Ilias
Ilias riss erschrocken die Augen auf, als ihm jemand einen kalten Schwall Wasser ins Gesicht kippte. Innerhalb von Sekunden war er aufgesprungen und an die Gitterstäbe geprescht, um Faromir anzuknurren, der ihn mit einem schmierigen Grinsen bedachte.
»Gut geschlafen, Prinz ?«
»Das wirst du bitter bereuen, das schwöre ich dir.« Einige der Wassertropfen lösten sich aus seinen Haarspitzen und fielen geräuschlos zu Boden.
Faromir lachte heiser auf. »Ihr droht mir, o mächtiger Kronprinz?« Er brachte sein Gesicht so nah an das von Ilias heran, dass kaum mehr ein Blatt zwischen sie passen würde. »Würde mich ja interessieren, wie Ihr das von da drin aus anstellen wollt.«
Ilias’ Auge zuckte vor Wut. Nein, von hier drin aus würde er gar nichts anstellen können. Er bemerkte, dass Faromir darauf bedacht war, das Elfeneisen der Zellenwand nicht zu berühren. Und solange er damit nicht in Kontakt kam, wäre er Ilias jederzeit überlegen.
»Setzt Ihr Eure Hoffnungen in Erthyra?«, höhnte der bullige Kerkermeister.
Ein Schauder erfasste Ilias. War Kian tatsächlich etwas zugestoßen oder worauf wollte er hinaus?
Faromir ließ erneut seine gelben Zähne aufblitzen, als würde er seine Gedanken lesen. »Keine Sorge, werter Prinz, dem Lord geht es gut. Er feiert seit drei Tagen und drei Nächten die Hochzeit seiner Schwester. Aber ich fürchte, er verschwendet keinen Gedanken an Euch.«
Das traf Ilias unerwartet hart. Er taumelte einen Schritt zurück und verengte die Augen. »Ihr lügt.«
Faromir zuckte die Achseln und grinste noch breiter. »Er soll wohl die Gesellschaft von Pyria Attor genießen. Eindeutig hübscher als Ihr. Auch wenn ich Eure traurigen Augen wirklich mag«, säuselte er.
Kian und Pyria? Sie hatten sich im Streit getrennt, nachdem sie ihn mit einem anderen betrogen hatte. Doch dann fiel es Ilias wie Schuppen von den Augen. Er erinnerte sich an den Tag, als Kians Vater im Palast aufgetaucht war. Pyria war schwanger. Und Kian wollte sie und das Kind sicher nicht in Gefahr bringen. Vielleicht hatte Pertheas sogar eine Drohung ausgesprochen. Er traute seinem Vater alles zu, auch den Mord an einem Ungeborenen. Es wäre nicht das erste Mal …
»Tja, dann sitzt Ihr wohl auf ewig hier fest«, sprach Faromir die Worte aus, die Ilias dachte. »Aber keine Sorge«, er zwinkerte ihm zu, »wir beide werden noch eine Menge Spaß hier unten haben, mein Prinz. « Grinsend wandte er sich um und verschwand in der Dunkelheit. Sein lautes Lachen hallte lange in Ilias’ Gedanken nach.
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Luana
»Lu!«
Luana hob müde den Kopf, um eine auf und ab hüpfende Kaylin am Hafen auszumachen. Auch wenn sie gestern nach all den Ereignissen erschöpft gewesen war, hatte sie in der Nacht kaum schlafen können. Aron war neben ihr immer wieder schreiend aus Albträumen aufgewacht, und sie hätte Elora am liebsten dafür erwürgt, dass sie ihn ihrem Höllenfeuer ausgesetzt hatte. Luana schüttelte den Gedanken hastig ab und lächelte breit, bevor sie Aron stehen ließ und auf ihre Schwester zurannte.
»Was machst du hier?«, rief sie Kaylin entgegen. Anstatt ihr zu antworten, fiel diese ihr so heftig um den Hals, dass sie fast umkippte. Wärme durchströmte sie, und sie schloss ihre Arme ebenfalls fest um den zierlichen Körper ihrer jüngeren Schwester.
