»I’ve failed over and over and over again in my life. And that is why I succeed.«

Michael »Air« Jordan

20 Prozent

Woran lässt sich Erfolg, der Wert der eigenen Arbeit, leichter messen als an Geld? Misst es nicht, wie wir oben schon gesehen haben, die Leistung, ja den Wert eines Menschen bis auf die Nachkommastelle genau? Ist eine erfolgreiche Karriere, ein erfolgreiches Unternehmen ohne finanziellen Erfolg überhaupt denkbar – und wie weit gilt das für einen erfolgreichen Menschen, ein erfolgreiches Leben? Den Wert der eigenen Leistung, gar der eigenen Person an der Höhe der gezahlten Vergütung festzumachen, ist in mehr als einer Hinsicht brüchig und irreführend – und dennoch können sich die wenigsten Menschen davon freimachen.

Leistungsorientierte Bezahlung bietet sich insbesondere dort an, wo die Ergebnisse klar messbar sind. Es gibt Berufe, in denen es (scheinbar) eine direkte Verbindung zwischen Leistung und pekuniärer Belohnung gibt, etwa die klassische Akkord-Arbeit oder der Produktverkauf im sogenannten Multi-Level-Marketing. Wer zehn Tupperdosen, Anti-Aging-Cremes oder Bausparverträge verkauft, verdient doppelt so viel wie der, der nur fünf an den Mann oder die Frau bringt. Insbesondere in einer ganzen Reihe eher parasitärer Berufe funktioniert das wunderbar, beispielsweise beim Vertrieb von Finanzprodukten und Immobilien.

Während das Messen von Absatzahlen zumindest innerhalb einer Branche oder eines Betriebes eine gewisse Fairness bietet, weisen andere Formen der leistungsorientierten Vergütung geradezu absurde Formen auf: Trader, die im Eigenhandel von Banken im Erfolgsfall siebenstellige Boni einfahren und sich im Misserfolgsfall mit einer satten Abfindung vom Acker machen; Fondsmanager, die sich – nachweislich auf Zufall beruhende – Überrenditen vergolden lassen, während die erhöhten Risiken allein der Kunde trägt; Hedgefonds-Manager, deren Nutzen für die Volkswirtschaft – sagen wir mal – eher begrenzt ist; Immobilienmakler, die sich für das Weiterreichen einer Telefonnummer die Taschen vollmachen.

Aber auch da, wo durchaus eine solide und hoch qualifizierte Leistung erbracht wird, gibt es Formen der Bezahlung, die letztlich kaum mehr zu rechtfertigen sind, zumal die persönlichen Risiken meist übersichtlich sind. Man denke an Notare, Spitzenanwälte, Konzernvorstände, Topmanager und Vermögensverwalter. Nicht missverstehen: Ich gönne das jedem, zumindest, solange er, ohne zu meckern, seine Steuern zahlt und zur Gemeinschaft beiträgt. Vielleicht komme ich sogar selbst mal in diese angenehme Situation. Aber um den Wert der eigenen Leistung zu messen – taugt da Geld wirklich noch, wenn es gewisse Relationen verlässt?

Eine weitere Tücke ist, dass der monatliche Zahlungsstrom im Regelfall ja gerade nicht als Bestätigung des eigenen Wertes, sondern häufig als Bestätigung des eigenen Unwertes, als mangelnde Wertschätzung wahrgenommen wird: Der Kollege bekommt mutmaßlich 20 Prozent mehr, obwohl er weniger kann, aber weil er Teil einer funktionierenden Seilschaft ist, sich besser vermarktet, lauter jammert oder einfach, weil er das richtige Geschlecht hat – im Regelfall also ein Mann ist. Die Studienfreundin hat sich bei einer Unternehmensberatung durchgeboxt und schiebt jetzt höhere Boni ein als das eigene Grundgehalt bei einem langweiligen Mittelständler, und der immer belächelte Klassenkamerad hat nach seinem mittelmäßigen BWL-Studium doch noch eine erstaunliche Konzernkarriere hingelegt, während man als mit summa cum laude promovierter Literaturwissenschaftler Stadtführungen macht. In all diesen Fällen wird der monatliche Zahlungsstrom eher zur Bestätigung einer Demütigung als zu einem Erfolgserlebnis.

Gesellschaftlich relevant wird das, wenn sich ganze Berufsgruppen aufgrund einer übersichtlichen Bezahlung als nicht ausreichend wertgeschätzt fühlen, ja, sich in Ballungsräumen schlicht das tägliche Leben kaum mehr leisten können, wie Krankenschwestern, Polizisten und Altenpfleger. Dann noch mal vielen Dank für den vielen Applaus während der Corona-Krise. Die bloße Befriedigung, eine sinnvolle Tätigkeit auszuüben, ist dann doch etwas dünn, wenn die nächste Mieterhöhung droht. Wo es an die Substanz einer einigermaßen komfortablen Lebensqualität geht – wie soll sich da Erfolg ohne eine vernünftige finanzielle Entlohnung noch definieren lassen?

Ähnliches gilt für Menschen, für die sich Erfolg eben primär gerade nicht am verdienten Geld festmacht: Sportler, Musiker, Künstler, Schauspieler, Autoren. Nur für einen Bruchteil dieser Menschen mündet der sportliche oder künstlerische Erfolg in einen ökonomischen Erfolg – wenn dann auch manchmal in fast ebenso absurden Ausmaßen wie bei einem Hedgefonds-Manager. Geld ist hier in den seltensten Fällen ein verlässlicher Indikator für Erfolg. Ist ein faktisch unbezahlter Olympiasieger im Florettfechten weniger erfolgreich als ein gut verdienender Fußballprofi in der zweiten Bundesliga? Umgekehrt: Kann es sein, dass ein Kunstwerk wirklich genial ist, wenn es keinen Käufer findet? Ja, es kann.

Doch so brüchig die Bewertung des eigenen Erfolges, der eigenen Person durch Geld ist: Besteht nicht doch der Beweis, dass eine Unternehmensgründung erfolgreich war, darin, dass das Unternehmen Gewinn generiert – und zwar möglichst viel? Je mehr, umso besser? Beweisen nicht starkes Wachstum und der ökonomische Erfolg, dass das, was wir tun, richtig ist? Umgekehrt: Kann eine Dienstleistung etwas wert sein, wenn sie kaum einem Menschen (finanziell) etwas wert ist? Erfährt man nicht auch eine hohe persönliche Befriedigung durch die eigene Tätigkeit, ja die eigene Identität, indem sich das eingegangene unternehmerische Risiko auch finanziell ausgezahlt hat?

Ich weiß, dass diese Überlegungen im Grunde genommen falsch sind. Ich weiß, dass es jede Menge hoch profitable, aber absolut toxische und unethische Business-Modelle gibt – gerade im Finanzbereich. Und dass es auf der anderen Seite Kolleginnen gibt, die ehrliche Dienstleistungen anbieten und dabei finanziell nur schlecht verdienen. Ich weiß, dass am Ende Glück, Pech und Zufall weit mehr zu unternehmerischem (Miss-)Erfolg beitragen, als uns lieb ist einzugestehen. Und auch wenn mir das Gelingen unseres eigenen Unternehmens, das Umsetzen einer Business-Idee, die wirksam und relevant ist, eine tiefe Befriedigung gibt: Am Ende ist es mir unmöglich, mich davon freizumachen, den eigenen Erfolg, ja meine eigene Person maßgeblich am finanziellen Erfolg des eigenen Unternehmens zu messen. Verrückt. Wären nicht andere Währungen – etwa Zeit – sinnvoller als Geld? Liegt das nur an meiner eigenen finanziellen Prägung in der Kindheit, oder ist das ein freier Entschluss? Könnte ich anders, wenn ich nur wollte?

