200 000 000 Euro

Wir alle lieben Betrüger. Sie nicht? Ich schon. Nicht alle Betrüger, aber gibt es da nicht großartige Typen, mit einer unglaublich fantasievollen kriminellen Energie – Stoff für Kinofilme und spannende Dokumentationen?45 Etwa Charles Ponzi, der geniale Erfinder des Schneeballsystems; Bernie Madoff, der die feine Gesellschaft, die ihm zum Teil buchstäblich vor der Toilette aufgelauert hatte, um bei ihm investieren zu dürfen, um rund 65 Milliarden US-Dollar schädigte; »Milliarden-Mike« Mike Wappler oder Jürgen Harksen,46 die zwar beide faktisch Analphabeten waren, aber es trotzdem schafften, dass ehrbare und knickrige Hamburger Kaufleute in die irrsten Fantasiegebilde investierten – etwa in die Bergung eines versunkenen Nazi-Schatzes. Und kennen Sie Wolfgang Beltracchi? Seine Kunstfälschungen brachten ihm und seiner Frau nicht nur schätzungsweise 20 bis 50 Millionen Euro und eine mehrjährige Haftstrafe ein, sie sahen teilweise besser aus als die gefälschten Originale und werden heute als echte Beltracchi-Fälschungen gehandelt.47 In den Worten der Zeit: »In einer Welt jenseits des Rechts wäre Beltracchi kein Lump und kein Hochstapler, er wäre ein großer Künstler.«48

Mein absoluter Favorit ist Konrad Kujau, der legendäre Fälscher der Hitler-Tagebücher. Wie kann man so humorlos sein, eine solch kreative politische Performance-Art mit viereinhalb Jahren Gefängnis zu bestrafen? Gut, er hat den Stern um 9,3 Millionen D-Mark betrogen – aber waren die nicht irgendwie selbst schuld, so viel Geld für des »Führers« angebliche Verdauungsprobleme auszugeben? Nur um das klarzustellen: Bei aller Bewunderung ist es natürlich richtig, dass auch er am Ende ins Gefängnis wanderte. Ein Bundesverdienstkreuz hätte er nach der Entlassung trotzdem verdient. Ja, mir fällt es schwer, keine Sympathien für diese Robin Hoods in eigener Sache zu haben … so viel (kriminelle) Fantasie, gepaart mit einer unglaublichen Naivität und Gier der gut betuchten Opfer.

Ich mag Betrüger, aber wie gesagt nicht alle. Denn neben diesen Künstlern ihres Fachs gibt es eine Betrugsmasche, die – zumindest in Deutschland – völlig legal ist: der provisionsgetriebene Finanzvertrieb. In den oben schon zitierten Worten von Milliarden-Mike: »Das sind die Banker, die armen alten Damen riskante Anlagen andrehen.«

Die Finanzlobby hat in Deutschland 1 500 Mitarbeitende und ein jährliches Budget von mindestens 200 Millionen Euro.49 Die stellen bis dato ziemlich erfolgreich sicher, dass der Missstand eklatanter Interessenkonflikte zwar immer kleinteiliger reguliert und dokumentiert wird,50 aber im Grunde genommen ungebremst weitergeht – der Schock von 2008 hat daran wenig geändert. Was viele nicht verstehen: Schlechte Finanzberatung ist in erster Linie keine Frage mangelnder Moral der Mitarbeitenden – sie ist systembedingt. Solange Banken und andere Finanzberater von der Finanzindustrie über Provisionen bezahlt werden, gibt es einen diametralen Interessenkonflikt: immer, überall, ohne Ausnahme. Nicht Sie bezahlen Ihren Berater dafür, dass er Sie objektiv berät, sondern der Hersteller des Finanzprodukts bezahlt Ihren Verkäufer, dass er Ihnen ein möglichst lukratives Produkt verkauft – also lukrativ für die Finanzindustrie, nicht für Sie. Das ist das kleine Einmaleins des Kapitalismus: Wer zahlt, schafft an. Dabei bleiben Ihre Interessen automatisch auf der Strecke. So einfach ist das. Und damit es auch der Letzte in aller Deutlichkeit versteht: Die Provision bezahlt der Produkthersteller nicht aus irgendeinem imaginären Geldtopf, der ihm vom Universum zur Verfügung gestellt wird, sondern er zweigt es eins zu eins von dem Geld ab, das Sie gerade investiert haben – von Ihrem Geld.

Das Kernproblem bei der Provision ist nicht, dass Ihr Finanzberater bezahlt werden muss. Natürlich muss der von etwas leben und kann nicht umsonst arbeiten. Das Problem ist eine immer noch gewaltige Intransparenz: Viele Provisionen – gerade die laufenden Zahlungen – sind für einen Laien bis heute faktisch nahezu unsichtbar. Da müsste man schon die Produktinformationsblätter und Prospekte im Detail durchkämmen. Noch schlimmer: Unterschiedliche Produkte bringen dem Verkäufer unterschiedlich hohe Provisionen – geschlossene Beteiligungen bis zu 10 Prozent, Aktienfonds oder Zertifikate 5 Prozent, ein ETF oder eine Staatsanleihe aber nur 1 oder 0,5 Prozent.

Was wird Ihnen Ihr Verkäufer also empfehlen? Was wäre, wenn der richtige Rat lauten würde: »Machen Sie mal im Moment am besten gar nichts!« Ist das realistisch, dass Ihnen das Ihr Verkäufer sagt? Natürlich tut er das nicht, das kann er gar nicht, ohne mittelfristig zu verhungern oder seinen Job zu verlieren. Denn faktisch steht er unter einem immensen Verkaufsdruck seitens seines Arbeitgebers oder als Selbstständiger, weil er seine Rechnungen bezahlen muss. Mit Ihrem Bankverkäufer oder »unabhängigen« Finanzberater zu reden, ist also nicht nur sinnlos, es ist gefährlich. Mag er noch so freundlich und sympathisch sein ‒ er ist Teil eines gegen Ihre Interessen gerichteten Systems.