»Wir begleiten euch.« Selphie trat hinter ihr hervor und lächelte schüchtern.
»Was soll das heißen, ihr begleitet uns?« Luana löste sich aus der Umarmung und betrachtete Kaylin skeptisch. Sollten Pertheas und seine Armee in dem Moment aus dem Riss treten, in dem sie noch vor Ort waren, könnte ihr Ausflug gefährlich enden. Gar tödlich.
»Na, dass wir mitkommen.« Kaylin zuckte mit den Achseln, und Selphie nickte, um die Worte ihrer Gefährtin zu unterstreichen. »Du wirst danach nie wieder nach Erloven zurückkehren, das weiß ich, und … Ich will einfach die Zeit mit meiner Schwester nutzen, die mir bleibt.«
Luana strich Kaylin liebevoll über den Oberarm. »Aber du kannst mich doch jederzeit besuchen, Kay.«
»Du weißt selbst, dass Großmutter dahinterkommen würde. Ich fühle mich nicht reif genug, ihr und Erloven den Rücken zu kehren. Ich bin nicht so stark wie du.«
Mit jedem weiteren Wort sackte Luanas Magen weiter ab. »Ich bin nicht stark«, sagte sie. »Nur egoistisch.«
Kaylin lachte. »Umso besser, dass ich mitkomme, um auf dich aufzupassen. Nichts für ungut, Aron«, sagte sie dann und blickte zu Aron, der inzwischen zu ihnen aufgeschlossen hatte. Luana war nicht entgangen, dass er noch ganz leicht humpelte, aber sonst sah man ihm nichts mehr von den Qualen an, die er hatte durchstehen müssen.
Aron erwiderte das Lächeln. »Von mir lässt sie sich ohnehin nicht beschützen. Vielleicht hast du mehr Glück.«
Luana verdrehte gespielt entnervt die Augen.
»Wir heben gleich ab!«, rief einer der Männer von der Besatzung des fliegenden Schiffes. Bei genauerem Hinsehen erkannte Luana ihn. Das war der Mann mit der Schlangenrune, dem sie bereits auf ihrer ersten Fahrt hierher begegnet war. Der, der ihr später in der Bibliothek geholfen hatte.
»Ich kannte Euren Vater.«
Mit einem Mal beschleunigte sich ihr Puls. Möglicherweise würde er ihr sagen können, worauf Elora gestern angespielt hatte.
»Kommt«, rief sie Aron, Kaylin und Selphie zu und ging voraus. Die anderen folgten ihr und der Hohe Rat hatte sich auch bereits an Deck eingefunden.
»Kennst du ihn?«, fragte Kaylin, die bemerkt zu haben schien, dass sie immer wieder zu dem kleinen, rundlichen Mann mit der Glatze und der auffälligen Rune herübersah.
»Das ist der Mann, der mir geholfen hat, als ich in die Große Bibliothek eingebrochen bin«, flüsterte sie.
»Der, der Vater kannte?« Kaylins Augen wurden groß, als sie sich daran erinnerte, was Luana ihr erzählt hatte.
Luana nickte. »Und Großmutter hat gestern etwas gesagt.« Sie warf einen flüchtigen Blick zu Elora und dem Rat, doch sie saßen weit genug abseits. »Als sie das mit Aron und mir und unserem Seelenbund herausgefunden hat.«
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass das wahr ist«, quiekte Kaylin und griff nach Arons Hand. »Mutter hat davon berichtet. Ich bin so glücklich. Ich habe stets darauf vertraut, dass Luana weiß, was sie tut. Sie hat auf ihr Herz gehört. Auf ihre Seele. Eure Seelen. Das ist so aufregend!«
»Kay!«, mahnte Luana, bevor Aron etwas erwidern konnte. »Ich wollte gerade etwas erzählen!«
»Ja, entschuldige«, gluckste Kaylin. »Wovon hat Großmutter gesprochen? Sie kann viel reden, wenn der Tag lang ist.«
Luana überhörte die Bemerkung und rückte ein Stück näher an die anderen drei heran. »Sie sagte: Ich hätte es mir denken müssen. Der Apfel fällt schließlich nicht weit vom Stamm. Und dann sprach sie von meinen verseuchten Genen. «
»Und weiter?«
»Nichts. Ich habe gefragt, ob sie von Vater spricht, und da ist sie ausgerastet. Sie hat Aron verletzt.«
»O nein«, keuchten Kaylin und Selphie fast zeitgleich. »Geht es dir gut?«
Aron nickte. »Ja, es ist alles verheilt. Luana ist gut in dem, was sie tut.« Er lief rot an, als Kaylin die Augenbrauen hob und kicherte. »Sie ist eine großartige Heilerin, meine ich.«
»Können wir zum eigentlichen Thema zurückkehren?«, flüsterte Luana eindringlich. »Ich muss mich mit diesem Mann unterhalten. Ihr sorgt dafür, dass der Rat es nicht mitbekommt. Vor allem nicht die Fenhorns«, ergänzte sie mit einem finsteren Blick in Richtung ihrer Familie.
