42. Kapitel

Sie erreichten Resurrection Bay, als die Morgendämmerung die Nacht verdrängte. Niemand war um diese Uhrzeit an einem Sonntag unterwegs, vor ihnen nur die leere Straße und Häuser, die sich an die blaugraue Küste schmiegten. Er hatte es fast geschafft, Georgie wohnte hier gleich um die Ecke. Ein Computer, ein Bett, Kat. Ein Ort, an dem Tilda sicher war und sich jemand um sie kümmern konnte, während er die letzten Puzzleteile zusammenfügte.

Nun war er schon über vierundzwanzig Stunden wach und kein Ende in Sicht. In seinem Bein hämmerte es, und eigentlich hielten ihn nur Adrenalin und das Koffein eines Billigkaffees von unterwegs über Wasser. Trotzdem war er erstaunlich gelassen. Ein kurzer Moment der Schwäche, als er auf allen vieren kotzend am Straßenrand im Gras zitterte, aber dann hatte er sich zusammengerissen und die nächsten neunzig Minuten hinter sich gebracht. Vorher noch sein Bein notdürftig mit Klebeband verarztet, das er auf der Rückbank gefunden hatte. Gleichzeitig ein leichtes Gefühl von Übelkeit beim Gedanken, dass Fawkes es vielleicht genutzt hatte, um Tilda zu fesseln. Die Schnitte an Armen und Rücken durch die Glassplitter mussten warten, bis er etwas Geeigneteres auftrieb – Pflaster zum Beispiel.

Als er langsamer wurde, um die Abfahrt zu nehmen, wachte Tilda auf. Saß plötzlich aufrecht auf der Rückbank und schaute sich um wie ein gerupftes Erdmännchen. Caleb hatte ein paar Zweige und Blätter aus ihren Haaren gefischt, nachdem er sie auf die Rückbank umgebettet hatte, aber es war noch eine ganze Menge darin verfangen.

Er hielt sofort am Seitenstreifen und drehte sich zu ihr um. »Hallo, Turnip. Wie geht es dir? Alles okay?«

Ein Nicken, dann folgte ein bisschen mehr Erdmännchenmanöver. Ihr Blick wanderte von der zerfetzten Kopfstütze über die fehlende Windschutzscheibe zu seiner zerrissenen Kleidung. Sie wirkte noch immer verschlafen, aber viel klarer als am Abend.

Sie machte zwei Fäuste und tippte die Daumen gegeneinander. Ein Stich in der Brust: Er war noch nicht bereit, ihr von Frankie zu erzählen. Würde es nie sein. »Frankie ist nicht hier. Aber sie hat überall nach dir gesucht. Sie hat sich große Sorgen gemacht.«

»Hast …?«

»Moment.« Er stieg aus und setzte sich zu ihr. »Entschuldige, Tilda, aber ich habe gerade keine Hörgeräte. Du musst sehr langsam sprechen.«

»Hast du mich gesucht und befreit?«

»Ja, habe ich. Kannst du dich nicht erinnern?«

»Nein.« Sie begutachtete ihn. »Du siehst schlimm aus.«

»Ich weiß.«

»Fahren wir jetzt nach Hause?«

»Bald. Aber erst fahren wir zu einer Freundin, bis wir wirklich in Sicherheit sind. Meine Frau ist auch da – Kat. Sie wird dir helfen, deine Mutter anzurufen, sie ist gerade dabei, die Nummer rauszusuchen.«

Hoffentlich. Er hatte Kat vor einer halben Stunde eine SMS von einem Münzsprecher geschickt. Normalerweise war sie früh wach, aber vielleicht hatte sie noch nicht auf ihr Handy geschaut.

Tilda zog die Augenbrauen zusammen. »Zack hat gesagt, ich darf nach Hause, wenn ich ihm das Gedächtnisspiel beigebracht habe, aber dann hat er mich nicht gehen lassen.«

Es kostete ihn große Mühe, sich seine Wut nicht anmerken zu lassen. »Ich bin deswegen sehr sauer auf Zack, aber den sind wir jetzt los, und er wird dich nie wieder belästigen. Ich verspreche dir, ich bringe dich, so schnell ich kann, nach Hause. Ich muss nur vorher dafür sorgen, dass dich nie wieder jemand einfach so mitnehmen kann, okay?«

Tilda dachte nach. »Okay.«

Er zögerte. War jetzt der richtige Moment, sie zu fragen? Wo sie noch so entspannt war? »Wie geht denn das Gedächtnisspiel, das du Zack beigebracht hast? Ist es schwer?«

