusammengewürfeltes Mobiliar. Ein dröhnender Beat wummerte aus dem Schallplattenspieler. Ein junger Mann mit Sommersprossen lag ausgestreckt auf dem Sofa und rauchte Wasserpfeife. Ike ließ sich neben ihn fallen.

Caleb blieb stehen. Dunkel, laute Musik, zwei Studenten. Zwei sehr bekiffte Studenten. »Könntet ihr die Musik ausstellen?«

Keiner von beiden rührte sich. Also ging Caleb zum Plattenspieler, hob die Nadel von der Platte und schaltete das Deckenlicht an. Die beiden Jungs zuckten zusammen.

»Was zum …?«, fragte Ike.

»Sorry, aber ich muss was sehen können.«

»Nee, Alter, mach das aus. Viel zu grell.«

»Ich bin taub, ich muss zum Lippenlesen euren Mund sehen.« Er wappnete sich. Junge Männer waren für gewöhnlich die schlimmsten: mussten so verzweifelt ihre Männlichkeit demonstrieren, dass eine vermeintliche Schwäche nicht unkommentiert bleiben konnte.

Sie starrten ihn an wie zwei sehr entspannte Eulen.

»Cool«, sagte der Sommersprossige schließlich und reichte ihm die Wasserpfeife.

Caleb schüttelte nur den Kopf. »Bist du Ben?«

Sommersprosse nickte. Seine Augen waren so blutunterlaufen, dass es schmerzhaft aussah.

»Ich bin wegen Jordan hier. Ike hat gesagt, du kanntest ihn gut.«

»Joa.«

»Hast du mal Freunde von ihm getroffen?«

»Nee, Jordy war nicht so gesellig.«

»Hat er mal eine Maggie oder Imogen erwähnt?«

»Nee.« Ein Zögern. Um nachzudenken – oder so was in der Art. »Hast du einen Blindenhund?«

»Nein. Wie war Jordans Stimmung, bevor er gestorben ist?«

»Warum hast du keinen Hund?«

»Weil ich taub bin und nicht blind. Wie war Jordan so drauf in den letzten Wochen.«

»Gut. Ziemlich glücklich. Deshalb glauben wir auch nicht, dass er sich umgebracht hat. Haben wir seinem Vater bei der Beerdigung so gesagt. Stiefvater.« Ein weiteres, langes Zögern. »Keine Ahnung, warum der da war. Jordy hat ihn gehasst.«

»Warum?«

»Hat seine Mutter betrogen. Jordy glaubte, dass sie deshalb gestorben ist. Hatte ’nen Schlaganfall oder so. Ist da nicht drüber hinweggekommen.« Ben schaute zu seinem Kumpel, wollte wohl Bestätigung.

Ike nickte. »Ziemlicher Ödipusscheiß.«

Lovelay weinend und allein in dem leeren Haus. Ein Mann, der wegen seiner eigenen Dummheit allein trauerte. Caleb sollte sich ihn als Warnung an die Wand hängen. Oder als Spiegel.

»Sind seine Sachen noch hier?«

»Ja.« Ben starrte ihn an. »Was ist mit so einem Stock? So einem weißen? Benutzt du so einen?«

»Nur beim Autofahren. Wo ist sein Zimmer?«

»Oben, beim Balkon.«

Jordans Zimmer war das sauberste im Haus. Nur ein Haufen Schmutzwäsche in der einen Ecke und ein fast gemachtes Bett. Keine Computer, aber ein qualitativ hochwertiger Drucker. Im Regal Lehrbücher und eine zerlesene Ausgabe von Unendlicher Spaß , außerdem Hausarbeiten mit ausgezeichneten Noten, aber auch das eine oder andere Ungenügend. Zwischen all dem Unimaterial auch Ausdrucke von Immobilienseiten: nicht die kleinen, familiengeeigneten Häuser, wie Caleb sie immer wieder versuchte, Kat heimlich unterzujubeln, sondern riesige Landsitze. Offenbar reichte das »kleine Polster« von Lovelay für beträchtliche Investitionen. Nicht schlecht für einen Dreiundzwanzigjährigen.