»Ich komme mit«, erwiderte Aron. »Schließlich geht es hierbei auch um mich. Um unseren Bund.«
Luana öffnete erst den Mund, um etwas zu sagen, dann schloss sie ihn wieder und nickte stattdessen. »Kay, Selph, ich zähle auf euch.«
Die zwei nickten, ehe Luana und Aron zu dem Mann mit der Schlangenrune herübergingen.
»Hallo!« Luana und streckte ihm die Hand entgegen, als sie in Reichweite kamen.
Er beäugte sie fragend, bevor er nach ihr griff und den Gruß erwiderte. »Wie komme ich zu der Ehre, Lady Luana?«
»Ich hatte keine Gelegenheit, mich bei Euch zu bedanken für … Ihr wisst schon.«
»Nicht der Rede wert. Das habe ich gern getan.«
»Ihr habt da etwas erzählt über … über meinen Vater. Dass Ihr ihn kanntet.« Als der Mann von ihr zu Aron sah, fügte sie hastig hinzu: »Entschuldigt. Das ist mein Seelengefährte Aron. Aron Bronwen.«
»Schön, Euch kennenzulernen. Ich bin sicher, Lumis wäre stolz darauf, Euch an der Seite seiner Tochter zu wissen.«
Ohne dass Luana es verhindern konnte, füllten sich beim Klang seines Namens ihre Augen mit Tränen. »Woher kanntet Ihr ihn?«
»Wir sind zusammen aufgewachsen. Unsere Wege trennten sich, als er Eure Mutter traf.« Er hielt inne und unbändige Trauer trat in sein Gesicht.
»Aber ich habe nie aufgehört, über ihn zu wachen.«
»Wie ist Euer Name?«, fragte Aron, als er merkte, dass Luana gerade nicht sprechen konnte.
»Wo sind nur meine Manieren?« Er versuchte sich an einem schwachen Lächeln, während seine Augen noch immer von einem Schmerz erzählten, der ihn bereits lange zu begleiten schien. »Ich bin Haryk Dain. Wassermagier.«
»Nur Wasser?«, platzte es aus Luana heraus. Haryk sah für einen Elfen schon alt aus, und dass er nur eine Affinität besaß, musste bedeuten, dass er seine Seele nie mit der von jemand anderem verbunden hatte. Einige wenige Elfen, wie auch Luana, wurden bereits mit zwei Affinitäten geboren und erhielten in seltenen Fällen sogar eine dritte, wenn sie den Seelenbund mit jemandem eingingen. Mit einem Elfen. Nicht mit einem Menschen, wie sie es getan hatte.
»Ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt, Lady Luana.« Er lächelte, was die Furchen in seinem Gesicht vertiefte. »Aber ja, nur Wasser. Der Mann, mit dem ich meine Seele verbinden wollte, hat sich für jemand anderen entschieden.«
»Für meine Mutter«, wisperte Luana einer inneren Eingebung folgend.
Haryk nickte nur sehr langsam. »Lady Ysanoa ist eine gute Frau. Sie hat ihn akzeptiert, wie er war. Nur Eure Großmutter … Sie hat den beiden ständig Steine in den Weg gelegt.«
»Akzeptiert?«, fragte Luana mit belegter Stimme.