Wie auch immer, Geld ist mein Beruf, ich mag Geld. Vielleicht ist das ja dann doch in Ordnung, solange man sich darüber im Klaren bleibt, wie fragil das alles ist, und vor allem eine Binsenweisheit nicht vergisst: Die Selbstdefinition allein über den beruflichen und finanziellen Erfolg ist tödlich. Fällt der Erfolg weg, steht man in jeglicher Hinsicht vor einem riesigen materiellen, aber vor allem psychischen Loch. Man ist buchstäblich nichts mehr wert. Der japanische Finanzphilosoph Ken Honda wendet diese Erkenntnis ins Positive und rät explizit zu einem sorglosen und freigiebigen Umgang mit dem eigenen Geld. Solange man ein solides Sicherheitsnetz aus zwischenmenschlichen Beziehungen hat, könne einem im Grund nichts passieren, selbst wenn Erfolg und Geld einmal weg sind.10

5 000 Euro

Seit fünfeinhalb Jahren musste Christian nun schon mit Ralf zusammenarbeiten, ob er wollte oder nicht. Mit jedem Tag ging ihm der Kollege ein Stück mehr auf die Nerven. Fachlich war Ralf eine Koryphäe, keiner verstand so viel vom Leasinggeschäft wie er. Kein Wunder also, dass Ralf in seiner Abteilung die höchsten Tantiemen einfuhr und, wenn es um fachliche Fragen ging, von jedem als Instanz geachtet wurde. Menschlich aber wurde Ralf mehr und mehr zu einer Zumutung.

Ralf hatte fast 30 Jahre bei einem kleinen schwäbischen Mittelständler gearbeitet, als dieser von der Leasing-Tochter von Porsche – inklusive Ralf – übernommen wurde. Von Anfang an hatte er sich mit den großen Konzernstrukturen schwergetan und den glorreichen alten Zeiten hinterhergetrauert. Inzwischen eckte Ralf überall an, und seine chronisch schlechte Laune und sein – trotz bester Bezahlung – permanentes Gejammer waren kaum noch auszuhalten.

Aber das war es nicht, was Christian am meisten an Ralf und an seinem Job störte. Was Christian, der gerade letzten Monat 35 geworden war, am meisten beschäftigte, war, ob Ralf nicht so etwas wie Christians eigene Zukunft war. Würde er auch mit 55 immer noch Leasingverträge für Porsche verkaufen – fürstlich bezahlt, aber zunehmend verbittert? Andererseits war die Stelle bei Porsche eine sichere Angelegenheit, der Arbeitgeber okay, und wenn er daran dachte, wie knapp das Geld bei seinen Eltern immer gewesen war, dann war finanzielle Sicherheit als solche für ihn viel wert. Beide Gedanken machten ihm inzwischen zu schaffen, ja sogar Angst: der Gedanke, zu kündigen, genau wie der Gedanke, auf Dauer bei Porsche-Leasing zu bleiben. Ihm war klar, dass er sich jetzt endlich entscheiden musste.

Vor drei Jahren hatte er mit seinem alten Studienfreund Robert eine kleine GbR gegründet, und seitdem versuchten sie, Sportswear von coolen, international aber noch völlig unbekannten Labels über das Internet zu verkaufen. Der ursprüngliche Plan, Kleidung generell im großen Stil über das Netz zu vertreiben, hatte sich sehr schnell als illusorisch erwiesen. Zu groß war die Konkurrenz von Amazon, Zalando und Co. Aber in der Nische hofften sie, vielleicht doch noch das große Geschäft zu machen. Und richtig schlecht lief es ja auch nicht – aber eben auch nicht wirklich gut. Immer wieder blieb Ware beim Zoll hängen. Insbesondere auf Kleidung, die aus Kolumbien kam, musste man oft Monate warten. Dazu kam eine sehr hohe Retourenquote, die jede Menge Geld und Arbeitszeit kostete.

Auf Dauer war es einfach nicht möglich, von 8:30 bis 16:00 Uhr in der Leasingfirma und dann jeden Abend bis weit in die Nacht für den eigenen kleinen Onlineshop zu arbeiten. Dafür warf der Laden auch schlicht zu wenig ab. Was Christian und Robert zusammen erwirtschafteten, reichte vielleicht für eine halbe Person – aber sicher nicht für zwei.

Von seinen Zweifeln angetrieben und von Robert ein Stück weit geschubst, entschloss sich Christian, ein sechsmonatiges Sabbatical zu nehmen. Lieber es einmal vernünftig ausprobieren und scheitern, als mit Ansage so zu enden wie Ralf, dachte sich Christian. Er hatte rund 18 000 Euro angespart. Das reichte bei seinem sehr bescheidenen studentischen Lebensstil, um eine Weile durchzuhalten und ein bisschen was in die Firma zu investieren.

»Wenn ich das jetzt so durchlese, klingt es selbst für mich wie eine Piraten-Story. Aber genauso war es. Kaum zu glauben, dass ich damals den Schritt gewagt habe.«

Feedback von Christian, nachdem er erstmals seine Geschichte gelesen hatte (Juni 2022).

Als Erstes änderten Robert und Christian ihre Strategie. Sie entschieden sich, deutlich günstigere und wesentlich kleinteiligere Waren zu handeln, in der Hoffnung, damit die mörderische Retourenquote ein Stück weit nach unten zu drücken. Wenn ein Artikel nur ein paar Euro kostete – so ihre Hoffnung –, würde ein unzufriedener Kunde vermutlich den Aufwand scheuen, alles zurückzuschicken, und sie nicht damit beschäftigen. Gleichzeitig konnte man in diesem Segment anfangen, ohne größere Summen zu investieren, und die Margen waren ausgesprochen ansprechend.

Ihr erster Versuch war zunächst ein phänomenaler Reinfall. Wie mir Christian noch heute lachend berichtete, bestellten sie über das Internet zu einem Spottpreis ein größeres Konvolut an Lederarmbändern aus China. Als diese geliefert wurden, waren sie nicht nur mit einem abfärbenden weiß glitzernden Disco-Spray besprüht, sondern rochen auch noch unerträglich nach Katzenpipi. An einigen von ihnen hingen Hundezähne oder andere – zumindest nach westlichem Verständnis – eher schräge Schmuckelemente. Während es den beiden gelang, trotz der eher umstrittenen Ware und trotz alles andere als professionell geschossener Fotos wenigstens einen Teil dieser Armbänder über Ebay zu verkaufen, verschimmelte der größere Teil im Keller von Roberts Eltern – vermutlich noch heute.

Stundenlang recherchierten die beiden nun im Internet, wie und wo sie an geeignete Ware kommen könnten. Ihr Ziel war es, möglichst den Zwischenhandel auszuschließen und direkt mit den Produzenten in Kontakt zu kommen. Dabei waren sie stets auf der Suche nach möglichst preisgünstigem, aber einigermaßen ansprechendem Modeschmuck oder Accessoires. Das war schwieriger als erwartet, da für die beiden bei ihrer Netz-Recherche »Piratengeschichten«, unsinnige Informationen und seriöse Quellen kaum zu unterscheiden waren. Schließlich gelang es Christian, im Netz eine Agentin aus Yiwu zu finden, die ihm – nach welchen Kriterien auch immer – irgendwie seriös vorkam. Ihr Name war Jinjin Lan, was wohl »goldene Orchidee« bedeutete. Wenn das kein gutes Zeichen war.

Christians und Roberts Kampfkasse betrug zu diesem Zeitpunkt noch genau je 6 000 Euro. Die ersten 1 000 Euro investierten sie in einen Flug nach Shanghai, die restlichen 5 000 Euro steckten sie sich in die Hosentasche. Sie hatten nämlich in irgendeinem Internetforum gelesen, dass man als Neukunde mit Chinesen nur ins Geschäft käme, wenn man in bar zahlt – am besten in US-Dollar oder Euro.