Obwohl die meisten Menschen Banken massiv misstrauen, ändert sich faktisch wenig. Denn es vertrauen zwar nur 17 Prozent aller Deutschen den Banken, aber 60 Prozent vertrauen immer noch ihrer Bank beziehungsweise ihrem Banker.51 Und so geht der Provisionsvertrieb nach wie vor ungebremst und ungeniert weiter, ja, er geriert sich mitunter sogar als soziales Engagement für die breite Masse.52 Provisionsgeschäft und Verkaufsdruck hinterlassen bis heute eine überdeutliche Spur in den Kundendepots. Was ich heute wöchentlich an Unsinn, Interessenkonflikten, versteckten Provisionen und intransparenten Risiken zu sehen bekomme, unterscheidet sich kaum von den Depots vor zehn Jahren. Von der Großbank über Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken bis hin zum kleinen, edlen Privatbankhaus betrifft das alle. Mal etwas zurückhaltender, meist überdeutlich.53

Bitte geben Sie sich nicht der Illusion hin, dass Banken zwar ganz furchtbar sind, ein »unabhängiger« Finanzberater Sie dagegen aber ganz sicher objektiv berät. Wenn er über Provisionen vergütet wird, wenn er nicht explizit und nachweisbar als Honorarberater arbeitet, ist er ein Verkäufer. Immer. Punkt. Keine Diskussion.54

Dabei wäre alles so einfach: Ein komplettes Provisionsverbot, wie es Verbraucherschützer oder die Bürgerbewegung »Finanzwende« fordern, ist kein Hexenwerk. Im Vereinigten Königreich, den Niederlanden und Australien funktioniert das auch. Deutschland bleibt hier weiter Entwicklungsland und die Bankenlobby nach wie vor bestens vernetzt mit den politischen Entscheidern. Nicht zuletzt mithilfe einer hoch tendenziösen »Studie« von KPMG ist es ihr nach der Bundestagswahl 2021 noch einmal gelungen, ein drohendes Provisionsverbot abzuwenden.55 Das ist beim besten Willen nicht einzusehen. Steuerberater werden auch nicht vom Finanzamt bezahlt. Anwälte verlieren ihre Zulassung, wenn sie Gelder der Gegenseite annehmen – das nennt man Mandantenverrat. Weshalb Mandantenverrat in einem der wichtigsten Lebensbereiche, wo es um Ihre Lebensqualität, Ihren Lebensstandard im Alter oder die Ausbildung Ihrer Kinder geht, legal sein soll, ist nicht zu verstehen.

4,5 Prozent

Irgendwie hatte es Jona hierhin verschlagen, in diese verrückte, eher irrsinnige Bankenwelt. Wie, das verstand er selbst nach zweieinhalb Jahren immer noch nicht ganz. Er hatte die Geschichte, wie man vom Historiker zum Banker wird, so oft und so unterschiedlich erzählt, dass er inzwischen selbst nicht mehr wusste, was wahr war.

Tatsache war: Mit einem brotlosen Studium, einem zweijährigen Sohn und einer schwangeren Frau musste irgendwo ein Einkommen her. Double kids, no income. Ausgezeichnete Promotion hin oder her: Eine akademische Karriere war alles andere als planbar. Zumindest wusste Jona nicht wie. Ein Glück, dass dank der Dotcom-Euphorie kaum noch ein akzeptabel guter BWLer mehr Lust auf so etwas Dröges hatte wie das Privatkundengeschäft. In der Not frisst der Teufel Fliegen. Und in dem Fall war die Fliege eben Jona gewesen und der Teufel die Personalabteilung einer eher mittelmäßig renommierten Großbank.

Immer noch kam ihm ein Hungerstreik, eine Hinrichtung oder ein nationalistisches irisches Propagandablatt aus den 1920er Jahren viel realer vor als ein Investmentfonds oder ein Bausparvertrag. Die Unlogik steiler Hierarchien, das Bestrafen logischen selbstständigen Denkens waren ihm noch immer fremd. Immer noch war da das Gefühl, letztlich ein Hochstapler zu sein, der irgendwann auffliegen würde. Allerdings wirkte es nicht mehr so bedrohlich wie früher. Denn dass die meisten Kollegen im Grunde nicht viel mehr wussten als er, war Jona mittlerweile auch klar. Inzwischen war er sich ziemlich sicher, langfristig davonzukommen. Es wurde Zeit, das Programm zu wechseln: von überleben und nicht auffallen zu glänzen und vielleicht sogar Karriere machen. Möglichst mit wenig Aufwand.

Vielleicht war Jona nicht schon seit zwanzig Jahren in der Bank wie die meisten seiner Filialleiter-Kollegen, hatte sich nicht von unten nach oben gebuckelt und getreten, und vermutlich kannte er immer noch nicht den Unterschied zwischen Lastschrifteinzug und Abbuchungsauftrag. Aber gerade, weil ihm alles so irreal vorkam, hatte Jona eines vielleicht besser verstanden als die gelernten Banker: Bankenvertrieb war keine rationale Sache. Es ging nicht darum, möglichst hohe Erträge zu erwirtschaften, und natürlich ging es schon gar nicht darum, Kunden zu beraten. Bankvertrieb war ein Spiel, in dem es darum ging, sich bestmöglich zu positionieren, bei »politisch« wichtigen Verkaufsaktionen gut auszusehen und sich ein gutes bankinternes Netzwerk aufzubauen. Das Wichtigste aber war, nicht nur zu erkennen, auf welchen Produkten heute der »Fokus« lag, sondern welche Sau als Nächstes durchs Dorf getrieben würde, und entsprechend vorzubauen. Und er hatte Glück: Sein kleines Vertriebsteam war ziemlich motiviert und heilfroh, einen Chef zu haben, der selbst ganz gut verkaufen konnte und von den frohen Botschaften der Geschäftsleitung so wenig wie möglich nach unten weitergab.

Bankhierarchie: Die weibliche Form ist – im Regelfall – nicht mitgedacht

Da kam Jona eine auslaufende Sonderzinsaktion gerade recht: Die Bank hatte im letzten Sommer mit einem irrwitzigen Marketingaufwand neue Kundengelder »hereingeholt«. Das maximal erklärungsarme Produkt war ein Sparbuch mit einem garantierten Zins von 5 Prozent für die ersten sechs Monate. Das war auch 2002 schon mehr als 1 Prozent über dem marktüblichen Niveau. Jetzt machte die Bank dieser Subvention ein Ende, und es wurde Zeit, die eingesammelten Gelder zu »veredeln«, bevor die Kunden dem nächsten Lockangebot der nächsten Bank hinterherreisten.

Fast zeitgleich begannen nun fast alle anderen Filialen, sich die Finger wund zu telefonieren, um den neu geworbenen Kunden den entsprechenden Fonds des Monats anzudienen. Mit überaus mäßigem Erfolg, denn Kunden, die sich für ein einfaches Produkt mit hohen Zinsen entschieden haben, wollen vor allem das: ein einfaches Produkt mit hohen Zinsen. Zinshopper wären keine Zinshopper, wenn sie Lust auf Kapitalmarkt hätten. Und falls doch? Warum sollten sie mit einer Bankerin reden, zu der sie so gut wie keine Beziehung hatten? Schließlich waren sie ja erst seit Kurzem Kunden und das auch nur mit einem einzigen Produkt.

