Sechs Jahre

Vier Monate nach der Insolvenz der XY Bio gründeten Matthias und Andreas mit den letzten Euros, die sie noch auftreiben konnten, Metago-Bio. Sie starteten mit drei Mitarbeitern und den letzten verbleibenden treuen Kunden. Für zwei, eher drei Jahre lebten sie von der Hand in den Mund. Andreas gelang es, noch einmal einen größeren Kredit von der Bank zu bekommen, um damit die Steuerschulden zu bezahlen, für die der Cash-Anteil aus dem Unternehmensverkauf nicht mehr ausreichte. Matthias dagegen fuhr finanziell endgültig an die Wand. Nach zwei qualvollen Jahren am Ende ergebnisloser Verhandlungen mit dem Finanzamt meldete er Privatinsolvenz an. Die Folge: Bis zur gesetzlichen Pfändungsfreigrenze wurde Matthias‹ Gehalt gepfändet, und er musste sich sechs Jahre zu sogenanntem Wohlverhalten verpflichten. Jeder zusätzlich verdiente Euro ging an seine Gläubiger, und die Familie durfte buchstäblich keinen einzigen Euro neue Schulden machen.

Dass Matthias vermutlich pleitegehen würde, war ja bereits bei der Gründung von Metago-Bio absehbar gewesen. Um das Unternehmen vor diesem Fall zu schützen, hatten Andreas und Matthias deshalb schon damals vereinbart, dass in diesem Fall alle Anteile des Unternehmens allein an Andreas fallen würden. Eigentlich ein Standardverfahren bei jeder Unternehmensgründung. Was nicht Standard war, war das Gentlemen’s Agreement der beiden, das in Andreas‹ Worten vereinfacht so aussah: »Wenn alles vorbei ist, Matthias, dann kriegst du die Teile irgendwann schon irgendwie wieder.« »Irgendwann schon irgendwie« – das war nicht wirklich viel, wenn man für eine relativ ferne Zukunft ein Stück Hoffnung brauchte.

Die nächsten sechs Jahre waren für Marina und Matthias finanziell sehr hart. Jeder Euro wurde zweimal umgedreht, ihr Sohn Louis trug die Kleidung seiner großen Schwester Paula auf. Ein Ausflug ins Kino alle drei Monate fühlte sich wie purer Luxus an. Am schlimmsten jedoch war der permanente Druck, bloß nicht auch nur einen einzigen Euro auf dem Konto ins Minus zu kommen, sonst wäre das Privatinsolvenzverfahren gescheitert. Beide sind überzeugt, dass es die finanzielle Prägung aus ihrer Kindheit, die damals gelernte und gelebte Sparsamkeit war, die sie diese Belastung dauerhaft durchhalten ließ.

»Was sind wir ohne unser Unternehmen und was ist das Unternehmen ohne uns?«

Klaus H. (63) beim Gedanken daran, sein Unternehmen in Zukunft zu verkaufen (Juni 2021).

Rückblickend gibt es keinen Grund, diese Zeit zu idealisieren oder zu verkitschen. Dennoch erinnern sich Marina und Matthias nicht voller Bitterkeit an diese Zeit. Auch weil sie sich bemüht haben, es ihren Kindern, Paula, Louis und ab 2008 auch Max, trotz allem so schön wie möglich zu machen – den finanziellen Stress, soweit es ging, von ihnen fernzuhalten. »Die Urlaube, die wir damals gemacht haben, waren vielleicht die schönsten unseres Lebens. Wir haben einen uralten Bulli notdürftig immer wieder repariert und sind damit bis Korsika, durch ganz Italien und sogar bis nach Griechenland gefahren sind. Irgendwo haben wir dann meist wild gecampt, uns auf dem Gaskocher irgendwas warm gemacht oder uns im Supermarkt ein Picknick für den Strand eingekauft. Die Bilder, wie die drei mit Max‹ Gummidrachen Norbert auf Korsika im Meer planschen, gehören bis heute zu den wertvollsten Erinnerungen meines Lebens«, erzählten mir Matthias und Marina Jahre später. Das ist vermutlich Matthias‹ größte Leistung: im Moment seines völligen beruflichen Scheiterns seine Ehe nicht an die Wand gefahren zu haben und weiter ein guter Vater für seine Kinder gewesen zu sein. Eine Aussage, die er selbst so kommentiert: »Klingt schön, aber ohne meine Frau hätte ich das nicht geschafft. Es ist also unser beider Leistung.«

Am 27. Mai 2011 endete Matthias‹ Wohlverhaltenspflicht, die restlichen Schulden wurden ihm erlassen. Einen Tag später rutschte das Konto der Familie zum ersten Mal mit 38,50 Euro ins Minus. Punktlandung. Metago hatte sich in der Zwischenzeit moderat, aber insgesamt gut entwickelt: Das Unternehmen hatte inzwischen wieder zwölf Angestellte, einen Jahresumsatz von knapp 1,5 Millionen Euro und erzielte nach einem bescheidenen Geschäftsführergehalt für Andreas und Matthias rund 250 000 Euro Gewinn. Auch wenn die glorreichen Zeiten des Neuen Marktes vorbei war – 1,5 oder eher 2 Millionen Euro war das Unternehmen mittlerweile allemal wert.

