32 000 000 D-Mark
Am Abend des 15. Juni 2003 stand Matthias endgültig vor den Scherben seiner beruflichen Existenz. Bis zum Ende hatten er und Andreas gekämpft. Noch vor zwölf Monaten hatten sie sich an den letzten dünnen Strohhalm geklammert, als sie die Reste ihres einst stolzen Unternehmens dem ursprünglichen Investor mit der Hilfe zweier Geschäftsfreunde wieder abgekauft hatten – für fast symbolische 200 000 Euro. Die zusammenzubringen, war schon damals fast unmöglich gewesen. Aber jetzt war die Sache endgültig an die Wand gefahren. Heute Nachmittag hatten sie mit den verbleibenden acht Mitarbeitern gesprochen. Mit dem Insolvenzantrag hatten sie sowieso schon viel zu lange gewartet. Jetzt würden sie endgültig die Grauzone zur Insolvenzverschleppung verlassen.
Noch vor vier Jahren, mit gerade mal etwas über dreißig, waren Matthias und Andreas Millionäre gewesen, ach was, Multimillionäre. Damals hatte BX Biotech ihr kleines Start-up zu einem gefühlt (und tatsächlich) wahnsinnigen Preis übernommen: 32 Millionen D-Mark! Das waren 3 Millionen in cash und sagenhafte 13 Millionen D-Mark in Aktien der BX Biotech – für jeden! Und das war noch nicht einmal alles: Innerhalb weniger Monate hatte sich der Kurs von BX Biotech verdoppelt. Bonanza! Was war seitdem nur schiefgegangen?
Andreas hatte sich zusammengerissen und eine Art letzte Ansprache gehalten – famous last words: »Kollegen, so weh es uns selbst tut, es geht nicht mehr. Wir sind pleite. Morgen gehen wir zum Amtsgericht und melden Insolvenz an. Wir haben so gern mit euch zusammengearbeitet, wir schreiben jedem von euch ein Topzeugnis, aber es geht wirklich nicht mehr. Es ist Zeit, das sinkende Schiff zu verlassen.« Matthias hatte gar nichts mehr gesagt und nur vor sich hin gegrübelt. Gut, das Unternehmen war auch Andreas‹ Baby gewesen, und auch er stand vor dem Nichts. Aber Matthias‹ Situation war noch einmal aussichtsloser. Die sich vorher schon unendlich anfühlenden Steuerschulden noch zahlen zu können, war nun völlig illusorisch. Die Zinsen erdrückten ihn jetzt schon wie ein Mühlstein. Wenn das Finanzamt nicht doch noch mit sich reden ließ, würde er die drei Finger heben müssen: Privatinsolvenz.
Ihm graute es davor, nach Hause zu kommen. Den ganzen Heimweg von seinem Büro in der Innenstadt nach Hamburg-Ohlsdorf rotierte sein Verstand oder das, was von ihm noch übriggeblieben war: Wie sollte er das seiner Frau erzählen? Dass es schlecht aussah, war auch Marina mehr als klar. Aber dass es jetzt gar keine Hoffnung mehr gab, das war noch mal etwas anderes.
Als er leise die Tür aufsperrte, um den Kleinen nicht zu wecken, hörte er entspannte Musik. Es roch nach gutem Essen. Waren das Kerzen, deren Flackern die Wand im Flur reflektierte? Oh nein, hatte er etwa mal wieder eine Einladung vergessen? Das war das Letzte, was er jetzt brauchte. Doch als er um die Ecke ins Wohnzimmer schaute, stand da nur Marina, regelrecht aufgebrezelt, vor einem prachtvoll gedeckten Tisch. Sie hatte eine Flasche Sekt in der Hand – Champagner war schon lange nicht mehr drin – und sagte strahlend: »Matthias, ich bin wieder schwanger!«
Andreas und Matthias hatten sich Anfang der Neunzigerjahre kennengelernt, als Matthias nach einer alles anderen als linearen Schullaufbahn mit Mitte zwanzig schließlich anfing zu studieren. Matthias war im ersten Semester seines Biochemie-Studiums, Andreas bereits eineinhalb Jahre weiter. Schon nach ein paar Tagen lud Andreas Matthias zum Abendessen zu sich in seine kleine Zweizimmerwohnung ein. Als Matthias um halb acht vor der Tür stand, öffnete Andreas‹ Freundin Amrei die Tür und drückte ihm unversehens ihre sechs Wochen alte Tochter in den Arm. »Halt mal kurz«, lautete ihre Begrüßung, und schon verschwand sie in der Küche. Matthias nannte das später einen »magischen Moment«: Von diesem Zeitpunkt an war er quasi ein Mitglied der Familie. Andreas half Matthias, ins Studium zu finden, sie lernten zusammen auf Prüfungen und begannen relativ bald damit, sozusagen als ausgelagerte Werkstudenten kleinere Projekte und Studien für Biotechunternehmen zu übernehmen.