Jonas Team – das den Fonds des Monats schon in den zwei Wochen zuvor häufig genug verscherbelt hatte – wählte eine andere Strategie. Katja, eine seiner beiden Beraterinnen – na ja, präziser Verkäuferinnen –, war aufgefallen, dass die mit der Bank kooperierende Bausparkasse die letzte Zinsentwicklung an den Märkten noch nicht in ihre Verträge übernommen hatte. Im Klartext: Wer heute einen Bausparer abschloss, bekam ab dem ersten Tag 4,5 Prozent Guthabenzinsen – ein Angebot, das man am Markt lange suchen konnte. Dazu musste man nur 45 Prozent der Bausparsumme in einen sogenannten Sofortauffüller einzahlen und dann tunlichst nicht weitersparen, damit der Bausparvertrag möglichst nicht fällig wurde. Dann konnte man – zumindest theoretisch – bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag den vereinbarten Guthabenzins kassieren.

»Also, Chef, was ist denn jetzt am wichtigsten: Wertpapiergeschäft, Kredit, Versicherungen?«

»Alles ist am wichtigsten.«

»Aha.«

Regionalfilialleiter von Grafental (54) tut sich im Gespräch mit  einem Mitarbeiter etwas schwer damit, Prioritäten zu setzen (Januar 2006).

Schon in dem Moment, wo Jonas Team den Kunden das Produkt verkaufte, war es ein Verlustgeschäft für die Bausparkasse. Mit sinkenden Zinsen wurden Produkte wie dieses zu riesigen – teils existenzbedrohenden – Geldvernichtungsmaschinen für die Bausparkassen. Jona und seinem Team war das herzlich egal. Wenn im üblichen Spiel des Bankvertriebs im Regelfall der Kunde den Schwarzen Peter hatte, dann war es halt diesmal umgekehrt. Selber schuld.

Hier war es also das Traumprodukt für den Zinshopper: einfach, planbar und hohe Zinsen. Und das alles, ohne in Zukunft dauernd mit dem Geld umziehen zu müssen.

Aber es kam noch besser:

  1. Für einen Bausparer gab es 2,1 Prozent Provision. Nicht nur auf die eingezahlte Summe, sondern auf die sogenannte Bausparsumme. Wenn der Kunde 45 000 Euro einzahlte, lag diese Bausparsumme bei 100 000 Euro – es gab also 2 100 Euro Provision. Das waren bezogen auf den Sparbetrag 4,7 Prozent – fast so viel wie bei einem Investmentfonds.

  2. Die Bank im Allgemeinen und das Münchner Gebiet im Besonderen waren beim Thema »Allfinanz« – also Bausparer und Versicherungen – sehr, sehr mittelmäßig, nein, lausig unterwegs. Bausparer zu verkaufen, das war was für Finanzvertriebe, die meisten Banker betrachteten sie schlichtweg als unter ihrer Würde.

  3. Dementsprechend lag die Latte bei diesem Thema erfreulich niedrig, und während im Wertpapierbereich die Uhr alle zwei Monate auf null gestellt wurde und das »Rattenrennen« von vorn begann, gab es hier Jahresziele. Und es war erst Februar! Jetzt einmal Gas geben und den Rest des Jahres seine Ruhe haben und sich im Erfolg sonnen.

  4. Als absolute Sahnehäubchen gab es für alle Verträge mit einer abgeschlossenen Bausparsumme in Höhe von 10 000 Euro in den ersten drei Monaten 20 Euro in die Teamkasse der Filiale. Das war eine absolute Ausnahme in der in dieser Hinsicht sehr geizigen Bank und ein weiterer Beleg dafür, wie verzweifelt man den Absatz dieser Produkte anschieben wollte.

In den nächsten vier Wochen schrieb Jonas Team einen Bausparer nach dem anderen. Ende Februar war das Jahresziel mit 258 Prozent übererfüllt. Das für die Controlling-fixierten Führungskräfte so hoch interessante Zeitziel stand bei fabelhaften 1 548 Prozent. Die Bausparkasse überwies der Teamkasse der kleinen Filiale satte 800 Euro.

190/125 mm HG

Die Gebietsfiliale München war (mal wieder) Letzter ‒ beim Versicherungsabsatz von 20 Einheiten in ganz Deutschland: München, Platz 20. Der Druck auf Johannes Nothing war inzwischen immens. Vor vier Jahren hatte ihn der Vorstand nach München entsandt, um den Laden auf Vordermann zu bringen. Die Ergebnisse: enttäuschend. Diese Enttäuschung hatte auch Markus Segnung, der Privatkundenvorstand, gegenüber Nothing in einem strukturierten Einzelgespräch in der nötigen Verbindlichkeit zum Ausdruck gebracht. Sprich: Er hatte ihn zehn Minuten angebrüllt.

Wenn das so weiterging, war Nothings Zeit in München gezählt ‒ und damit Dienstwagen, Vorzimmer, vor allem aber seine Karriere inklusive gesellschaftlichem Status und ansprechendem Gehalt im unteren bis mittleren sechsstelligen Bereich. Nothing schwitzte, die Halsschlagader war geschwollen, der Blutdruck gesundheitsgefährdend hoch: 190/125 Millimeter Quecksilbersäule – Tendenz steigend. Gut, dass sein Kardiologe das nicht mitbekam, der hatte ihn gerade letzte Woche noch mal sehr besorgt zur Seite genommen. In dieser Stimmung marschierte Nothing den Gang hinab in den Sitzungssaal, in dem einer seiner Regionalleiter, Herr von Grafental, gerade seine vierzehntägige Filialleiterrunde abhielt. Von Grafental war einer der beiden Regionalleiter, die Nothing noch nicht ausgetauscht – also gefeuert ‒ hatte. Das bereute er jetzt.

Als Nothing den Sitzungssaal betrat, waren alle Filialleiter schlagartig wieder wach. Die narkotische Wirkung von dreieinhalb Stunden Zahlen deklinieren und Vertriebsziele durchkauen war wie weggeblasen. In von Grafentals Augen flackerte Panik. Nothing hatte ihn die letzten Monate immer wieder »in den Fokus genommen«. Seine Vertriebszahlen waren mäßig. Zudem war er 54. Das war ein ganz schlechtes Alter in einem Unternehmen, das bei seinen Führungskräften auf jugendliche Dynamik setzte. Ein Unternehmen, in dem angeblich eine 55er-Liste kursierte, sprich eine Vorgabe des Vorstands, Führungskräfte über 55 beim leisesten Zweifel an deren Durchsetzungswillen unbürokratisch abzufinden.