Es war Zeit für Andreas, sein Versprechen zu halten und Matthias seinen Anteil »irgendwann schon irgendwie« zurückzugeben. Andreas hätte es jetzt nur ein müdes Grinsen und ein Achselzucken gekostet, die ganze Firma zu behalten. Viele Freunde hatten Matthias immer wieder gewarnt oder zumindest milde gelächelt, wenn dieser im Brustton der Überzeugung stets davon ausgegangen war, dass sein alter Freund und Partner ihn nicht hängenlassen würde. Er war überzeugt davon, dass es sich für ihn lohnen würde, die ganze Energie in ein Unternehmen zu stecken, das ihm nicht mehr gehörte und von dessen Gehaltszahlungen der Löwenanteil an seine Gläubiger ging. Doch wie sagt der Volksmund? »Beim Geld hört die Freundschaft auf.« Letztlich hatte neben Matthias nur seine Frau Marina nie den geringsten Zweifel an Andreas‹ Treue gehabt – zu Recht. Einige Monate später gehörte die Metago-Bio Andreas und Matthias wieder zu gleichen Teilen, ohne Haken und Ösen, ohne eine einzige Diskussion und ohne Abstriche.9

In den nächsten acht Jahren starteten die beiden noch einmal voll durch. Sie optimierten ihre Prozesse und rekrutierten hoch qualifizierte Mitarbeiter direkt von der Uni, die sie dann selbst ausbildeten. Vor allem aber entwickelten sie laufend neue Geschäftsfelder. Kurz gesagt: Sie steigerten konsequent den Unternehmenswert der MetagoBio. Am 17. Oktober 2020 verkauften Andreas und Matthias zum zweiten Mal in ihrem Leben ihr gemeinsames Unternehmen. Die MetagoBio ging für rund 40 Million Euro an eine niederländische Aktiengesellschaft. Diesmal investierten sie im Vorfeld viel Geld in eine professionelle Beratung. Sie verpflichteten mit Dr. Frauckner einen hervorragenden Anwalt, der in der Verhandlung darauf achtete, dass die beiden Haftungsrisiken so weit wie möglich ausschlossen und auch nach dem Verkauf weiter eine entscheidende Rolle im Unternehmen spielen würden. Frauckner stellte ebenfalls sicher, dass sie diesmal statt eines (rückblickend wertlosen) Gutscheins in Form von Hightech-Aktien auch tatsächlich »harte« Euros für ihr Unternehmen erhielten.

15 Million ließ sich jeder in cash auszahlen, nur etwas mehr als ein Viertel des Kaufpreises floss in eine Rückbeteiligung an der übernehmenden Firma. Nicht nur finanziell fällten Matthias und Andreas diesmal wesentlich bessere Entscheidungen. Andere Kaufinteressenten hatten ihnen auch deutlich mehr geboten, doch sie haben sich bewusst für das niederländische Unternehmen entschieden. Mit den Worten von Matthias: »Wir haben auch eine Verpflichtung gegenüber unseren Mitarbeitern und uns am Ende für den Verkäufer entschieden, der am besten zu unserer Unternehmenskultur passt und mit dem wir selbst gern weiterarbeiten werden.«

Auch die Fragen, die sich Matthias zu seinem neu erlangten Reichtum stellte, waren jetzt deutlich besser als vor rund zwanzig Jahren, vermutlich auch deshalb, weil sich Marina diesmal auf Augenhöhe einmischte. »Wie wollen wir in Zukunft leben?« – »Wir haben unsere Kinder ganz gut vor der Armut beschützt, wie beschützen wir sie vor dem Reichtum?« – »Was macht das mit unseren Kindern, wenn die auf einmal merken, wie viel Geld da ist?« – »Wie lernen sie, damit umzugehen und in welcher Dosis?« – »Gibt es für Matthias ein Leben nach der MetagoBio?« – »Muss er nicht jetzt langsam damit anfangen, wie ein Leistungssportler abzutrainieren?« Ich bin mir sicher, dass sie in der Lage sind, gute Antworten auf diese Fragen zu finden.

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Zum Feiern mit uns sind Marina und Matthias erst dann gegangen, als auch sämtliche Steuern ans Finanzamt überwiesen waren.

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Matthias ist – ebenso wie Andreas – nach wie vor Geschäftsführer der MetagoBio. Schrittweise weniger zu arbeiten, ist ihm zumindest im ersten Jahr (noch) nicht gelungen.

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Im nächsten Sommer planen sie, nach Korsika zu fahren; der Gummidrache Norbert bleibt dann aber vermutlich zu Hause.