Jordan hatte Lovelay offensichtlich bestrafen wollen, indem er die schmutzige Herkunft seines Vermögens entlarvte. Die Frage war bloß, wer seinen Laptop mitgenommen hatte – ein Familienmitglied oder ein Komplize?

Caleb ging wieder hinunter. Die Studenten reagierten nicht überrascht auf ihn, aber wirklich zuordnen konnten sie ihn wohl auch nicht.

»Wer hat Jordans Laptop mitgenommen?«

Ben saugte an der Wasserpfeife und durchsuchte einen offenbar schwer zugänglichen Teil seines Gedächtnisses. »So ein Typ.«

»Massiger Typ? Viele Muckis?«

»Nee.«

»Beschreib ihn mal.«

»Ähm.« Er schaute seinen Kumpel an, suchte Unterstützung, bekam keine.

Verdammt, Mann. War es echt zu viel verlangt, mal eine simple Beschreibung zu bekommen? »Groß? Klein? Jung? Alt?«

Ben zuckte zurück, blinzelte verwirrt.

Okay, vielleicht ein bisschen viel Druck hinter den Wörtern. Caleb setzte neu an, hoffte, dass er diesmal nicht untertrieb und das Flüstern anfing. »Kannst du dich an irgendwas erinnern? Hat er was gesagt? Was hat er angehabt?«

»Oh, eine Baseballkappe. Sehr tief gezogen. Ein ziemlicher Arsch, ehrlich gesagt.«

Endlich etwas Interessantes. »Welche Farbe hatte sie?«

»Blau.« Ben blinzelte ihn an. »Blau ist ein komisches Wort. Ist dir das schon mal aufgefallen? Blaaaaaaaaauuuuuuu.«

 

Er ging in die Unibibliothek, um das dortige WLAN zu nutzen. Sie müsste längst geschlossen sein, war aber noch bevölkert von Studierenden, die Mitschriften und Speichel austauschten.

Er hatte das leise Gefühl, kurz vorm Durchbruch zu sein. Wenn er Tilda heute noch fand, konnte sie bei ihrer Mutter schlafen.

Das Uni-WLAN erforderte ein spezielles Log-in, aber Big_Dick_Boy_251 hatte einen ungeschützten Hotspot auf dem Handy. Wieso trug er nicht gleich ein Schild mit der Aufschrift »Ich bin ein unsicherer Mensch« bei sich? Caleb wählte sich bei ihm ein und unterdrückte den Impuls, den Nutzernamen in Alles_wird_gut zu ändern.

Ein verpasster Videoanruf von Kat und eine weitergeleitete SMS.

Sicher angekommen. Ja, du hast einen Anruf verpasst, aber mach dir nicht gleich Sorgen, hier ist alles in Ordnung. Kein Rückruf nötig. xx

Sie kannte ihn zu gut. Trotzdem würde er sie anrufen, denn ein Videoanruf bedeutete, dass sie ihm etwas persönlich sagen wollte. Nach wenigen Sekunden ging sie dran. Sie saß auf Georgies Couch und sah müde, aber gut aus. Und sie lächelte. »Du bist eine halbe Stunde eher dran, als ich vorhergesagt hätte.«

»Das Zelic-Versprechen – oft zu früh, nie verkehrt. Alles okay?«

»Ja, wir haben unterwegs eine Lösung für die Krise beim sozialen Wohnungsbau gefunden. Jetzt gehen wir die Lohnunterschiede an. Wie läuft es mit Tilda?« Sie gebärdete etwas zu schnell mit leicht zuckenden Händen.

»Ich habe ein paar gute Hinweise. Und bei dir? Alles okay?«

»Ja, super. Mum und Dad sind verreist. Die ganze Woche. Kannst du dir das vorstellen? Ich weiß gar nicht, wann die zuletzt Urlaub gemacht haben.« Vermeidung war neu bei Kat, aber nicht zu übersehen: abgewendeter Blick, wenn sie an Babyläden vorbeikamen, Themenwechsel, sobald jemand auf ihre Müdigkeit oder ihren Geburtstermin zu sprechen kam.