Nothing kam ohne größere Umschweife zum Thema: »Also, was mit Ihnen eigentlich los ist, da fehlt es mir an jeeeglichem Verständnis.57 Können Sie nicht? Oder wollen Sie nicht? [drei Sekunden Kunstpause] Oder beides?« Daraufhin wurde von Grafental fünf Minuten öffentlich lektoriert. Über ein »Ah« oder »Also« kam er nicht hinaus. Doch damit nicht genug. Nothing übernahm nun selbst das Ruder, befragte jeden Filialleiter, jede Filialleiterin einzeln: »Wo stehen Sie heute?« – »Wie gehen Sie vor?« – »Schaffen Sie das?«

Zehn erwachsene Menschen von der jungen Filialleiterin Wolf bis zum erfahrenen Gruppenleiter Gruber – sie alle wussten, dass es wahrscheinlicher ist, dass der FC Alte Haide Deutscher Meister wird, als dass die Region in den verbleibenden zwei Wochen ihr Versicherungsziel noch erreichen würde. Aber alle antworteten brav: »Ja, das schaffen wir!« Mehr noch, sie erklärten auch noch genau wie: systematische Ansprache aller Kunden, vor allem aber tägliches Nachfassen der Ziele bei ihren Mitarbeiterinnen. Das war das, was Nothing am liebsten hörte: Man müsse die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur »konsequent genug einbinden« – also ordentlich unter Druck setzen.

Als der Filialleiter Schwarz an der Reihe war, kam er auf die – rückwirkend vollständig abwegige – Idee, einen Schuss Realität in die Diskussion zu bringen. Schwarz galt beim Thema Versicherungsvertrieb als relativ erfolgreich, und seine Einheit war die einzige, die im Zielkorridor lag. Andernfalls hätte auch er schön die Klappe gehalten respektive Geschichten erzählt, wie seine Filiale das noch hinkriegen werde. Stattdessen versuchte er vorsichtig, den Kollegen zur Seite zu springen: »Herr Nothing, bei allem Respekt, zweifellos ist das Vorgehen der Kollegen absolut richtig, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit konsequenter Ansprache das Jahresziel sicher erreichen werden. Meiner Erfahrung nach ist das Thema Versicherungsvertrieb allerdings ein relativ langwieriges. Da kann man nicht so schnell Strecke machen wie beim Wertpapier. Man muss das Thema beim Kunden erst mal platzieren und dann immer wieder konsequent nachhalten – zwei Wochen sind da einfach nicht sehr realistisch. Ich würde vorschlagen, wir legen jetzt den täglichen Fokus darauf, in spätestens zwei Wochen beginnen die Maßnahmen zu greifen und in zehn bis zwölf Wochen haben wir kein Problem mehr.«

Sie meinen, das sei jetzt von Herrn Schwarz ausgesprochen zurückhaltend gewesen, ja fast unterwürfig? Korrekt. Sie glauben, das Versicherungsziel sei auch in zwölf Wochen nicht erreichbar? Absolut richtig. Sie denken, Herr Nothing habe sich auf Schwarz‹ Vorschlag vielleicht doch eingelassen? Völlig falsch! Was Schwarz jetzt erlebte, war Nothings Fähigkeit, ausgesprochen unmissverständlich zu kommunizieren. Der Einzige, der jetzt noch hätte einschreiten können, wäre Nothings Kardiologe gewesen. Aber der bekam natürlich nicht mit, in welcher Gefahr sein Patient schwebte. Als Schwarz eine Stunde später aus dem Sitzungssaal schwankte, hörte er hinter sich seinen Kollegen Grundmeier seufzen: »Jetzt müssen wieder die A- und D-Kunden dran glauben« – also die alten und doofen. Und genauso kam es auch.

Was glauben Sie? Wie sahen an diesem Nachmittag die wöchentlichen Vertriebsrunden in den Bankfilialen in von Grafentals Region aus? Können Sie sich denken, wie sich die junge Filialleiterin Wolf mit dem langjährigen Mitarbeiter Weber unterhielt? Einem Kollegen, der seit Längerem nicht mehr substanziell zum Erfolg im Versicherungsgeschäft beigetragen hatte? Ich kann es Ihnen verraten: »Warum lassen Sie die Kollegen hängen? […] Da fehlt mir jeeegliches Verständnis. Können Sie nicht? Oder wollen Sie nicht? [drei Sekunden Kunstpause]. Oder beides?« Und die Klassiker: »Woran liegt es? Wen sprechen Sie jetzt ganz konkret bis heute Abend an? Wie viel nehmen Sie sich bis morgen Mittag vor?« Als dann die Metaphern der Chefin noch vom sportlichen in den militärischen Bereich wechselten, wusste auch Weber, dass es ernst war. Sie können getrost davon ausgehen, dass Frau Wolf an diesem Tag noch zwei-, dreimal bei Herrn Weber vorbeischaute, um in Bezug auf die Zwischenergebnisse nachzuhaken.

Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie wären damals an den armen Herrn Weber geraten. Sie hätten gerade eine satte Gehaltserhöhung bekommen und 50 000 Euro gespart, mit denen Sie in zwei Jahren einen Teil eines Immobilienkredits zurückzahlen wollen. Wird Herr Weber das Rückgrat haben, Ihnen am Ende der Beratung das einzig Richtige zu sagen: »Machen Sie mit den 50 000 Euro nichts. Geld auf zwei Jahre anzulegen, ergibt einfach keinen Sinn. Aber eine Idee hätte ich doch noch: Packen Sie doch die Hälfte Ihrer Gehaltserhöhung auf ein Sparbuch, dann können Sie in zwei Jahren noch ein Eck mehr tilgen.« Toller Vorschlag – mit einem kleinen Problem: Die Bank verdient dabei nichts, gar nichts. Herr Weber bekommt nach wie vor gleich viel Druck von Frau Wolf, Frau Wolf gleich viel Druck von Herrn von Grafental, von Grafental gleich viel Druck von Herrn Nothing und Nothing gleich viel Druck von Herrn Segnung. Der Einzige, dem geholfen wurde, sind Sie – alle anderen haben das gleiche Problem wie davor, nur noch etwas schlimmer. Ist das realistisch, dass das so läuft?