Noch während des Studiums gründeten sie ihr Unternehmen, das sie BioServiX nannten. Ungefähr zu dieser Zeit kam Matthias auch wieder mit seiner Jungendliebe Marina zusammen. BioServiX entwickelte sich fantastisch. Als die beiden endlich ihr Studium abschlossen, hatten sie bereits gut ein halbes Dutzend Mitarbeiter, die sie aus ihren Kursen und Seminaren an der Uni rekrutiert hatten.
Jetzt konnten sie endlich Vollgas geben – und das taten sie auch. Die Auftragslage für unterstützende Dienstleistungen, Projekte und Studien war in der ersten Biotech-Euphorie der späten Neunzigerjahre bombastisch. Und BioServiX lieferte: Sie waren schnell, freundlich, kompetent und – da das Gros der Mitarbeiter noch zur Uni ging – konkurrenzlos günstig. Andreas hatte ein ausgesprochen gutes Gespür für Personal-Rekrutierung und Akquise, Matthias den schwarzen Gürtel für Projekt- und Prozessmanagement. Gemeinsam hatten sie eine ausgesprochene Stärke darin, neue Services zu entwickeln und anzubieten. Die beiden ergänzten sich perfekt, und wenn man heute mit ihnen redet, erklären sie nach wie vor übereinstimmend, dass es ohne den anderen nie gegangen wäre.
350 000 … 1 Million … 2,5 Millionen … 3,2 Millionen … 4,3 Millionen D-Mark – BioServiX knackte Jahr für Jahr einen Umsatzrekord nach dem anderen. Auch die Margen waren an sich ansprechend. BioServiX erzielte zwar kaum Gewinn, da die beiden fast jede Mark in neue Dienstleistungen sowie neue Mitarbeiterinnen investierten, aber anders als die meisten anderen Start-ups, die sie kannten, verbrannten sie auch kein Geld.
Mitte 1999 rief der CEO eines der wichtigsten Kunden des Unternehmens bei Matthias an, um ihn und Andreas zum Abendessen einzuladen. Es war Prof. Thomas Zeitler persönlich, der Prof. Thomas Zeitler – eine Legende, Gründer, Mehrheitseigentümer und genialer Kopf von BX Biotech, dem vielleicht hippsten Start-up in Hamburg. Start-up traf es wohl nicht mehr so ganz traf: BX Biotech war Ende 1998 an die Börse gegangen, der Kurs hatte sich seitdem verfünffacht. Entsprechend schwamm nicht nur Prof. Zeitler, sondern auch seine Firma im Geld, und genau darum ging es in dem Gespräch zwischen Prof. Zeitler und den beiden. Zeitler wollte investieren, sprich: BioServiX kaufen.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, meinte Zeitler, als er sah, wie sich Andreas und Matthias etwas fremdelnd in dem piekfeinen und etwas konservativen Lokal umschauten. »Heute sind Sie mein Gast.« Das Essen und vor allem der großzügig nachgeschenkte Wein waren hervorragend, und so wurden Andreas und Matthias nach und nach etwas lockerer. Als Zeitler im Laufe des Gesprächs mal eine ungefähre »Hausnummer« in den Raum stellte, gelang es vor allem Matthias erstaunlich gut, sich nichts anmerken zu lassen. Nach einer kurzen Pause antwortete er scheinbar gelassen: »Ich gehe mal davon aus, dass das erst mal eine grobe Richtung ist, oder? Wichtiger wäre uns heute noch einmal mehr, zu erfahren, was Ihre Pläne mit BioServiX sind und welche Rolle wir dabei in Zukunft spielen sollen. Die Zahlen analysieren wir dann in Ruhe, aber ich denke, wenn es insgesamt sinnvoll ist, dann werden weder Sie noch wir es am Geld scheitern lassen.«
Als die beiden, nachdem Prof. Zeitler sich um zehn verabschiedet hatte, zu zweit und etwas angeschickert auf der Straße standen, brach es aus Andreas heraus: »F ü n f u n d z w a n z i g M i l l i o n e n! Nee, oder?! Wenn jetzt gleich der Wecker klingelt, sag ich zu Marina: ›Lass mich einfach noch ein bisschen weiterträumen, es lohnt sich für uns beide.‹« Andreas senkte seine Stimme und versuchte, Matthias zu imitieren: »Wenn es insgesamt sinnvoll ist, dann werden weder Sie noch wir es am Geld scheitern lassen – wo zum Teufel hast du das denn gelernt?« »Habe ich vor ein paar Jahren mal in einem Film mit Al Pacino gehört.« »Ich werde Ihnen ein Angebot machen, das Sie nicht ablehnen können«, prustete Andreas. Beide klatschten sich ab, nahmen sich in den Arm und gingen zwei Straßen weiter in eine Kneipe, in der sie sich deutlich wohler fühlten als in dem noblen Restaurant und in der sie schon zu Studienzeiten ab und zu versumpft waren. Und genau das taten sie jetzt auch.
