45. Kapitel

Sie trafen sich wieder auf dem Queen Victoria Market. Diesmal beim Gemüsestand, Caleb mit Krücke, Henry Collins mit Einkaufskorb. Bisher lagen nur zwei Kartoffeln darin. Der Tag war verregnet, der Betonweg glitschig durch Schlamm und faulige Blätter, trotzdem waren viele Menschen unterwegs, die Mäntel bis unters Kinn zugeknöpft, Atemwolken stiegen zum gewölbten Stahldach hinauf.

Der Therapeut befummelte gerade die Avocados, drückte jede einzelne auf seiner Suche nach der reifsten. Dann schaute er zu Caleb, sein goldblondes Haar wurde ihm über die Brauen geweht. »Sie haben noch gar nichts vom Ultraschall erzählt.«

»Alles in Ordnung.«

Das hatte zumindest die Ärztin gesagt. Caleb hatte nicht hingucken können, im Gegensatz zu Kat, die es zum ersten Mal gewagt hatte. Sie hatte seine Hand genommen und gelächelt und geweint und sich ein Ultraschallbild mitgeben lassen, um es ihrer Familie zu zeigen.

Ein freundliches Lächeln. »Das sind doch gute Nachrichten, Caleb. Es ist völlig in Ordnung, Angst zu haben. Genauso dürfen Sie aber auch glückliche Gefühle zulassen.«

Er nickte. Tedesco hatte während ihrer bisher einzigen, leicht steifen Unterhaltung Ähnliches gesagt.

Henry fuhr fort: »Sie haben auch noch nichts vom Abschlussbericht erzählt.«

»Die Formulierung ist schon ein bisschen passiv-aggressiv für einen Therapeuten, oder?«

Henry wartete ab, seine Miene offen und interessiert. Dies war ihre vierte Sitzung in den zwei Wochen seit Tildas Entführung, aber noch hatte der Therapeut die Geduld nicht verloren. Der Himmel wusste, warum. Calebs war nämlich längst aufgebraucht. »Tut mir leid, da gibt es nicht viel zu erzählen. Quinn hat eine Menge Menschen ermordet, und jetzt ist sie selbst tot.«

So ganz konnte er das immer noch nicht glauben. Dass die kluge, witzige Quinn hinter all den Morden steckte. Der Informant, Jordan, war ihr erstes Opfer gewesen. Eine brutale Entscheidung, aber nötig, um ihre panischen Kunden aus der Schusslinie zu bringen. Nachdem Maggie überfallen worden war, musste sie völlig durchgedreht sein, gedacht haben, sie sei die Nächste, weshalb sie zu ihrer Mutter floh. An den Ort, den sie mit so viel Anstrengung hinter sich gelassen hatte. Aber selbst als Frankie und er bei ihr aufgekreuzt waren und ihr von Tildas Entführung erzählt hatten, war sie völlig geistesgegenwärtig vorgegangen. Hatte sich von ihrem Killer distanziert und beschlossen, Tilda zu töten und Zeit zu gewinnen, indem sie dafür sorgte, dass sie Delaney verdächtigten. Der schwitzige Anwalt war der perfekte Sündenbock gewesen: ein Neuling ohne nennenswerte Kontakte, die ihn geschützt hätten, aber auch ohne eine klare Verbindung zu Quinn. Sein spontaner, wenn auch von Schuldgefühlen getriebener Familienausflug hatte ihm womöglich das Leben gerettet.

Henry war zum Blumenkohl weitergewandert. Caleb folgte ihm, vorsichtig mit seiner Krücke auf dem matschigen Boden. Kurz musste er daran denken, dass sich der erste Friedhof der Stadt zu ihren Füßen befand. Niemand war umgebettet, über die Toten einfach Beton gegossen worden. Frühe Siedler, die Unfällen oder Krankheiten zum Opfer gefallen waren, und zahllose Wurundjeri, abgeschlachtet oder an eingeschleppten Krankheit verstorben. Kinder. Unmengen Kinder. Die Gebeine von neuntausend Menschen verrotteten im Lehm.

Henry beobachtete ihn, einen robusten Blumenkohlkopf in den Händen. Kein Gemüsezuwachs im Korb. »Worüber denken Sie nach?«

»Darüber, dass wir auf einem Friedhof stehen. Kaufen Sie den, oder sind wir tatsächlich für zwei Kartoffeln hergekommen?«

Henry begutachtete den Blumenkohl und schaute nicht auf, während er die nächste Frage stellte: »Haben Sie Selbstmordgedanken?«

»Nein.«

Der Therapeut drehte den Blumenkohl um und begutachtete die Unterseite. »Sicher?«

»Glauben Sie, dass ich so was vergessen würde?«

»Wie würden Sie Ihre derzeitige Gefühlslage beschreiben?«

Beraubt, ziellos, leer. »Wütend.«

»Auf Frankie?«

»Ja.«

»Auf Sie selbst?«

»Nein, mir geht es super. Ich habe nur richtige Entscheidungen getroffen, und alles ist gut gegangen.«

Henry ließ den Blumenkohl sinken. Direkter Blickkontakt, uneingeschränkte Aufmerksamkeit. »Eine ganze Menge Beteiligte haben schreckliche Dinge getan – Frankie, der Hacker, Tildas Mutter. Fühlen Sie sich für deren Entscheidungen verantwortlich?«

Das wieder. Um diese Sitzung zu bitten, war ein Fehler gewesen. Er war zu müde, um mit einem Henry klarzukommen, der auf seinem Hirn rumkaute. Wäre er mal besser im Büro geblieben und hätte sich weiter mit stupidem Papierkram befasst.

Der Therapeut öffnete gerade den Mund für den nächsten Bissen.

Nein. Er konnte gerade einfach nicht. »Tut mir leid«, sagte Caleb. »Aber ich muss jetzt gehen.«

Dann bahnte er sich langsam seinen Weg durch die drängelnden, redenden und ihre Körbe vollstopfenden Menschen Richtung Straße. An der Bordsteinkante blieb er stehen. Ein Strudel aus grauem Wasser hatte sich im Rinnstein gebildet und war über die Betonufer getreten. Ein dumpfer Gestank, der Dreck und das Verderben wurde aus der Stadt ins Meer gespült. Caleb verharrte einen Augenblick, dann trat er mitten hinein und überquerte die Straße.