Im besten Fall wird Weber irgendeinen Spagat zwischen Ihren Interessen und denen seiner Bank machen. Im realistischeren Fall ist ihm inzwischen alles egal. Er will nur endlich ein paar Stunden seine Ruhe haben. Das heißt konkret: Sie bekommen, was gerade raus muss. Eine Riester-, Rürup- oder Sonstwas-fondsgebundene Rentenversicherung mit wunderbaren Provisionen und deprimierenden Aussichten. Und die 50 000 Euro? Die landen in einem risikobehafteten, provisionsgeschwängerten Fokusprodukt, vermutlich auch aus dem Versicherungsbereich, das Ihrem Ziel, nämlich in 24 Monaten einen Kredit zurückzuzahlen, in keinem Fall entspricht.

Sie glauben, da müsse man schon besonders viel Pech haben, an so einem Tag ausgerechnet an das ärmste Würstchen der ganzen Bank zu geraten? Auch da täuschen Sie sich gewaltig. Herrn Weber zu erwischen, wäre eher ein Glücksfall. Er ist ein Mitarbeiter, der schon länger an seinem Platz ist und bisher offenbar (moralische) Schwierigkeiten hatte, seine Ziele zu erreichen. Vermutlich wurde auch Ihr Berater in letzter Zeit ausgetauscht, um zu viel menschliche Bindung zu verhindern. Und vermutlich haben auch Sie jetzt einen Berater, der einfach macht, was der Chef anordnet – basta.

»In den nächsten vier Monaten werde ich 25 Prozent von Ihnen austauschen«.

Dr. Franz Breitling (46) – Regionalvorstand – bei seinem Antrittsbesuch vor acht Regionalfilialleitern der Region Stuttgart Nord (Juli 2017).

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Von Grafental wurde innerhalb der nächsten Wochen rausgeworfen. Mit anwaltlicher Hilfe gelang es ihm, eine Abfindung zu erstreiten, die es ihm ermöglichte, bei niedrigerem Lebensstandard bis zur Rente durchzuhalten. Beruflich hat er nicht mehr Fuß gefasst. Ich habe ihn zuletzt vor drei Jahren getroffen: Wie er von Nothing und der Bank nach 30 Dienstjahren behandelt wurde, beschäftigt ihn bis heute.

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Nothing hielt acht Monate länger durch. Statt seiner verpflichtete der Vorstand eine jüngere und durchsetzungsfreudigere Führungskraft.

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Schwarz hatte – nicht zuletzt dank dieser Episode – endgültig genug von dem Wahnsinn im Provisionsvertrieb. »Zwei Monate später habe ich gekündigt. Bis heute träume ich manchmal, ich bin wieder bei der Großbank und sitze in einer Vertriebsrunde.«

254 000 Euro

Letzten Herbst war Renates Mutter Ingeborg gestorben. Wie es in der Todesanzeige so beschönigend klang: »nach kurzer und schwerer Krankheit«. Zwei Monate mögen kurz sein. Aber Renate, die ihre Mutter diese Zeit ohne weitere Hilfe daheim gepflegt hatte, war danach mit ihren Kräften am Ende: körperlich und nervlich. Denn was ihr am meisten zu schaffen machte, war, dass ihre Mutter, zu der sie zeitlebens ein sehr gutes Verhältnis gehabt hatte, gegen Ende hin regelrecht aggressiv gewesen war. Die Ärzte meinten, es sei eine Nebenwirkung der starken Medikamente. Für Renate war es dennoch sehr verstörend gewesen.

Jetzt – fast ein Jahr später – hatte Renate endlich die innere Kraft gefunden, sich um Ingeborgs Erbe zu kümmern. Das Thema, was sie denn mit den 254 000 Euro machen sollte, die ihre Mutter hinterlassen hatte, schob sie seit geraumer Zeit vor sich her. Kein Wunder: Erstens war allein schon die schiere Menge des Geldes für Renate furchteinflößend. Das war weit mehr, als sie selbst auf der hohen Kante hatte. Was man damit einmal alles machen könnte! Vielleicht in drei, vier Jahren auf Teilzeit umstellen? Nach der Pensionierung ihres Mannes einen Bulli kaufen und damit so lange kreuz und quer durch Europa reisen, bis sie keine Lust mehr hätten …

Zweitens fühlte sie sich beim Thema Geldanlage völlig hilflos, mehr als ein Sparbuch oder Tagesgeld und »irgend so eine Versicherung« hatte sie bisher nicht gemacht. Der Gedanke, zu einem Banker gehen zu müssen, dessen Sprache sie nicht verstand und vor dem sie sich dumm vorkam, war alles andere als verlockend.

Drittens war auch ihr Mann keine Hilfe. Er hatte selbst kaum Ahnung von der Materie und hielt sich mit einem »Das ist ja dein Erbe, das musst schon du wissen« aus der Sache raus. Gut gemeint, aber halt nicht wirklich gut.

Viertens, und das war der für Renate der schlimmste Punkt: Sie hatte das Gefühl, dass ihr das Geld eigentlich gar nicht zustand. Ingeborg hatte sich selbst nur selten etwas geleistet, sich über Jahrzehnte abends mit Näharbeiten etwas dazuverdient und ihr Leben lang Mark um Mark, Euro um Euro zurückgelegt. Nun lag da vor ihr in Form eines Kontoauszuges die geronnene finanzielle Lebensleistung ihrer Mama: 254 000 Euro waren das, was von ihrer Mutter übrig geblieben war. Renate fühlte eine kaum zu bewältigende Verantwortung gegenüber diesem kleinen Vermögen, und eines war klar: Damit durfte nichts schiefgehen!

Als Renate die örtliche Raiffeisenbank betrat, wurde sie vom Filialleiter persönlich begrüßt und zum ersten Mal in dreißig Jahren in ein etwas schickeres Beratungszimmer im ersten Stock begleitet. Renate war auch das eher unheimlich, als dass sie sich geschmeichelt fühlte. Ihr ungutes Bauchgefühl schob sie allerdings auf ihre gefühlte Inkompetenz und unterdrückte es entsprechend.

Nachdem der Filialleiter sie dort einer Frau Strasser als ihre zukünftige »Individualkunden-Beraterin« vorgestellt und sich freundlich verabschiedet hatte, nahm das Gespräch für Renate einen erstaunlichen Verlauf. Sie war ausgesprochen positiv überrascht, ja, nach einer Weile regelrecht erleichtert. Frau Strasser nahm sich viel Zeit für sie, sprach erst über die letzten Neuigkeiten aus dem Ort, um sich dann Renate selbst anzunehmen. Fast eine halbe Stunde erzählte Renate von ihrer Mutter, deren Sparsamkeit, wie wichtig ihr das Ersparte gewesen war. Und Frau Strasser fragte auch dann noch interessiert nach, als Renate über die letzten Lebenswochen ihrer Mama erzählte: die Sorge, die Last, Ärger mit Behörden, die zunehmenden Wutanfälle der Mutter.