»Kat«, sagte er lautsprachlich. »Was ist los?«

»Nichts. Wirklich. Nur dass ich … Ich spüre, dass das Baby sich bewegt.«

»Oh.«

Während der zweiten Schwangerschaft hatte sie auch Kindsbewegungen gespürt, hatte ihm völlig aufgedreht davon erzählt, ihm das Gefühl atemlos bis ins kleinste Detail beschrieben.

Ihre blauen Augen schimmerten, als sie fortfuhr: »Ich hatte die letzten Tage schon so ein Gefühl, aber vorhin, im Auto … lag wohl daran, wie ich saß.« Nun kullerten die Tränen. »Ich weiß nicht genau, wie es mir damit geht.«

»Ja.« Sag was. Gebärde was. Was Nettes, Beruhigendes, das keine Angst, aber auch keine falschen Hoffnungen macht. Dazu taugte keine Sprache der Welt. Er presste die Finger gegen die Lippen, dann gegen das Display. Kat tat es ihm gleich.

So blieben sie. Ein Augenblick perfekter Ruhe, dann ließ sie die Hand sinken. »Ich will dich nicht aufhalten, wollte dir nur Bescheid geben. Gibst du durch, wenn du Tilda gefunden hast? Jederzeit.«

»Mach ich.«

Nachdem sie den Anruf beendet hatte, blieb er reglos sitzen. Fünf ganze Tage, bis er sie wiedersah. Viel zu lang – immer zu lang, ihre Abwesenheit wie ein Loch in ihm. Sobald das hier erledigt war, würde er sich freinehmen und nach Resurrection Bay fahren. Dann könnten sie die Abende zusammen verbringen, vielleicht sogar die Nächte. Endlich diesen Schwebezustand beenden und darüber sprechen, wieder zusammenzuziehen. Allein der Gedanke brachte eine unendliche Leichtigkeit mit sich.

Er schob ihn sorgfältig beiseite und machte sich wieder an die Arbeit. Einer der Entführer musste Jordan persönlich gekannt haben, wenn er von seiner Wut gewusst und ihn so hatte manipulieren können. Irgendwo musste es Hinweise auf ihn geben.

Jordans Profile in den sozialen Medien waren geschützt, aber ein paar alte Schulfreunde hatten ihn nach seinem Tod öffentlich auf Fotos markiert. Ein mürrischer und sonderbarer Teenie im marineblauen Blazer mit gestreifter Krawatte einer der teureren Privatschulen. Dazwischen mal eins von ihm mit sechzehn oder siebzehn, auf dem er lächelt. Das Footy-Team, dreckig und glücklich, offenbar nach einem Sieg. Jordans Arm um die Schultern eines drahtigen Jungen.

Das lange Gesicht und die lange Nase erkannte er auch ohne Badekappe und getönte Schwimmbrille – Fawkes, der Hacker.

Jordan und Fawkes machten gemeinsame Sache.

Lovelay war gar nicht das Ziel gewesen, sondern nur ein Bonus. Es ging einzig darum, Maggies Kunden aufzudecken. Kein Wunder, dass er so sehr an Maggies Unterlagen interessiert war. Seine Behauptung, den Chiffren Namen zuordnen zu können, war keine Prahlerei gewesen. Tilda musste die Auflösung kennen oder zumindest wissen, wo sie zu finden war. Himmel! Keine Organisation oder kriminelle Vereinigung, nur ein Hacker Anfang zwanzig, der es mit der Welt aufnahm – und Tilda dafür benutzte. Was für ein dummer, egoistischer Arsch. Hollywood und seine Leute waren sicher kurz davor, seinen Namen herauszufinden; sobald es ihnen gelang, würden sie die Tür zu seinem Versteck eintreten und ihn und Tilda abschlachten.

Caleb stand auf, setzte sich aber gleich wieder. Wo zur Hölle sollte er denn mit der Suche ansetzen? Selbst wenn er herausfand, wo Fawkes steckte, konnte er unmöglich allein das Gebäude stürmen. Keine Polizei, keine Frankie, kein Tedesco.

Imogen. Nicht gerade seine erste Wahl, aber sie war furchtlos und engagiert. Und sie hatte eine Pistole.