Irgendwann im Herbst 2015 landeten beide spät am Abend in Shanghai. Nach langwierigen Formalitäten am Zoll ergatterten sie schließlich ein Taxi, das sie ins drei bis vier Stunden entfernte Yiwu bringen sollte. Die Fahrt erwies sich als Albtraum. Ihr Taxifahrer war vollkommen übermüdet und kämpfte mühsam gegen den Sekundenschlaf. Laut Christian muss er auf der Strecke Shanghai – Yiwu ein Dutzend Red Bull in sich hineingekippt haben, um irgendwie wach zu bleiben. Christian und Robert wechselten sich dementsprechend ab, um Wache zu schieben und die Augen ihres Chauffeurs über den Rückspiegel permanent im Blick zu haben.

Als die beiden morgens um drei in Yiwu ankamen, hatten sie das Gefühl, in einer Zombiestadt gelandet zu sein. Die Stadt war nicht einfach nur ruhig, wie man das von einer Millionenmetropole um die Uhrzeit erwarten würde. Sie war völlig ausgestorben, wie ein Gewerbegebiet am Rand einer deutschen Kleinstadt, nur hundertmal so groß und ausgesprochen schäbig. Zu allem Überfluss hatten die beiden bei ihrer Hotelbuchung die Zeitverschiebung nicht richtig mitberücksichtigt und standen nun buchstäblich ohne Dach über dem Kopf da.

Mühsam gelang es ihnen zumindest, eine notdürftige Unterkunft zu finden. Ich kenne Christian relativ gut. Er ist jemand, dem nur wenig an Komfort liegt. Er verbringt seinen Urlaub lieber im Wohnmobil als in einem schicken Hotel und lebte bis vor drei Jahren noch in seinem ehemaligen WG-Zimmer im Stuttgarter Osten. Aber selbst an seinen niedrigen Standards gemessen, war die Unterkunft in dieser ersten Nacht in Yiwu grenzwertig. Es gab keine Heizung, einen Vorhang statt einer Zimmertür und eine etwas bessere Bastmatte statt einer Matratze. Am nächsten Morgen waren Christian und Robert wie gerädert. Als sie den Vorhang am Fenster zur Seite schoben und hinausblickten, trauten sie ihren Augen nicht: Die Zombiestadt war zum Leben erwacht. Durch die Straßen schoben sich so viele Menschen, dass Christian und Robert im ersten Moment dachten, es müsste heute ein Volksfest geben. »Und da haben wir uns ins Getümmel geschmissen.«

Am Vormittag trafen die beiden die Agentin Jinjin Lan, die ausgesprochen überrascht reagierte, als die beiden am Ende des Gesprächs in ihre Hosentaschen griffen und in bar zahlen wollten. Robert und Christian entschlossen sich schließlich, Waren im Gegenwert von 2 000 Euro zu bestellen und es einfach mal auszuprobieren. Den Betrag haben sie überwiesen, als sie wieder zurück in Deutschland waren.

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Christian kehrte nie wieder in seinen Beruf als Leasingberater zurück. Sein und Roberts Unternehmen hat inzwischen zwölf Angestellte in Deutschland und vier in China. Ihr Jahresumsatz hatte bereits im zweiten Jahr die Eine-Million-Euro-Marke geknackt.

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Seinen bescheidenen Lebensstil hat Christian im Wesentlichen beibehalten, vielleicht ein wenig modifiziert. Was er am meisten an seinem Unternehmertum schätzt, ist nicht der finanzielle Erfolg, sondern das Gefühl, »sich wieder mehr zu spüren und einfach lebendig zu sein«.

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Bis heute arbeiten Christian und Robert erfolgreich mit Jinjin Lan zusammen. Den wichtigsten Erfolgsfaktor bringt Christian so auf den Punkt: »Ohne Robert hätte ich es nie geschafft, ich hätte es nicht einmal versucht.«

JA172

Als sich Franz Langer am Montag, den 16. Februar 1948, von der Schule auf den Heimweg machte, hatte er schon eine ganze Weile wieder so etwas wie Lebensmut gefasst. Vor etwas mehr als drei Jahren – genau am 7. Februar 1945 – war der damals gerade achtzehnjährige Langer einer von nicht einmal 70 Soldaten einer gut 280 Mann starken Alarmeinheit gewesen, der die hoffnungslose Verteidigung des Oderdamms gegen die Rote Armee zumindest diesen einen Tag überlebt hatte. Spätestens damals war Franz‹ einst so fester Glaube an den Endsieg ernsthaft erschüttert gewesen – ebenso sein glühender Wunsch, seinen Bruder Wolfgang zu rächen, der im Oktober 1943 mit gerade einmal neunzehn Jahren an der Ostfront gefallen war. Dass er den Krieg einmal wie ein großes Abenteuer betrachtet hatte, fand er mittlerweile unbegreiflich. Franz wollte nur noch eines: überleben. Noch 2009 erzählte Franz, dass es vor allem die Bilder sind, die er nicht vergessen wird: die Reste »eines völlig in Rot getauchten Kameraden«, dessen Körper in einer Schubkarree zum Feldlazarett transportiert wurde; in einer Scheune gestapelte Leichen gefallener Soldaten aus seiner Einheit; dieselbe Scheune, die nach einem Artillerietreffer in die Luft flog, nur zwei Minuten, nachdem Langer sie verlassen hatte.

Einen Tag nach dem blutigen Kampfeinsatz, den gerade mal ein Viertel seiner Kameraden überlebt hatte, wurde Franz bei einem Gefecht am Oderdamm so schwer an seinem linken Bein verwundet, dass es drei Monate später in einem Lazarett in Bayern amputiert werden musste. Damals hatte er gerade mal noch 35 Kilo gewogen. Es war rückblickend ein Wunder, dass er das alles überlebt hatte. Im April 1946 kehrte er, nachdem er aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, zu seinen Eltern nach Dresden zurück.

Jetzt erwies es sich als Glück, dass diese einen Fleischereibetrieb und daher die nötigen Mittel hatten, um ihn wieder aufzupäppeln. Nachdem Franz eine weitere OP an seinem Beinstumpf über sich hatte ergehen lassen und gesundheitlich einigermaßen wieder hergestellt war, begann er ab Sommer 1947, sein Abitur nachzuholen – an einer örtlichen Oberschule, die einen eigenen Lehrgang für ehemalige Frontsoldaten mit Reifevermerk anbot.

Die Atmosphäre in der Sowjetischen Besatzungszone war angespannt, es gab immer wieder Gerüchte über angebliche Säuberungen. Witze über die Russen oder die örtlichen »Vortänzer« der Kommunisten machte man, wenn überhaupt, nur hinter vorgehaltener Hand. Aber an sich war Politik für den inzwischen zweiundzwanzigjährigen Langer – ähnlich wie während der Nazizeit – weit weg. Daher beunruhigte es Franz auch wenig, dass sein Freund Wolf Gruber seit letzter Woche nicht mehr zur Schule kam und dessen Schwester Langer erklärte, Wolf sei abgeholt worden. Ein Missverständnis – das würde sich klären lassen. Wichtig war: Er war im Gegensatz zu so vielen seiner Kameraden noch am Leben, und er hatte wieder eine Perspektive. »Hinfallen, wieder aufstehen, weitermachen – und ich stehe noch, zwar auf einem Bein, aber ich stehe«, beschönigte er seine Situation.