Der Mann musterte sie aus seinen wasserblauen Augen, dann trat Erkenntnis in sein Gesicht. »Ihr wisst es nicht.«
»Was weiß ich nicht?« Atme, atme, atme! , schrie Luana sich in Gedanken an, als ihr Körper drohte zu kollabieren.
Haryk wurde mit einem Mal nervös und blickte um sich. Weiter entfernt konnte man hören, wie Kaylin und Selphie einen Streit inszenierten, um die Aufmerksamkeit von Elora auf sich zu lenken.
»Das ist wirklich wichtig«, mischte Aron sich ein. »Bitte erzählt uns, was Ihr wisst. Momentan steht verdammt viel auf dem Spiel.«
»Aber es wird einen Grund haben, dass Lady Ysanoa ihren Töchtern nichts darüber erzählt hat«, flehte der Mann fast schon.
»Bitte.«
Haryk schien mit sich selbst zu ringen, sah von Luana zu Elora und wieder zu Aron. »Vielleicht solltet Ihr tatsächlich davon erfahren. Lady Luana«, begann er und blickte ihr dabei eindringlich in die Augen. »Lumis, Euer Vater, er … er war ein Halbelf.«
Luana stand da, die Augen weit aufgerissen, und wusste nicht, was sie sagen sollte. So viele verschiedene Gedanken schossen ihr in den Kopf und machten es ihr unmöglich zu reagieren. Ihr Vater sollte ein Halbelf gewesen sein? Aber sie selbst war eine reinblütige Magierin – mit zwei Affinitäten. Die Affinitäten ihrer Mutter, fiel ihr ein. Sie hatte beide Affinitäten von Ysanoa. Mara und Kaylin waren reine Feuermagierinnen. Doch Feuer entstammte ohnehin der Blutlinie der Fenhorns. Luana hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, wieso sie alle nach ihrer Mutter kamen. Und wenn sie genau überlegte, hatte sie ihren Vater auch nie Magie wirken sehen. Ihre Eltern hatten ihnen immer erzählt, er sei Luftmagier. Aber sie hatte nie mitbekommen, wie er die Luft beschwor. Andererseits war sie damals noch ein Kind gewesen.
Luana taumelte in Richtung der Rehling und klammerte sich am Geländer fest. Erst jetzt bemerkte sie, wie ihr Magen rumorte. Eine Lüge. Ihr Leben war eine Lüge. Sie war keine reinblütige Elfe. Ihre Macht war … Ihre Macht war ein Scherz. Ein schlechter Scherz. Nur ein schwaches Abbild dessen, was wahre Magier wirken konnten.
»Kommst du zurecht?«, fragte Aron leise und legte ihr eine Hand auf den Rücken.
»Ich weiß nicht«, gab sie zurück und blickte ihn über die Schulter hinweg an. »Ich habe so viele Fragen.«
»Haryk musste zum Kapitän«, sagte er und strich ihr liebevoll über den Rücken.
»Nein, ich … ich muss das alles von meiner Mutter hören, schätze ich.«
»Nur weil er ein Halbelf war, bedeutet das nicht, dass er nicht magisch war, Lu. Und es bedeutet nicht, dass du weniger magisch bist. Denk doch nur an Arian. An seine Magie.«
Ja, Aron hatte recht. Auch in Halbelfen floss magisches Blut, obwohl sie keine Magie wirken konnten. Unwillkürlich versuchte sie sich zu erinnern, ob ihr Vater ebenfalls schwarze Blitze hatte beschwören können. Sie hatten bisher gedacht, Arians Magie wäre Pertheas’ Werk. Vielleicht würden sie ein wenig Licht ins Dunkel bringen, wenn sie mit ihrer Mutter über ihren Vater sprach. Möglicherweise würde es ihnen dabei helfen, Arian zu retten.
»Ich werde meine Mutter zur Rede stellen.«
Aron hob die Augenbrauen. »Jetzt?«
»Jetzt.«