»Nein, ganz einfach. Man muss sich nur eine Geschichte für die Buchstaben ausdenken.« Dann schaute sie ihn zweifelnd an. »Vielleicht ist es für dich nicht ganz so einfach. Mum musste immer sehr lange üben, weil ihr Gehirn schon älter ist als meins.«

»Ja, da brauche ich sicher deine Hilfe. Welche Geschichte hast du Zack beigebracht? Mit der könnten wir ja anfangen.«

»Sam … einkaufen … und …etz.«

Zu schwierig ohne die Hörgeräte, er hätte warten sollen, bis er Papier und Stift hatte. »Kannst du das noch mal wiederholen? Ganz langsam?«

»Sam ging einkaufen. Und kaufte. Achtundsiebzig Teddybären. Und ein goldenes Netz.«

Er wiederholte alles und setzte dabei die Anfangsbuchstaben aneinander.

»SGEUK78TBUEGN?«

»Ja, ich kann dich später noch mal abfragen, wenn du willst.«

»Das wäre super, danke. Was macht deine Mutter, wenn sie sich die Buchstaben merken kann?«

»Tippt sie in den Computer.« Ein Stirnrunzeln. »Können wir jetzt weiterfahren?«

Er nickte. »Ja, wir sind auch fast da.«

 

Georgie besaß ein altes Blausteinhäuschen am Stadtrand. Dazu gehörte ein verwilderter Garten mit Blumen, Gemüse und Hühnern. Ein verbeulter Volvo stand in der Auffahrt. Kat kam herausgelaufen, als er den Wagen stotternd zum Stehen brachte. Statt der sonst üblichen Jeans trug sie eine schwarze Leggings, ihr Bauch zeichnete sich unter dem langen, roten Oberteil ab. Sie zuckte zurück, als er sich aus dem Wagen quälte. Ihr Blick blieb an der notdürftig getapten Hose hängen. Ihre Hände flogen nur so. »Alles okay?«

»Ja, alles okay, ehrlich.« Er schloss sie in die Arme und atmete ihre Schlafwärme ein. »Hast du Maggie erreicht?«

»Ja, sie ist wieder zu Hause. War froh über die Nachricht von Fawkes’ Tod und will dringend mit Tilda sprechen.«

»Kann sein, dass ihre Leitung verwanzt ist, hast du …?«

»Meine Nummer unterdrückt und einen falschen Namen genannt? Ja. Mir ist sogar ›herausgerutscht‹, dass wir in Sydney sind.«

Selbstverständlich – Kat wusste nur zu gut, welchen Schaden Leute anrichten konnten. Sie drückte seinen Arm und schaute zu Tilda, die ausgestiegen war und neugierig ihr Gebärdengespräch verfolgte. »Hallo, Tilda.« Sie ging vor ihr in die Hocke. »Ich bin Kat. Cal hat erzählt, du hast ein paar aufregende Tage hinter dir.«

Tilda schaute sie an, ohne etwas zu sagen.

»Möchtest du reinkommen und deine Mutter anrufen?«

»Jetzt gleich?«

»Jetzt gleich.«

Tilda warf einen Blick zum Haus und nahm dann Calebs Hand. Zwei Jungs in Schlafanzügen standen in der Tür, halb aufmerksam, halb rangelnd: Georgies Sohn und der Nachbarsjunge. Sieben Jahre alt und mit einer Energie, die ganze Vororte versorgen könnte. Ihre Tochter war vermutlich drinnen und plante einen Überfall.

Tilda wandte sich an Kat. »Kann Cal mitkommen?«

»Natürlich. Der braucht dringend eine Dusche – sieht aus, als hätte er sich im Dreck gewälzt.«

»Das Auto ist auch in einem schlimmen Zustand.« Sie nahm Kats ausgestreckte Hand, dann gingen sie hinein.

 

Tilda saß neben ihm auf dem Sofa, während sie mit Maggie sprach. Anfangs hatte sie geweint, sich aber nach und nach beruhigt. Das Wohnzimmer hatte auch eine sehr entspannende Wirkung: zusammengewürfelte Sessel, bunte Teppiche, außerdem prasselte ein Feuer im kleinen Kamin. Man könnte fast einschlafen. Kopf zurückgelehnt, einen Arm um Tilda, das verletzte Bein hochgelegt. In seinem Oberschenkel pochte es heftig, aber das Schmerzmittel, das Georgie ihm gegeben hatte, entfaltete langsam seine Wirkung.