Als Franz an diesem Abend mit seiner Familie beim Abendessen saß, wurde auch er abgeholt. Eine Einheit des NKWD, des sowjetischen Innministeriums stürmte das Wohnzimmer, und Franz wurde mit vorgehaltener Waffe abgeführt. Was folgte, waren endlose nächtliche Verhöre, Stockschläge und psychische Einschüchterungen. »Wir wissen es ohnehin schon, gib es einfach zu.« Nach zwei Tagen in einem Keller in Magdeburg kam Franz für mehrere Monate in das berüchtigte Gefängnis in der Potsdamer Leistikowstraße. Dort ging es weiter. Der einzige Ausgang aus der Zelle führte in den Verhörtrakt. Wobei es »Ausgang« nicht wirklich traf, denn Franz wurden sowohl seine Prothese als auch seine Krücken weggenommen – aus »Sicherheitsgründen« –, und so hüpfte er jede Nacht zu seiner Folter: Ohrfeigen, erzwungene Geständnisse, die Drohung, die Mutter nach Sibirien zu bringen, Schlafentzug, eine Scheinhinrichtung und immer wieder das, was Franz später ebenso humorvoll wie sarkastisch den »sowjetischen Striptease« nannte. Es bedeutete, sich nackt auszuziehen, zur Leibesvisitation.

Franz‹ gesundheitliche Situation war inzwischen durch die Mangelernährung deutlich angeschlagen, als er im Spätsommer 1947 von einem Ferngericht in Moskau zu zwanzig Jahren Arbeits- und Erziehungslager verurteilt wurde. Warum Franz Langer? Was wurde ihm konkret vorgeworfen? Das wusste auch Franz – wie die meisten anderen politischen Gefangenen – bis zu seinem Tod nicht. Der stalinistische Terror hielt sich mit solchen Detailfragen in der Regel nicht auf.

Im Oktober 1948 wurde Langer, jetzt Häftling JA172, mit 64 anderen Verurteilten in einem Güterwagon Richtung Osten gebracht. Die Verpflegung: rohe Kartoffeln; die Toilette: ein Loch in der Wagonwand. Die Schikanen und Strapazen, von denen er später fast lapidar berichtet, sind kaum vorstellbar. Fünf Tage stand der Wagon an der polnischen Grenze; die Zellen, in denen die Gefangenen beim Umladen untergebracht waren, waren hoffnungslos überfüllt. In den unterschiedlichen Lagern von Novosibirsk über Krasnojarks bis Taischet litt Franz nicht nur unter unerträglicher Kälte, Schneestürmen und Mangelernährung. Schlimmer war für ihn, dass er keinerlei Kontakt zu seinen Eltern hatte und diese nichts über sein Schicksal wussten, nicht einmal, ob er noch am Leben war.

»Ich kann es immer noch nicht fassen, wie viel Glück ich in meinem ganzen (!) Leben immer (!) gehabt habe.«

Franz Langer (83), Amtsrat in Rente (April 2009)

Dazu kam, dass die politischen Gefangenen ganz bewusst im Lager für Kriminelle untergebracht wurden und in der teils mörderischen Hackordnung des Lagers ganz am unteren Ende rangierten. Immer wieder erlebte Franz, dass Kameraden an Krankheiten, genauer gesagt an mangelnder medizinischer Versorgung starben. Zweimal wurde er Zeuge eines Mordes durch kriminelle Häftlinge. Auch nur ein Bein zu haben, war im Lager alles andere als ein Startvorteil. Doch Franz tat das, was er am besten konnte: Er überlebte, wobei ihm sein Organisationstalent, sein Charisma und seine Fähigkeit halfen, schnell die russische Sprache zu erlernen. Schnell schaffte er Allianzen, fand in einem Lager sogar eine freundschaftliche Verbindung zum Kopf der Berufskriminellen und bekam wegen seiner Sprachkenntnisse häufig Verwaltungsaufgaben.

Erst fünf Jahre später, nach Stalins Tod im März 1953, verbesserte sich die Situation deutlich. Anfang Dezember desselben Jahres wurde Franz über mehrere Durchgangslager zurück nach Deutschland transportiert. Am 20. Januar 1954 kam er mit 28 anderen politischen Häftlingen in einem Güterwagon in Frankfurt an der Oder an – beim Aussteigen wurde klar, dass einer der Mitgefangenen den Transport nicht überlebt hatte. Erst hier durfte Franz zum ersten Mal seit sechs Jahren ein Telegramm an seine Eltern schicken. Zwei Tage später stand er in Dresden vor der Haustür. »Da bin ich wieder.« Rückblickend kommentiert er die Situation so: »Das war natürlich furchtbar, es bekam ja keiner ein Wort raus.«

Da stand er nun wieder, achtundzwanzig Jahre alt, tief traumatisiert, um seine Jugend, seine Perspektiven und – scheinbar – auch um sein Leben betrogen: ohne Schulabschluss, ohne Berufsausbildung, ohne Bein und als ehemaliger politischer Gefangener in der DDR – nicht mal ein Jahr nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 – ein ständiger Verdachtsfall. Dafür hatte er den Kopf voller Bilder und Geschichten: sterbende Kameraden, Morde, Hunger, Krankheiten, Folter, Gewalt, unerbittliche Kälte. Es gab weit mehr als einen Grund, aufzugeben, seine Not im Alkohol zu ertränken, sich vor einen Zug zu werfen.

Doch Franz ließ sich nicht unterkriegen. Nach ein paar Wochen bei seinen Eltern setzte er sich mit einer Aktentasche und einem Stück Seife als Gepäck – ohne jegliches Geld – über Berlin in den Westen ab. In einer Auffangstelle für Kriegsheimkehrer wurde er mit dem Nötigsten versorgt: etwas Kleidung, ein bisschen Bargeld und einem größeren Verpflegungspaket. Noch fast sechzig Jahre später strahlen seine Augen, wenn er erzählt, wie er sich von den paar Mark Unterstützung in einer Konditorei den Bauch vollgeschlagen hat: »Ich habe mir gleich drei Torten bestellt und dann noch einen Eisbecher mit drei Sonnenschirmen.« Er war so glücklich über seine privilegierte Situation, dass er sein Verpflegungspaket einem Obdachlosen schenkte.

Nach ein paar Wochen bei seinem Onkel in München besorgte ihm die Frau eines Lagerkameraden, der immer noch in Sibirien ausharrte, eine Arbeit als Praktikant bei Wacker Chemie in Burghausen. Wenig später begann Franz mit achtundzwanzig Jahren eine kaufmännische Ausbildung. Die verlorenen Jahre schlugen sich jetzt eins zu eins auf seine beruflichen Perspektiven, sein Einkommen und seine Lebensqualität durch. Während seine Altersgenossen nach Abitur, Studium und ersten Berufsjahren bei Wacker mit 600 bis 800 D-Mark nach Hause gingen, verdiente Franz Langer ganze 214 D-Mark. Als er sich darüber beschwerte, kam ihm sein Chef nach ein paar Wochen strahlend mit einer Gehaltserhöhung entgegen – um 20 D-Mark. »Das schlug mir endgültig vom Fass den Boden ins Gesicht«, ärgerte sich Franz noch Jahre später.

»Ist es nicht furchtbar, wie viele Faulpelze und Ausländer ich mit meinen Steuern durchfüttern muss – in was für einer Welt leben wir eigentlich?«

Dagmar M., (73), millionenschwere Erbin und Pensionärin, die ihr Leben lang nie gearbeitet hat (April 2009).

Viel erfreulicher entwickelte sich Franz‹ Privatleben. Bei Wacker verstand er sich von Anfang an mit einem Kollegen hervorragend, der in vielerlei Hinsicht zu ihm passte. Während Franz das linke Beine fehlte, hatte Ludwig sein rechtes Bein verloren. Als die beiden auf die Idee kamen, gemeinsam zum Pantoffelkaufen zu gehen – Franz brauchte ja nur den rechten, während Ludwig der linke reichte –, war das der Beginn einer langen Freundschaft. Ludwig nahm Franz immer wieder mit zu sich nach Hause und seinen fünf Geschwistern, wo er dessen jüngere Schwester Elke kennen lernte. Dass Männer nicht immer alle Beine haben, war sie ja von ihrem Bruder gewöhnt, und so verliebte sie sich bald in den charismatischen Franz – und er sich in sie. Auch für Elke war das in mehr als einer Hinsicht eine glückliche Fügung. Die Liebe zu Franz war für sie auch die Gelegenheit, einem lieblosen Zuhause zu entfliehen, in der eine gefühlskalte und immer noch nationalsozialistisch gesinnte Mutter ein hartes Regiment führte.