Ende 1999 wurde der Kaufvertrag unterschrieben. BX Biotech kaufte BioServiX für 32 Millionen D-Mark – für den mehr als sechsfachen Jahresumsatz. Das war an sich eine irre Unternehmensbewertung, doch für eine Transaktionen während der Tech-Blase um die Jahrtausendwende war es fast ein Schnäppchen. Unter unterschiedlichen Optionen, wie der Kaufpreis gezahlt werden sollte, hatten sich Matthias und Andreas für die Version mit dem höchsten »Upside« entschieden: Nur ein kleiner Teil wurde in cash bezahlt, gerade mal genug, um die Steuern zu bezahlen. Der Löwenanteil floss in Aktien der BX Biotech. Der Clou: Der Preis für eine BX-Biotech-Aktie wurde heute schon auf 75 Euro4 festgelegt, obwohl die Aktie bereits jetzt bei gut 100 Euro notierte. Der einzige Pferdefuß war die sogenannte Lock-up-Frist: Andreas und Matthias durften ihre Aktien frühestens in zwei Jahren verkaufen. Das jedoch würde man abwarten können.
»Der Arctic Internetfonds war seiner Zeit weit voraus.«
Vertriebsdirektorin Anja D. (43) kommentiert rückblickend das Scheitern ihres ehemaligen Lieblingsfonds, der nach über 90 Prozent Verlust 2003 geschlossen wurde (Juni 2006).
Als Anfang 2000 bezahlt und die Aktien auf den Depots der beiden eingebucht wurden, kostete eine Aktie schon 180 Euro, wenig später stieg sie auf knapp 200 Euro, genau: 199,85 Euro. Die beiden hielten auch diese Kursgewinne für den Lohn ihres unternehmerischen Risikos. Dass die Idee, sich fast alles in Aktien bezahlen zu lassen, nur eine riesige und unglaublich dumme Wette gewesen war – davor hatte sie niemand gewarnt. Um sie herum schossen ja fast alle Kurse durch die Decke. Zeitler galt – in den Worten seines engeren Stabs – als »gottverdammtes Genie«. BX Biotech forschte an Medikamenten sowohl gegen Krebs als auch gegen HIV und stand, so Zeitler, kurz vor dem Durchbruch. Wer hätte ihnen da erklären sollen, dass sie das unternehmerische Risiko ihres Käufers nicht im Geringsten beurteilen konnten? Bei BioServiX hatten sie im Fahrersitz gesessen, kannten das Unternehmen in und auswendig, hatten selbst entscheiden können. Bei BX Biotech saßen sie in einem sehr großen Bus in der vorletzten Reihe und konnten nur aus dem Fenster blicken, um zu ahnen, wohin die Reise ging.
Dass BX Biotech im Verkaufsprozess wesentlich mehr Ressourcen für professionelle Beratung hatte als Matthias und Andreas, war offensichtlich. Deshalb war es auch kein Wunder, dass die M&A5-Berater von BX Biotech im Sinne ihres Mandanten ein lebhaftes Interesse daran hatten, dass Matthias und Andreas lieber in (virtuellen) Aktien als in harten D-Mark bezahlt wurden. Die eher mittelmäßigen Anwälte und Steuerberater von BioServiX zumindest erkannten das Problem nicht oder fühlten sich für wirtschaftliche Fragen nicht zuständig. Schlimmer noch: Christian Schneider, der Steuerberater der beiden, bot sogar an, bei der Anlage des verfügbaren Cashs zu »helfen.« Er empfahl ihnen seinen guten Studienfreund Wolfgang Beutel, einen sogenannten unabhängigen Vermögensberater aus Blankenese, der sich auf Jungunternehmer spezialisiert habe. »An sich macht der das erst ab fünf Millionen, aber wenn ich den frage, dann macht er das schon auch so. Da löse ich mal Bonuspunkte für Sie beide ein, der Beutel sieht ja auch selbst, was für ein Potenzial Sie haben …«
Andreas, der in diesen Dingen etwas phlegmatischer war, unternahm erst mal nichts – ein Umstand, der ihm am Ende den totalen finanziellen Zusammenbruch ersparen sollte. Matthias dagegen traf sich mit Beutel bereits in der folgenden Woche. Beutel war freundlich und offenbar gut informiert, was die neuesten Trends am Markt anging. Er kannte nicht nur die wesentlichen Player im Bereich Biotech, sondern fühlte sich auch im Bereich Internet und Hightech zu Hause.