SGEUK78TBUEGN. Was zur Hölle bedeutete das? Ihn beschlich das leise Gefühl, längst eine Lösung zu haben, wenn sein Hirn sich nicht langsam zerfasern würde wie ein … Wie ein was? Ein Wollknäuel? Würde sich ein Wollknäuel denn überhaupt zerfasern?

Eine Berührung am Arm, woraufhin er hochfuhr. Kat saß neben ihm, zwei Teller in den Händen: farblich variierend aufgefächerte Käse- und Apfelstücke. Die Mühe hatte sich unmöglich jemand seinetwegen gemacht. Tilda unterbrach sich kurz, um einen Teller entgegenzunehmen und »vielen, vielen Dank« zu sagen, dann führte sie ihre Unterhaltung fort. Sie zählte gerade auf, was sie in den letzten Tagen gegessen hatte – Müsli und Schokoriegel. Ihrer Miene nach zu urteilen, schien sie das gleichermaßen schockierend wie gut zu finden. Immerhin hatte Fawkes sie nicht unnötig verängstigt. Die Entführung würde sie noch eine Weile beschäftigen, aber traumatisiert war sie dadurch hoffentlich nicht.

Caleb balancierte den Teller auf dem Schoß, damit er einen Arm zum Gebärden frei hatte. »Danke. Eindrucksvolle Präsentation.«

»Hatte das Gefühl, ich muss mal eine Schippe drauflegen. Georgie macht Waffeln, so kann sie die Kids von Tilda fernhalten.« Ihr Blick wanderte über sein Gesicht, emotionale Inventur. So ging das, seit er ihr in Kurzform von den Ereignissen der letzten Nacht berichtet hatte. »Was machst du, sobald du die Namen hast?«, fragte sie.

Sobald, nicht wenn. Eine Frau mit so viel Vertrauen in seine Fähigkeiten musste er einfach lieben.

»Zur Presse gehen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das dauert zu lange, die Rechtsabteilungen werden ewig darauf rumsitzen. Gib die Info an Fawkes’ Hackerkumpel – die können das sofort verbreiten. Sammi wird dir helfen, sie zu finden.«

Er blinzelte sie an, überwältigt von ihrem Scharfsinn. »Hab ich dir schon mal gesagt, wie klug du bist?«

»Heute jedenfalls noch nicht.«

»Du bist sehr klug. Hinreißend dazu. Würdest du mit mir schlafen?« Die Sicherung in seinem Hirn schien durchgebrannt, interessanter Nebeneffekt des Schlafmangels.

Kat tätschelte ihm das Bein. »Ich bewundere dein Selbstvertrauen, aber das Einzige, was du in der Horizontalen tun wirst, ist erst mal schlafen.« Eine Analyse oder eine Anweisung? So oder so die Wahrheit.

Tilda rückte näher zu ihm, eigentlich eher zu seinem Teller, von dem sie sich bediente. Gerade ließ sie sich über Fawkes’ Getränkeangebot aus: Er war wohl kein Fan von Cola, dafür aber von Passiona.

Kat folgte Calebs Blick, gebärdete dann mit kleinen Bewegungen: »Kommt Maggie dafür ins Gefängnis?«

»Vielleicht nicht. Sie ist ziemlich gerissen.« Schwer zu sagen, ob er damit sich selbst oder Kat überzeugen wollte. Schon komisch, dass sie beide hofften, dass Maggie davonkam.

Er legte den Kopf ab. Warm hier drin. Kat und Tilda lehnten sich an ihn. Der Geruch von Waffeln und Kaffee, Holzfeuer. Sie sollten sich ein Haus mit Kamin suchen. Mit vielen Zimmern. Eine riesige Bruchbude für ihre Familie, wie auch immer sie letzten Endes zustande käme. Adoption, Pflegekinder, Nichten und Neffen; es gab so viele Möglichkeiten.

Kat berührte ihn am Arm; er hob den Kopf. »Entschuldige, wie bitte?«

»Leg dich hin. Ich hab Maggie gesagt, du fährst Tilda von Sydney zurück.«

Eine zwölfstündige Fahrt, mehr als genug Zeit, sich den nächsten Schritt zu überlegen. Kat war genial. »Habe ich dir schon mal gesagt, wie klug du bist?«

»In den letzten neunzig Sekunden noch nicht.« Sie legte den Arm um ihn, und er schmiegte sich an sie. Vielleicht die Augen zumachen. Nur für eine Minute.