1959 heirateten die beiden. 1960 kam ihre erste Tochter Andrea auf die Welt. Es wurde Zeit, die Familie finanziell auf solidere Beine zu stellen. Franz, der bei Wacker inzwischen wenigstens 508 D-Mark verdiente, fing noch einmal von vorne an. Am 2. Mai 1960 begann er eine Beamtenlaufbahn im gehobenen Dienst der Bundesbahn und absolvierte parallel eine dreijährige Ausbildung zum Verwaltungsbetriebswirt. Sein Einstiegsgehalt als Inspektoranwärter waren 400 D-Mark. Über die Jahre stieg Franz über die Ränge eines Inspektors, Oberinspektors und Amtmanns bis zum Amtsrat auf. Seine Besoldung lag zu seinem Karriereende Mitte der 1980er Jahre mit A12 bei über 6 000 D-Mark pro Monat.

Mit der Sicherheit einer Verbeamtung im Rücken führte Franz mit seiner Familie ein Leben in bescheidenem Wohlstand. Innerhalb von zehn Jahren gelang es ihm, das erworbene Haus abzuzahlen, und obwohl das Geld immer knapp war, bekamen die drei Töchter wenig davon mit. Ihnen war schon klar, dass gespart werden musste, aber Stress gab es deswegen kaum. Im Gegenteil: Sobald es irgendwie ging, fuhr die Familie dreimal im Jahr in den Urlaub: im Sommer zwei Wochen in ein Ferienhaus im italienischen Badeort Bibione, Ostern in die DDR zu den Eltern und als Höhepunkt Pfingsten an die Adria nach Viserba ins Hotel Verde Mare. Dort erwarteten sie vierzehn Tage Vollpension, Rundum-Verpflegung mit großartiger italienischer Hausmannskost bei einer unglaublich netten italienischen Familie, zwei Liegen und Sonnenschirm inklusive. Es war der Inbegriff des (klein-)bürgerlichen Konsumversprechens der Wirtschaftswunderjahre: Urlaubsglück am Teutonengrill. Für Franz‹ und Elkes Töchter ist das bis heute ihre liebste Erinnerung in ihrer liebevollen und behüteten Kindheit.

Nach fünfundzwanzig Jahren ging Franz Langer mit neunundfünfzig Jahren in Frühpension. Seine unverminderten Altersbezüge erlaubten ihm und seiner Frau Elke ein finanziell sorgenfreies Leben. Wenn es Menschen gibt, die vielleicht das größte Rätsel in Bezug auf Geld, Karriere und Erfolg gelöst haben, nämlich herauszubekommen, was »genug« bedeutet, dann sind es Elke und Franz Langer.

1992

Dr. phil. Karsten Hansen war seit seiner Schulzeit davon überzeugt gewesen, dass die Deutungsmuster der antiken Götterwelt der Wirklichkeit viel eher gerecht werden als Christentum oder Aufklärung: übellaunige, untreue und unberechenbare Götter, menschliche Hybris, ein rächendes und schwer durchschaubares Schicksal, das die Akteure noch für die Schuld der Väter und Großväter zur Rechenschaft zog. Musste das nicht zwangsläufig dazu führen, dass die meisten Geschichten mit einer fast deterministischen Zwangsläufigkeit in eine Katastrophe mündeten?

Und so wunderte es ihn rückblickend nicht weiter, dass sein eigener Lebensweg in weiten Teilen den Gesetzmäßigkeiten einer attischen Tragödie gefolgt war. Was für ein Zynismus! Hatte das Thema seiner Promotion nicht gelautet »Schuld in der Tragödie? Zum freien Willen in den Orestie-Dramen (Aischylos: Orestie; Sophokles: Elektra; Euripides: Elektra)«?

Wenn man ihn noch heute fragt, warum er damals im Februar 1992 seinem Vater auf den Leim gegangen war, bekommt man zur Antwort: »Hybris. Wenn man nach seiner Promotion das Gefühl hat, eine Sache mit so viel Leidenschaft so sehr von allen Seiten durchdrungen zu haben, dann glaubt man, zu wissen, wie der Hase läuft. Dann hat man keinen Zweifel, dass man in der Lage ist, sich richtig zu entscheiden.« Und so fuhr Dr. phil. Karsten Hansen, nachdem ihm eine Habilitationsstelle in Athen angeboten worden war, zurück zu seinem Vater Dirk nach Lübeck, um mit ihm über seinen weiteren Lebensweg zu sprechen. Sollte er eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen oder lieber in das väterliche Unternehmen einsteigen und dieses später übernehmen? Es war ein offenbar profitables und renommiertes Textilunternehmen mit rund 250 Mitarbeiterinnen.

»In meiner Vermessenheit habe ich mir das Unternehmen nicht richtig angeschaut. Ich dachte ja, das kenne ich seit meiner Kindheit. Ich habe da ja seit meiner Schulzeit immer wieder mitgearbeitet. Aber viel schlimmer: Ich habe meinen Vater Dirk nicht verstanden, nein, nicht gekannt. Ich bin der Lebenslüge, die er sich und seinem gesamten Umfeld erzählt hat, aufgesessen. Es war die Geschichte eines willensstarken Mannes, der aus kleinbäuerlichen Verhältnissen stammend, ohne Vater mittellos aufgewachsen, ein solides Unternehmen aufgebaut hatte, das nun in der nächsten Generation zu weiterem Glanz geführt werden sollte. Und schnapp, machte die Falle zu.«

Diese Geschichte konnte man schon so erzählen, aber sie hatte deutliche Brüche. Denn das Unternehmen von Dirk Hansen war alles andere als solide. Dirk zog, wo er konnte, jede Mark aus dem Unternehmen, um seinen Lebensstil – inklusive einer Zweitfrau mit zwei weiteren Kindern – zu finanzieren. Geld bedeutete für Dirk Hansen Freiheit, und Freiheit bedeutete für ihn: Freiheit für Dirk Hansen – und für niemand anderen sonst. So wollte Dirk Hansen von vornherein einfach Cashflow erzeugen und keinen Unternehmenswert. Zufällig war er in der Textilbranche gelandet, nicht etwa aus Überzeugung. Doch das Ansehen als renommierter Unternehmer schmeichelte ihm, und er nutzte es für seine Geschichte.

Entsprechend war die Funktion seines Sohnes Karsten nicht, die Firma zu einem Imperium für die nächsten Generationen aufzubauen, Dirks Lebensleistung zu perpetuieren, sondern die eines nützlichen Idioten, der die Versorgung des Vaters mit Geld möglichst lange sicherstellen und den etwaigen Zusammenbruch des Unternehmens herauszögern sollte. Erst 1998 sah Karsten Hansen zum ersten Mal, dass es zu den offiziellen Bilanzen auch Ergänzungsbilanzen gab. Erst 2001, nachdem er mit der Drohung, alles hinzuschmeißen, durchgesetzt hatte, dass er Geschäftsführer wurde, sah er, dass die Eigenkapitalquote der HansenTextil-Gruppe bereinigt bei gerade mal bei 1 Prozent lag. Und jetzt, da die Banken mit ihm sprachen und nicht mehr mit seinem Vater, verstand Karsten Hansen, dass es seit Jahren schlicht ums Überleben ging.