Es war schon auch die Gier, die Matthias antrieb, aber nur zu einem kleineren Teil. Ebenso wie seine Frau Marina war er in einem Umfeld groß geworden, das in finanzieller Hinsicht von Bescheidenheit und Sparsamkeit geprägt war. Sein Vater hatte als Schneider, seine Mutter als Altenpflegerin in Teilzeit jede Mark zusammengespart, um in ihrer holsteinischen Heimat ein Grundstück zu erwerben, auf das sie dann ein kleines Häuschen bauten. Und das im wörtlichen Sinne: Wenn der Vater abends von der Arbeit heimkam, zog er sich kurz um, um dann die nächsten drei Stunden auf der Baustelle mitzuhelfen. Das nannte man Muskelhypothek.
Hauptsächlich wollte Matthias das lästige Thema erledigt haben, das Beste aus seinen Möglichkeiten machen und den Kopf frei haben für Wichtigeres: seinen Job und seine inzwischen hochschwangere Frau. Am Ende hatte er einfach mit einem schlechten Berater zu einem sehr schlechten Zeitpunkt eine sehr schlechte Antwort auf eine ziemlich schlechte Frage gefunden: »Wie mache ich aus dem Geld am schnellsten mehr Geld?«
Innerhalb der ersten Monate des Jahres 2000 investierte Matthias sein verfügbares Kapital. Er hielt es dabei für besonders klug, nicht nur im Bereich Biotechnologie zu investieren – obwohl er sich damit ja am besten auskannte –, sondern mit Beutels Hilfe auch »breit gestreut« in andere »Zukunftsbranchen«. Um das Risiko weiter zu senken, kaufte er keine einzelnen Aktien, sondern Fonds. So fühlte er sich gut abgesichert. Denn – so Beutel – »es ist ja durchaus möglich, dass sich ein heute sehr Erfolg versprechendes Unternehmen auch mal nicht so gut entwickelt und vielleicht sogar pleitegeht«. Was Matthias besonders überzeugte, war, dass Beutel »völlig unabhängig von einzelnen Produktanbietern« beriet und ihm nur von renommierten Ratingagenturen ausgezeichnete Manager empfahl – Manager, die in der Vergangenheit »extrem erfolgreich« gewesen waren. Und das nicht nur für den deutschen »Neuen Markt«, sondern auch für die USA und sogar für Asien. Matthias unterschrieb die nötigen Papiere, überwies 2,9 Millionen D-Mark und war erleichtert, dass sich dieses lästige Thema so schnell erledigt hatte.
Auch Beutel war zufrieden: 116 000 D-Mark Provision und jedes Jahr ein »Kickback«6 von 21 500 D-Mark von den Fondsgesellschaften hatte er mit gerade mal zwei Gesprächen à 45 Minuten verdient. Er würde Schneider dringend wieder mal für ein Männerwochenende nach Dubai einladen müssen. Da durfte er nicht rumgeizen.
Als die Tech-Bubble im März 2000 platzte, ging alles Schlag auf Schlag: Der Kurs der BX Biotech brach in sich zusammen: im April 2000 von knapp 200 Euro auf 120 Euro, bis zum Oktober 2000 auf 60 Euro. Na ja, viel war noch nicht passiert, Matthias musste halt noch ein Jahr durchhalten. Im Januar 2001 war eine BX-Biotech-Aktie noch 20 Euro wert. Was noch beunruhigender war: Die Investoren der BX Biotech wurden erst langsam ungeduldig, dann nervös. Entsprechend zögerlicher und zurückhaltender waren sie, weitere Kapitalerhöhungen mitzugehen. Und die wenigen Abteilungen der BX Biotech, die Geld verdienten und nicht nur verbrannten – wie etwa die, die einmal BioServiX gewesen war –, litten an einer sehr dürren Auftragslage. Doch nicht nur BX Biotech kam unter die Räder. Die Kursgewinne der gesamten Technologie-Euphorie lösten sich in Luft auf, was Matthias eins zu eins an seinem Depot ablesen konnte: Von seinen 2,9 Millionen D-Mark waren nach einem Jahr noch knapp 520 000 Euro vorhanden.