Frau Strasser war ausgesprochen empathisch und fand so schließlich den neuralgischen Punkt, um das beste Geschäft der letzten sechs Monate zu machen: Renate fühlte sich dem Geld ihrer Mutter zutiefst verpflichtet. Auf keinen Fall wollte sie größere Risiken eingehen, aber umgekehrt »etwas aus dem machen«, was Ingeborg ihr hinterlassen hatte. Renate, die sich endlich verstanden fühlte, sehnte sich förmlich nach Hilfe und Orientierung. Als gute Verkäuferin hatte Frau Strasser das erkannt und kam nun nach rund fünfundvierzig Minuten zum Punkt. Sie habe genau das Richtige für Renate, ein Produkt mit »attraktiven Renditechance« und gleichzeitig einem »hohen Maß an Sicherheit«. So stand es auch auf dem Flyer, der schon die ganze Zeit auf Frau Strassers Tisch gelegen hatte.

Der Deal war schon als solcher intransparent und unsinnig genug. Wenn der Kapitalmarkt nicht ausgesprochen schlecht liefe und irgendwelche Schwellen oder so ähnlich durchbrochen würden, bekäme Renate eine Rendite von 6 Prozent. Je nach Kursverlauf käme das Geld vielleicht schon nach einem Jahr zurück, dann habe die Bank aber sicher wieder was neues Attraktives für eine so nette Kundin im Angebot. Wenn Renate jedoch Glück habe und der Referenzindex sich – noch mal wie genau? – entwickeln würde, dann würde sich die Laufzeit noch mal verlängern und Renate bekäme sogar mehr als einmal 6 Prozent. Im schlimmsten Fall bekäme sie den Gegenwert eines renommierten Referenzindex, aber das sei sowieso nur eine eher theoretische Möglichkeit. Im Grunde könne eigentlich nichts schiefgehen.

Sehr viel mehr hatte Renate nicht verstanden – eher weniger. Aber so nett, wie Frau Strasser war, so gut, wie sie sich verstanden fühlte, war sie erleichtert, endlich eine Lösung für das Geld gefunden zu haben. Sie unterschrieb die nötigen Papiere – die im Nachhinein sicherstellten, dass sie später juristisch kaum eine Chance gegen die Bank hatte – und ging.

An dem Abend knallten in einer Genobank am Münchner Stadtrand die Sektkorken – über 10 000 Euro Provision und mit einem Schlag uneinholbar Platz 1 bei der wichtigsten Vertriebsaktion! Frau Strasser, die ohnehin einen Ruf als »Vertriebskanone« hatte, wurde ordentlich vom Team gefeiert. Die Geschichte ihres Abschlusses respektive Abschusses musste sie mehr als einmal erzählen.

Einige Wochen später war das Geld weg – komplett – Totalverlust. Der Emittent, also der Hersteller des Produkts, war die berüchtigte Lehman-Bank gewesen; das Produkt kein irgendwie besser verzinstes Sparbuch, sondern ein Memory-Express-Zertifikat. Juristisch gesehen eine Inhaberschuldverschreibung. Sprich: Renate hatte der Lehman-Bank 254 000 Euro geliehen und dafür einen Zettel mit einem Versprechen darauf bekommen. Ein Versprechen, das jetzt keiner mehr halten konnte, Lehman nicht und die örtliche Raiffeisenbank schon gar nicht. Denn Lehman war pleite. So komplizierte Dinge wie das Wort »Emittentenrisiko« lernte Renate erst nach ihrem Totalverlust kennen. Dabei wäre es doch so einfach zu erklären gewesen: Geld verliehen – Schuldner pleite – Geld weg.

»So ein Container-Schiff, das ist quasi wie eine schwimmende Staatsanleihe, nur besser verzinst.«

Peter F. (32), ehemaliger Fitnesstrainer, für seine Erfolge bei geschlossenen Fonds gefeierter »Berater« der Bauchweh-Bank (Juli 2012).

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Der Durchschlag auf Renates Lebensqualität war gewaltig. Als ich sie ein Jahr später im Herbst 2009 kennen lernte, schien sie regelrecht traumatisiert. Der Wunsch, die letzten sieben Jahre ihres Berufslebens auf Teilzeit umzustellen, hatte sich endgültig erledigt. Der Traum, nach der Pensionierung ihres Mannes einen Bulli zu kaufen und ein Jahr durch Europa zu reisen, kaum mehr zu realisieren.

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Was Renate am meisten beschäftigte, was sie nicht losließ, waren ihre Selbstvorwürfe. Der Gedanke, dass sich die in Euro geronnene Lebensleistung ihrer Mutter, die sich selbst nur selten etwas geleistet hatte, in Luft aufgelöst hatte. Dass von ihrer Mama jetzt gar nichts mehr übrig war. Wie konnte sie nur so dumm, so naiv gewesen sein?

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Ich habe Renate seitdem nicht wiedergesehen. Ich bin mir sicher, es beschäftigt sie noch heute.

PF7

Franz Zeller – genannt Turbo-Franz – war mit 28 Jahren der jüngste Wertpapierspezialist in der Gebietsfiliale Nürnberg. Dennoch hatte er besser als jeder andere verstanden, nach welcher Logik, na ja, wohl besser nach welchem Rhythmus Vertriebsaktionen funktionierten.

Turbo-Franz wusste längst, dass es beileibe nicht darauf ankam, für die Bank im Laufe eines ganzen Jahres in der Summe einen maximalen Ertrag zu erwirtschaften. Entscheidend waren andere Fragen: Auf welchen Produkten lag der aktuelle Fokus, und bei welchen Verkaufsaktionen konnte man zurzeit eher schwächeln? Wann und wo schauten die Vorgesetzten im Moment ganz besonders genau hin? Wo gab es die höchste Provision? Wobei sollte man also tunlichst nicht blank dastehen – und wo konnte man mit vergleichsweise wenig Aufwand glänzen?

Das herauszubekommen, war im Moment alles andere als eine Raketenwissenschaft. Selbst Herbert Moser – hinter vorgehaltener Hand meist wenig wertschätzend »der alte Depp« genannt – hatte begriffen, welche Sau da gerade mit Getöse durchs Dorf getrieben wurde, auch wenn er wie immer zu spät dran war. Produkt: das Containerschiff MSC Brigitta, eine geschlossene Beteiligung der hauseigenen Produktschmiede. Provision: 10 Prozent für die Filiale – also traumhaft hoch –, was immer sich die Jungs in der Produktschmiede in Frankfurt noch zusätzlich da an Provision rausschnitten. Beginn der Vertriebsaktion: heute um 09:00 Uhr. Übersetzt hieß das: Die nächsten Tage würde keine einzige Führungskraft der Bank auf irgendetwas anderes schauen als auf Brigitta – täglich, stündlich und gegebenenfalls noch häufiger. Jetzt hieß es, schnell sein, »gut aus dem Block kommen«, eine Offensive starten und sich bloß nicht abhängen lassen.