Erst zu dieser Zeit erfuhr Karsten, dass die Lebensgeschichte von Dirk Hansen mehr war als die übliche Geschichte eines klassisch gefühlskalten, distanzierten Nachkriegsvaters, der kaum emotionale Nähe zu seinen Kindern zuließ. Mehr als die Erfolgsgeschichte einer traumatisierten Generation von in den letzten Kriegsjahren eingezogenen jungen Erwachsenen respektive Kindern, die, um Armut und Gewalt zu verdrängen, eine unglaubliche Energie in ihren beruflichen und finanziellen Erfolg steckten.

1938 war der Kleinbauernsohn Dirk Hansen einer von nur 30 Schülern des Gaus Ostpreußens gewesen, die für die neu gegründeten Adolf-Hitler-Schulen ausgewählt wurden. Das war ein stolzer und glücklicher Tag, nicht nur für den damals zwölfjährigen Dirk Hansen, sondern auch für seine Mutter. Für ihren Sohn zeichnete sich nach einer sechsjährigen Schulzeit eine goldene Zukunft in der Verwaltung des Großdeutschen Reiches ab. Welch ein sozialer Aufstieg. Ab diesem Tag wurde Dirk Hansen intensiver denn je auf die NS-Ideologie eingeschworen: Rasse, Feind, Führung, Gehorsam, Disziplin.

Mit dem Vorrücken der Ostfront änderte die NS-Elite ihre Prioritäten für ihre Eliteschüler und begann ab Ende 1943, ihre zukünftige Verwaltungselite für militärische Spezialeinsätze auszubilden. Wer eignete sich besser als Einzelkämpfer für Himmelfahrtskommandos hinter den feindlichen Linien als die Nachwuchselite, die fest auf Führer, Volk und Nation eingeschworen war, so wie Dirk Hansen? Und sie haben fraglos gehorcht – bis in den Tod. Kaum einer seiner Mitschüler hat den Einsatz überlebt. Hansen wurde mehrfach für seine Einsätze ausgezeichnet, bis er noch im Mai 1945 schwer verletzt wurde – wenige Tage vor Kriegsende. Er war immer noch vom Endsieg überzeugt.

Wie durch ein Wunder überlebte Dirk Hansen und kam nach drei Jahren Kriegsgefangenschaft in Sibirien Mitte 1948 zurück nach Deutschland und landete schließlich in Krefeld. »Für mich ist die Geschichte meines Vaters heute die eines Kindes, das sich nie von der Gehirnwäsche der NS-Ideologie und dem Trauma von Krieg und Lagerhaft befreien konnte. Im Grunde ist er immer ein Einzelkämpfer geblieben, ohne Freunde, ohne funktionierende familiäre Beziehungen – nicht mehr im Dienst von Führer, Volk und Vaterland, sondern nur noch im Dienst für sich selbst. Wenn mein Vater für mich eine Zumutung war, so sind meine beiden Halbgeschwister völlig an ihm zerbrochen«, resümiert Karsten heute.

»Erst als ich selber für das Unternehmen verantwortlich war, konnte ich sein Verhalten mit seinen Erlebnissen verbinden. So kollabierte die Geschichte eines erfolgreichen Familienunternehmers für mich endgültig: Der Erfolg war nur Mittel zum Zweck, es ging nicht um die gemeinsame Mission eines Familienunternehmens. Und auch den angeblichen Masterplan, als Einziger in einer angeschlagenen Branche zu überleben, hatten wir uns schlicht eingeredet. Eben wie in einer griechischen Tragödie: Der Protagonist stolpert in ein Geschehen, dessen tiefe Beweger er nicht versteht, die er erst im Laufe der Geschichte kennen lernt, und schließlich begreift, dass sie sein Schicksal werden, ihn vermutlich kleinmahlen und umbringen.«

Als Karsten in den Folgejahren die alleinige Verantwortung übernahm, gelang es ihm, das Ruder ein Stück herumzureißen. Bis Ende 2008 hatte die HansenTextil wieder eine Eigenkapitalquote von knapp 20 Prozent. Im Drama nennt man das »retardierendes Moment«: eine Szene, die nach dem Höhe- und Wendepunkt – hier die Übernahme des Unternehmens als Geschäftsführer – das Ende der dramatischen Handlung hinauszögert, indem sie kurzzeitig einen anderen Ausgang als erwartet möglich oder wahrscheinlich macht. Dadurch steigt die Spannung vor dem dennoch unweigerlichen Ende erneut an.12

Für dieses Ende sorgte die Finanzkrise 2008. Sie beschleunigte den endgültigen Tod einer Branche, die schon davor in Deutschland kaum lebensfähig gewesen war, und erst recht den Tod von HansenTextil. Während einige Textilfabriken das Ende ihres Geschäftsmodells erfolgreich durch massive Investitionen in Automatisierung, Technik und Massenproduktion herauszögerten und so der Billigkonkurrenz aus Fernost noch weiter trotzen konnten, blieb dieser Weg der ständig klammen HansenTextil verschlossen. Jedenfalls kollabierte in der Krise die Nachfrage nach qualitativ hochwertigen und teilweise noch handwerklichen Leistungen im Textilbereich fast vollständig. »Das ist das Erste, woran die Leute sparen.«

Auch Karsten Hansen wurde ab den 1990er Jahren ein Fachmann darin, Prozesse zu optimieren, Abläufe zu automatisieren und vor allem darin, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu entlassen. Doch mit der besser mit Kapital ausgestatteten Konkurrenz konnte er auf diesem Feld nicht mithalten. Das Erfolgsfeld der HansenTextil blieb die Fähigkeit, für qualitativ hochwertige Ansprüche handwerklich hoch qualifizierte Lösungen anzubieten. Doch während das zur Zeit von Karsten Hansens Einstieg im Jahr 1992 noch mehr als 60 Prozent der Wertschöpfung ausmachte, waren das im Moment der Insolvenz 2015 nicht mal mehr 10 Prozent. »Wenn der Teil der Leistung, in dem wir unsere Kompetenz ausspielen können, nur noch 10 Prozent ausmacht – dann ist das Ende absehbar.«

Die letzten Jahre der HansenTextil waren für Karsten, dem sein Beruf vom ersten Tag an keine Freude bereitet hatte, ein einziger Horror. Karsten schlief nachts selten länger als vier Stunden, nie länger als sechs. Seine Gesundheit und seine nervliche Belastbarkeit verschlechterten sich deutlich: Ohne dass er es damals schon richtig zuordnen konnte, entwickelte Karsten ein lebensbedrohliches Vorhofflimmern.

Die Insolvenz war dagegen fast eine Erleichterung. Mental ging es ab da nur noch um Trauerarbeit – nicht Trauer um das Unternehmen, sondern Trauer um den eigenen falsch eingeschlagenen Lebensweg. Ökonomisch verschlechterte sich seine Situation dagegen massiv: Da er zum Teil persönliche Bürgschaften gegeben hatte, ließ sich die Privatinsolvenz nicht verhindern. »Das musst du einfach aushalten«, sagte er sich immer wieder. »Aber wenn ich eines gelernt habe, dann das: aushalten.«

Ob ihm die Rolle als Unternehmer – immerhin über zwanzig Jahre Teil seiner Selbstdefinition – nicht fehlt? »Wenn Unternehmer sein heißt, anderen – Banken, Mitarbeitern, Kunden, der eigenen Familie und manchmal auch mir selbst – eine Geschichte von der glänzenden Zukunft eines untergehenden Schiffes zu erzählen, dann bist du auch einfach froh, dass du nicht mehr lügen musst. Dass Papa pleite ist, ist natürlich für meine Frau und die Kinder belastend, insbesondere meine fünfzehnjährige Tochter Marie hat sich fürchterliche Sorgen um die Zukunft gemacht. Am Ende aber waren alle froh, dass ich nicht mehr dauernd rumschreie und rumlaufe wie eine lebende Leiche.«