Hatte sein »Berater« Beutel ihm die letzten Monate abwechselnd empfohlen, durchzuhalten oder in derzeit noch aussichtsreichere Investments zu wechseln, war er seit ein paar Wochen faktisch nicht mehr zu erreichen. Sein Steuerberater Schneider, der Beutel ja empfohlen hatte, zuckte nur mit den Achseln. Er hatte mit Matthias jetzt noch ein wesentlich dringenderes Problem. Anfang 2001 flatterte nämlich auch der Steuerbescheid zum Verkauf der BioServiX bei Matthias ins Haus: rund 2,8 Millionen D-Mark respektive 1,43 Millionen Euro. Ohne einen Verkauf seiner Aktien der BX Biotech war das nicht zu bezahlen – und das war frühestens in einem Jahr möglich. Ärgerlich genug: Er würde sich von Aktien trennen müssen, die nicht mal mehr ein Drittel von dem wert waren, was einmal die Grundlage des Kaufpreises gewesen war. Aber was soll’s, es würde immer noch ein stattlicher Betrag übrigbleiben. Er musste also nur mit dem Finanzamt reden, dass die ihm noch ein bisschen Zeit gaben.
Die gute Nachricht: Das Finanzamt war einverstanden, die Steuerzahlung so lange zu stunden, bis die Lock-up-Frist abgelaufen sein würde. Die schlechte Nachricht: Der Kurs der BX Biotech verfiel immer weiter: 10 Euro, 5 Euro, 3 Euro. Als Matthias endlich verkaufen konnte, war eine BX-Biotech-Aktie weniger als einen Euro wert und sein Aktienpaket von in der Spitze 37 800 000 Euro auf 189 000 Euro zusammengeschnurrt. Es tröstete ihn wenig, dass er kein Einzelfall war, sondern dass es sehr vielen (ehemaligen) Start-up-Millionären während der Tech-Blase so erging.
Im Gegenteil, das kollektive Elend des gesamten Technologie-, Internet- und Biotech-Sektors schlug voll auf seine persönliche Situation durch. Und dieses Elend war immens: Im Juni 2003 sah sich die Deutsche Börse gezwungen, ein ganzes Marktsegment ‒ den Neuen Markt ‒ aus Imagegründen wieder zu schließen. Der entsprechende Index »Nemax 50« hatte seit seinem Höchststand zwischenzeitlich im Durchschnitt über alle enthaltenen Aktien hinweg bis zu 96 Prozent verloren – und Matthias war voll mit dabei gewesen. Seine Fonds waren keine 120 000 Euro mehr wert.
Wenn das Finanzamt wenigstens bereit gewesen wäre, auf die erdrückenden Zinszahlungen zu verzichten, dann hätte Matthias vielleicht noch eine Chance gehabt. Aber annähernd 6 000 Euro Zinsen pro Monat – das war Anfang 2002 deutlich mehr, als er überhaupt verdiente.
Der letzte Hoffnungsschimmer bestand darin, die Reste der einst stolzen BioServiX von der BX Biotech zurückzukaufen. Im Sommer 2002 gelang das Andreas und Matthias schließlich mit der Hilfe zweier Investoren. Endlich konnten sie wieder selbst entscheiden und neue Kunden suchen, ohne auf Firmenpolitik und andere Hindernisse Rücksicht zu nehmen. Das neue Unternehmen, das sie XY Bio tauften, stand von Anfang an unter Druck. Das einfache Misserfolgsrezept: zu viele Angestellte, zu wenige Kunden, zu viele von BX Biotech geerbte Verpflichtungen. Dennoch feierten Matthias und Andreas jeden kleinen neuen Auftrag. Rückblickend hatte diese Unternehmung vermutlich von Anfang an keine realistische Chance gehabt, auch wenn die beiden das lange nicht wahrhaben wollten – bis zu jenem denkwürdigen Abend, als Andreas seine Ansprache vom sinkenden Schiff hielt, Matthias keinen Ton mehr herausbekam und ihn die schwangere Marina daheim freudestrahlend mit einer Flasche Sekt empfing.