Wenn sich Karsten heute in das Jahr 1992 zurückdenkt, kommt er zwangsläufig auf das Thema seiner Dissertation zurück sowie auf die Frage, ob die Akteure in der griechischen Tragödie einen freien Willen haben: »Natürlich bin ich kein willenloses Opfer, ich habe mich selbst frei für diesen Weg entschieden. Aber ich bin einer Geschichte aufgesessen, die vermutlich von Anfang an darauf hinauslief, sich selber zu falsifizieren und sich zu zerstören. Im Rückblick gibt es zumindest nur noch diese eine Wirklichkeit, die Geschichte des Scheiterns. Ob mir, wenn ich 1992 anders abgebogen wäre, eine akademische Karriere gelungen wäre, werde ich nie erfahren – sehr wahrscheinlich ist das vermutlich nicht.«

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2016 wurde Karsten Hansen wegen seines Vorhofflimmerns am Herz operiert. Dass er zuvor keinen Schlaganfall erlitten hat, verdankt er vermutlich dem Umstand, dass er seit über zwanzig Jahren als Ausgleich täglich Aikido trainiert und meditiert. Er hat inzwischen den Meistergrad des 2. Dan erreicht.

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Dirk Hansen ist mittlerweile weit über 90. Ein eiserner Wille und eine gute genetische Disposition halten ihn am Leben. »Insofern hat die Knabenlese der NSDAP im Fall meines Vaters bestens funktioniert.« Mit seiner NS-Vergangenheit hat ihn Karsten Hansen erstmals vor ein paar Jahren konfrontiert – ohne sichtbaren Erkenntnisgewinn. Die beiden haben keinen Kontakt mehr.

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Die drei Kinder von Karsten Hansen finden ihren Papa inzwischen wesentlich cooler als vorher. »Aber vielleicht ist auch das wieder nur Ausdruck meiner Hybris«, schmunzelt er selbstironisch.

350 000 US-Dollar

Sehr geehrter Doktor Brown,

falls irgendwie der Eindruck entstanden sein sollte, dass Alberto ein Snob und Hochstapler gewesen wäre – das war er ganz und gar nicht. Nein, er war ein echter Gentleman, »a man who kept his form« und ein Fitzcarraldo vor dem Herrn. Man muss ihn sich als eine Mischung aus Michelle Piccoli, dem argentinischen Nationaltrainer und Kettenraucher Menotti und Jeff aus La Grande Bellezza vorstellen. Ein eleganter Typ mit unendlich viel Stil, wie aus einem Fellini-Film, der einen Raum nicht nur mit seinem Zigarettendunst, sondern vor allem mit seiner Präsenz füllen konnte.

Ich bin Alberto Perotti in der zweiten Hälfte der Neunziger an einem herbstlichen, sonnigen Tag auf einem winzigen Golfplatz, eher einer Driving Range, mitten im Hinterland von Mailand vorgestellt worden. Hinterland ist übrigens ein Begriff, den die Italiener aus dem Deutschen übernommen haben. Der Golfplatz an sich besteht aus vier Löchern, das erste ist zwölf Meter lang: elf Meter über einen Teich und dann ein Grün von einem Quadratmeter – wirklich schwierig anzuspielen. Alberto ist dort nur sonntags und nur zum Mittagessen hingefahren, denn die Signora war bekannt für ihr fantastisches Essen, das es nur sonntags gab: Pasta, gebratenes Kaninchen, dünn aufgeschnitten, und dazu einen Landwein. Er saß also an einem Tisch mit noch vier oder fünf Männern und war in eine heftige Diskussion verwickelt, als mich die Signora an den Tisch dazusetzte. Für die nächsten zwei Jahre waren wir unzertrennlich. Alberto konnte auch etwas Deutsch, weil er den Heidegger im Original lesen wollte und zudem mal mit einer superreichen Schweizer Industriellen verheiratet gewesen war.

Unsere Büros waren zufällig in derselben Straße, und wir trafen uns jeden Mittag zum Essen. Wir waren in keinen teuren Restaurants, aber wir haben immer fantastisch gegessen. Wenn Alberto etwas wusste, dann das: wo man angemessen speisen konnte. Er konnte stundenlang komische Geschichten erzählen, und jede Geschichte hatte eine Pointe. Er war der unterhaltsamste Mensch der Welt und zugleich ein Visionär und Fantast.

Zu der Zeit gab es die ersten Internet-Broker: ETRADE, Charles Schwab – die anderen Namen fallen mir nicht mehr ein. Ich war damals Daytrader. Abgesehen davon, dass das generell keine wirklich gute Idee war, hatte Alberto definitiv viel zu wenig Geld, um damit zumindest theoretisch genug zu verdienen. Um schneller an Geld zu kommen, hatte er es deshalb mit Optionen probiert, was natürlich nach kurzer Zeit schiefging.

Alberto war kein Hochstapler, sondern er erzählte die Geschichten auf seine Weise. Beispielsweise wollten die Leute von ihm immer wissen, wo sein Sohn gerade sei, und er antwortete: »Er ist in Oxford.« Auf meine Nachfrage, was er dort studiere, meinte er, dass er gar nicht studiere, es sei genug, in Oxford zu feiern. Er war auch an einem Factory-Outlet an der Grenze zum Tessin beteiligt. Anfangs bestand das Outlet nur aus einem Laden, über den sie Outlet geschrieben hatten. Nachdem der Laden so gut lief, bauten sie schließlich auch die Factory dazu.

Eines Tages tauchte Marinella beim Mittagessen auf. Marinella war so Ende 30 und eine hoch talentierte Zeichnerin bei einem bekannten italienischen Designer, für den sie die Kollektionen gemalt hatte. Alberto hatte nun die Idee, ein Internetportal zu bauen, auf dem man Kleider bestellen kann. Aber das allein war Alberto viel zu primitiv. Seine Einsicht: Kleidung ist immer nur im Kontext zu verstehen. Also ein Smoking wirkt zum Beispiel auf einer Baustelle lächerlich, bei einem Abendempfang dagegen völlig normal. Was auf einer Strandparty gut aussieht, ist bei einem Business-Meeting unangebracht. Seine Idee war nun, dass man zuerst den Kontext wählt und dann die entsprechende Kleidung vorgeschlagen bekommt. Das war der erste Teil der Idee.

Der zweite Teil bestand darin, dass man sich einmal per Laser vermessen lässt und für den Rest seines Lebens auf diese Daten zugreift und praktisch maßgeschneiderte Kleidung bekommt – Personalisierung in ihrer Endform. Mitte der Neunziger war Alberto, der Visionär, seiner Zeit damit um Lichtjahre voraus. Die meisten Menschen hatten bis dato kaum mitbekommen, dass es so was wie das Netz überhaupt gab. Dazu fand Alberto auch noch einen Ingenieur, der einen Laser, den man auf Baustellen einsetzt, so umbauen wollte, dass man einen Menschen digitalisieren kann. Wie beim guten Schuhmacher das Holzmodell. Alles, was noch fehlte, war Geld.

Da erinnerte sich Alberto an einen alten Schulfreund, Marco de Santi, der CEO einer großen Möbelkette geworden war. Dem hat er dann einen Internet-Konfigurator für individualisierte Einbaumöbel und -küchen versprochen. Alberto dachte sich dabei: »Wenn es mit Menschen und Kleidung funktioniert, dann geht es auch mit Einbaumöbeln.« De Santi wiederum, der das Geld – als Großauftrag deklariert – aus der Firmenkasse abgezweigt hatte, war das Projekt weitgehend egal. Was ihn interessierte, war, wie er für sich und seine »Freunde« ordentlich Kickback aus dem Auftrag abzweigen konnte. Und weil de Santi schon irgendwie ahnte, dass Alberto nicht ganz mit offenen Karten spielte, war er sich sicher, dass er dabei ziemlich großzügig zulangen konnte.

So flossen schließlich 2 Millionen US-Dollar an eine obskure Offshore-Firma, die mit der Entwicklung des Konfigurators beauftragt wurde. Albertos Freude war allerdings etwas geteilt, denn schon am nächsten Tag tauchte der erste »Berater« auf, der für 20 Minuten Kaffeetrinken 50 000 US-Dollar für »ein strategisches Technikprojekt AOL-Anbindung« in Rechnung stellte. Wir mussten Visitenkarten abnehmen – 20 000 US-Dollar für 100 Stück – und Business-Pläne bezahlen, die wir vorher selbst geschrieben hatten. Bezahlt wurden die Berater mit Verrechnungsschecks, die dann über Umwege irgendwann auf einem Schweizer Nummernkonto und damit wieder bei Marco de Santi landeten – natürlich nachdem jede Menge Zwischenwirte und Helfer ihren Anteil abgebissen hatten. Ich natürlich auch ein bisschen. Das ging immer so weiter, bis die erste Million wieder beim Sponsor des Projekts gelandet war.

»Als reicher Mann war Allmen ein überaus großzügiger Gläubiger gewesen. Und jetzt, in seiner Rolle als Schuldner, erwartete er die gleiche Geduld und Großmut von seinen Gläubigern. […] Er hatte keine Schulden. Er hatte offene Posten, Ausstände, Saldi, Pendenzen. Gläubiger und Schuldner begegneten sich mit dem Respekt, den jene sich zollen, die aufeinander angewiesen sind.«

Martin Suter, Allmen und die Libellen16

Die zweite Million und damit der Großauftrag interessierte de Santi danach relativ wenig – für ihn war das Geschäft jetzt schon gelungen. Wie bei allen Internetfirmen war unsere Burn-Rate enorm. Denn mein Freund Alberto hatte neben dem Ingenieur und Marinella auch mehrere Berater aus der Modebranche engagiert, dazu vermeintliche Internet-Gurus und zwei Assistentinnen. Nach vier Monaten waren nur noch 400 000 US-Dollar übrig, als man tragischerweise bei Marinella Knochenmarkkrebs feststellte. Unheilbar, außer es würde sich ein Knochenmarkspender finden. Nach ein paar Tagen hatte Alberto in den USA einen Spender, einen 150 Kilo schweren Amerikaner aufgetan, dessen Knochenmark passen würde und der bereit war, zu spenden. Die ganze Aktion sollte inklusive Flügen, Behandlung und Klinikaufenthalt unglaubliche 350 000 US-Dollar kosten – 210 000 US-Dollar allein für den Spender, der sich damit seine Großzügigkeit und die zu erwartenden wohl höchst unangenehmen Schmerzen vergolden ließ.

Alberto hat dann alles Geld der Firma zusammengekratzt und dem Amerikaner überwiesen. Und da de Santi mit seinem Teil des Deals hoch zufrieden war und den Auftrag in seinem bestens geschmierten Unternehmen geräuschlos abschreiben konnte, kam Alberto mit diesem liberalen Umgang mit den Firmengeldern ungeschoren davon. Marinella kehrte nach einigen Monaten zurück, zwar ohne Haare, aber lebendig. Die Firma musste allerdings Insolvenz anmelden, ohne jemals irgendetwas Vorweisbares hervorgebracht zu haben … aber in jedem Fall etwas Sinnvolles. Alberto hat sich dann seinem nächsten Projekt gewidmet.

Ich habe ihn noch öfter getroffen. Letztlich war er wie schon zu der Zeit, als ich ihn kennen lernte, immer klamm. Aber über Geld, auch über die Pleite seines Mode-Start-ups, hat er sich nie wirklich erregt. Ich habe ihn überhaupt nur einmal hoch emotional und erbost erlebt – als er sich mit meiner damaligen Frau Emilia über die richtige Zubereitung des traditionellen Neujahrsessens »Cotechino con Lenticchie«15 dermaßen in die Haare geriet, dass er anschließend Hausverbot bekam. In den Jahren nach der Rettung Marinellas habe ich ihm immer wieder mal ein paar Tausend Euro »geliehen« oder ihm einen Auftrag zukommen lassen, den er dann nicht wirklich abwickelte.

Vier Jahre später trafen wir uns noch einmal in seinem Golfclub in der Nähe von Como. Dort hat man ihn freundlichst und mit großem Respekt behandelt, obwohl er wohl seit zehn Jahren seinen Clubbeitrag nicht mehr bezahlen konnte. Aber irgendwie ist es dort ein bisschen so wie beim verarmten englischen Landadel: Man kann so pleite sein, wie man will, letztlich gehört man immer noch dazu. Wir haben fantastisch gegessen und uns die edelsten Weine aus dem Keller kommen lassen. Die Rechnung haben wir dann anschreiben lassen, und irgendwer aus seiner Schweizer Familie wird sie wohl übernommen haben. Ja, ökonomisch war Alberto gescheitert, aber in seiner Haltung und Lebensart war er immer vornehm. Wie gesagt, er war sicher kein Hochstapler und auch kein Snob, sondern ein Visionär, Lebenskünstler und Gentleman, vielleicht der Letzte seiner Art.

Mit besten Grüßen

Jörg Mühlbauer

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Anfang der 2000er erwarb Alberto einen verfallenen Palazzo auf Sardinien, um ihn in ein Boutique-Hotel umzuwandeln. Mangels Budgets kaufte er zunächst nur die erste Etage. Das Projekt scheiterte, da der ehemalige Inhaber und Besitzer des Erdgeschosses sich weigerte, Alberto die Nutzung des gemeinsamen Treppenhauses zu gestatten.

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2008 verstarb Alberto völlig verarmt an einem Gehirntumor. Er wurde achtundsechzig Jahre alt.

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Ein Angehöriger aus seiner hochvermögenden Verwandtschaft übernahm schließlich den Palazzo und erwarb auch das Erdgeschoss. Er betreibt dort heute ein sehr gefragtes Luxusresort.

Fazit

Toxische Glaubenssätze I: Misserfolg sicherstellen

Glaubenssätze zum Thema Geld haben immer einen wahren Kern und insofern auch ihre Berechtigung.17 Das Problem ist, dass sie fast immer absolut genommen und selten hinterfragt werden. Im Juli 2022 haben uns viele Leser unseres Blogs ihre persönlichen Glaubenssätze zugeschickt. Einige habe ich in dieses Buch aufgenommen. Sie erkennen sie an der Datierung auf Juli oder August 2022.

WIE MAN SOZIALEN AUFSTIEG VERHINDERT

»Wir Grammüllers haben nie Glück mit Geld gehabt.«

Elke G. (42) zu Renate G. (9) (Mai 1969).

Renate G. (25) nach ihrem Studium im Oktober 1985.

Renate G. (62) sieht sich und ihre Mutter angesichts drohender Altersarmut bestätigt (Oktober 2022).

»Oper ist was für Bonzen.«

Meike N. (8) (Dezember 1977).

»Habt ihr den Hund eigentlich, damit er auf euer vieles Geld aufpasst?«

Meike N. (8) (Juli 1978).

»Des han Bessane, des is ka gscheide Freindin füa di.«

Magda K. (42) sorgt dafür, dass ihre Tochter Meike keine Freundschaften außerhalb der eigenen Schicht schließt (September 1988).

WIE MAN VERMÖGENSBILDUNG BLOCKIERT

»Geld muss fließen.«

Sebastian F. (21), Zivildienstleistender (August 1993); Sebastian F. (50), technischer Leiter (August 2021).

»Easy come, easy go.«

Magda F. (42), Malerin (März 2009).

»Last in, first out.«

Heike L. (52), Journalistin (August 2022).