Dass Brigitta im Fokus stand, war auch Peter Janssen mehr als klar. Jansen war Turbo-Franz‹ Chef-Chef und Leiter der Vertriebsregion Regensburg. Aber nicht nur Brigitta stand im Fokus – auch Janssen selbst. Seit es ihn vor achtzehn Monaten aus seiner Kieler Heimat in die Oberpfalz verschlagen hatte, war es alles andere als gut gelaufen: das Kreditgeschäft – schleppend; Bausparer und Versicherungen – unterirdisch. Aber das Schlimmste war, dass es auch im Wertpapiergeschäft ausgesprochen mittelmäßig lief. Irgendwie hatte Jansen nie einen richtigen Draht zu seiner »WP-Mannschaft«58 bekommen, deren teils bellender, teils grunzender Dialekt ihm bis heute nicht vollständig verständlich war.

Vor fünfzehn Minuten hatte er – nach der einstündigen Regio-Telko59 – noch ein fünfzehnminütiges »One-on-one«60 mit seinem Gebietsfilialleiter Hans Reiter genossen, der ihm in seiner unvergleichlich charmanten Art klargemacht hatte, dass Jansen jetzt liefern musste. O-Ton Reiter: »Entweder es ändern sich die Zahlen oder es ändern sich die Köpfe.« Jansens Kopf – Reiter war dabei diesmal nicht mal laut geworden. Das hieß nichts Gutes.

Jansen war, obwohl Volljurist, klug genug, nicht zu thematisieren, was jeder in der Bank wusste: dass bisher nicht mal die offiziellen Verkaufsprospekte ausgeliefert worden waren. Er galt ohnehin schon als »Reichsbedenkenträger«. Was interessierte es da, dass ein Verkauf des Produkts nur dann legal möglich war, wenn der Kunde im Vorfeld genügend Zeit hatte, sich den offiziellen Verkaufsprospekt auch anzusehen. Und das hatte gute Gründe: Denn so eine Schiffsbeteiligung war nicht nur finanziell hoch attraktiv – also zumindest für die Bank. Sie strotzte auch nur so vor unternehmerischen Risiken: Konjunkturrisiken, Branchenrisiken, Wechselkursrisiken, Risiken aus der Kredithebelung der Beteiligung und vor allem – wie bei kaum einem anderen Finanzprodukt – das Risiko eines fast lehrbuchartigen »Schweinezyklus«: Boom – Bust – Boom. Immerhin wurden die Prospekte ja gegen Mittag in den Filialen erwartet und die konnte man dann ja ganz zügig den Käufern hinterherschicken.

Nun saß Janssen vor seinem Schreibtisch und wartete darauf, dass ab 09:00 Uhr das Controlling-Tool für die Brigitta-Zeichnungen scharfgeschaltet wurde. Bereits um kurz vor 09:00 Uhr begann er, fatalistisch vor sich hin stierend, rhythmisch auf die PF7-Taste zu hämmern, um die Datenbank zu aktualisieren. 09:01: nichts, 09:02: nichts; 09:03: nichts, 09:04: schlimmer als nichts: eine erste Brigitta bei der Konkurrenz aus Nürnberg-Süd – zwar nur 20 000 Euro, aber immerhin, 09:05, 09:06, 09:07, 09:08: nichts, nichts, nichts, nichts. 09:09: eine weitere Brigitta, diesmal 40 000 Euro, wieder in Nürnberg-Süd und eine kleinere Zeichnung über 15 000 Euro in Erlangen. Der Rhythmus, in dem Janssen die PF7-Taste quälte, erhöhte sich auf 120 Schläge pro Minute: wie sein Herzschlag.

09:10, 09:11, 09:12: nichts, nichts, nichts, 09:13: 30 000 Euro Brigitta-Zeichnung in Fürth. Oh Gott. Janssen wurde schlecht. »Entweder es ändern sich die Zahlen oder …« Hektisch begann er, eine Rund-Mail zu formulieren und für 10:00 Uhr eine spontane Telko anzusetzen: »Meine Herren! Wie kann es sein, dass uns die anderen so abhängen. Ich erwarte von Ihnen absolute Konz…« Janssen stockte, war das nicht alles viel zu lasch formuliert? Wie konnte er es diesen fränkischen und Oberpfälzer Sturschädeln begreiflich machen, worum es ging, worum es für ihn ging? Vor lauter Erregung hatte er fast zwei Minuten vergessen, die PF7-Taste zu drücken.

Anders als Moser, der schon seit kurz vor 09:00 Uhr die ersten Schweißflecken auf seinem Hemd hatte, war Turbo-Franz optimal vorbereitet. Er hatte schon vorab »gebunkert«: die meisten Kunden am Telefon heißgemacht, Werbeflyer verschickt und auch schon die ersten drei unterschriebenen Zeichnungsscheine auf der Seite. Vertrieblich und taktisch hatte er damit alles richtig gemacht – bei gewissen juristischen Unschärfen. Doch was soll’s? Alle seine Kunden hatten ihm ja Schwarz auf Weiß unterschrieben, dass sie ein Exemplar des offiziellen Prospekts erhalten hatten und anhand dieses Prospekts über die wesentlichen Risiken dieser unternehmerischen Beteiligung ausführlich aufgeklärt worden waren. Damit war zumindest für Turbo-Franz alles in Butter.

Um 09:15 Uhr – entspannt nach einer Zigarettenpause und mit einem Kaffee an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt – erfasste er nun die erste seiner Brigitta-Zeichnungen. Zeichnungssumme: 50 000 Euro, Risikoaufklärung erfolgt: ja, Prospekt ausgehändigt: ja, Unterlagen hier hochladen: erledigt, jetzt endgültig abschließen: ja. Sehr schön. Franz Zeller war mit sich und der Welt zufrieden und wollte sich gerade noch einen Kaffee gönnen, als zehn Sekunden später das Telefon klingelte. Am Apparat war ein begeisterter Herr Janssen:

»Ja, Herr Zeller, das ist ja großartig. Ja, hervorragend! Das gefällt mir, ja, Leute wie Sie, die brauchen wir. Weiter so. Nicht nachlassen.« Der so gelobte Zeller reagierte zu Janssens Erstaunen eher einsilbig: »Ja mei, danke, passt scho.« War Janssen zu zurückhaltend gewesen? Wenn ja, wollte er das gleich korrigieren: »Jetzt aber mal ganz ehrlich« – oh nein, das hatte er doch mal in einer Schulung gelernt, dass man das nicht sagen soll –, »also ja, ja, also das ist ja fantaaastisch. Wie haben Sie das nur gemacht, Herr Zeller? Also ehrlich, großartig, das müssen Sie den anderen Kollegen zeigen, wie das geht. Wie wir immer sagen: von den Besten lernen!« »Ja mei, I hob den hoid ogrufa und gsogt, dass dois guad is und er schnei sein muss, damit’s earm koana wegschnappt.« Auch wenn sich Janssen nicht sicher war, was das nun genau heißen sollte, schloss er mit: »Genau so machen Sie weiter, und genau so erklären Sie das auch den anderen. Also weiter so, nicht lockerlassen!«

»Ich berat meine Kunden alle ganz objektiv. Wissen’s, meine Tochter arbeitet bei der HansicContainer, und deshalb kriegt jeder erst mal ein Schiff. Wissen’s, die Leut wollen etwas, das schwimmt.«

Herbert P. (52), Vermögensberater aus Wien (Oktober 2012).

Zeller beschloss, nun doch gleich den zweiten Fonds zu erfassen und dann dafür ein bisschen länger zum Rauchen zu gehen, vielleicht wäre ja auch die neue Kollegin aus dem Kredit unten. Diesmal waren es 75 000 Euro, die er einem Radiologen quasi mit zwei Worten verkauft hatte: Steuern sparen. Um 09:20 Uhr war auch der zweite Fonds erfasst, um 09:20 Uhr und 15 Sekunden läutete wieder das Telefon.

»Ja, Zeller, groooßartig! Da ist ja noch eine Brigitta drin und gleich 75 – ja, das ist ja fantastisch. Also ich muss schon sagen: GROSSARTIG.« Zeller hielt sich den Hörer etwas vom Ohr weg, so laut sprach Janssen, und murmelt nur. »Ja scho.« Was hatte Janssen nun schon wieder falsch gemacht? Fühlte sich Zeller nicht genug wertgeschätzt? Hatten sie das mit dem Loben nicht vor zwei Wochen genauso in der Regio-Runde besprochen, ja sogar geübt? Janssen legte nach: »Also, wie Sie den Stier da bei den Hörnern gepackt haben, das ist phänomenal, fantastisch, also das müssen wir unbedingt als Best Practice weitergeben an die Kollegen, also, die können sich von so einem jungen Wilden echt mal was abschauen. Also wirklich! Wie Sie das nur machen! Weiter so, weiter so, weiter so!!!«

Zeller wurde langsam unruhig, wenn der Janssen nicht bald aufhören würde, wäre die neue Kollegin unten vermutlich schon wieder weg. Der Janssen war ja ein Harmloser, aber ein wahnsinniger Zeitkiller. Außerdem tat sich Zeller schwer damit, zu verstehen, was der eigentlich von ihm wollte. Eine Vertriebsschulung mit den Kollegen machen? Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Zeller ging nun in die Offensive, um einem weiteren Anruf zuvorzukommen: »Oiso, bevors no amoi oruafa: I hob a no an dritten Fonds gmacht mit 30.« Eine Aussage, die er wenig später bereute, da er nun einen nicht enden wollenden Lobgesang über sich ergehen lassen musste. Na bravo, die Kollegin war jetzt sicher weg. Nach gut drei Minuten nahm sich Zeller ein Herz und unterbrach seinen völlig euphorisierten Chef-Chef: »Sie, bittschön, I müsst jetzt dann no an Termin vorbereiten, also nix für ungut.« Als Janssen endlich aufgelegt hatte, kommentierte Turbo-Franz den fragenden Blick seiner Kollegen trocken mit: »Mei, der Janssen wega da Brigitta, jetzat is a ganz narrisch worn.«

30 Minuten später war Zeller zurück an seinem Platz, seine Stimmung war bombastisch. Die neue Kreditlerin würde heute Abend mit zwei ihrer Freundinnen ins Sudhaus kommen, und Franz wäre nicht Turbo-Franz, wenn da nicht ein bisserl was gehen würde. Als er auf sein Display schaute, zeigte es zehn Anrufe in Abwesenheit. Als er den Moser anschaute, meinte der nur: »Der Janssen hat a paar moi ogruafa. Irgendwie aufgregt wara.«War da so was wie Häme in Mosers Stimme? 30 Sekunden später klingelte das Telefon: »Zeller! Was ist los, da ist keine dritte Brigitta drin! Wie kann das sein?!« »Mei Janssen – i hot a Akquise-Gespräch – i erfoss’n glei, bevor’s an Herzkaspar kriagn …«

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Zwei Wochen später bewarb sich Turbo-Franz bei mir als Honorarberater. Seine Toleranzgrenze für solchen Unsinn war endgültig erschöpft. Er war viele Jahre einer meiner besten Mitarbeiter. Wir sind bis heute befreundet.

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Zwei Monate später wurde Janssen degradiert: erst zum Filialleiter, kaum ein Jahr später zum Teamleiter im Backoffice. Dort überwinterte er rund zwölf Jahre, bis er in Rente ging.

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Zwei Jahre später ging die Brigitta – sorry für die platte Metapher – finanziell völlig unter. Durch die Finanzkrise ging die Höhe der Charter-Raten dramatisch zurück. Viele Containerschiffe rosteten über Jahre ungenutzt in den Häfen. Konjunkturrisiko und Schweinezyklus hatten beide voll zugeschlagen.

Fazit

Exkurs: Pinocchio-Banking

»Ich erlebe Herrn Nothing da in einer ausgesprochen großen Klarheit.«

Vertriebstrainer Sebastian K. (38) hilft, einen cholerischen Anfall richtig einzuordnen (Mai 2007)

Filialleiterin Wolf bei der Wochenansprache: »Dass Sie uns da jetzt so beim Wertpapierabsatz hängen lassen, da bin ich auch irgendwie ein Stück menschlich enttäuscht.«

Im Hintergrund kommentiert Weber zu seiner Nachbarin: »Das mit der menschlichen Enttäuschung ist neu. Jetzt war sie auch bei der gleichen Schulung wie der Nothing und der Grafental« (Februar 2008).

»Herr Schwarz, sind Sie so weit mit der Beurteilung zufrieden?«

»Na ja, Herr von Grafental, neulich sind Sie bei mir in der Filiale gewesen und haben gesagt, da wäre so eine gute Stimmung und alle seien motiviert, könnten Sie da nicht auch was dazu festhalten?«

»In Ordnung.« Herr von Grafental schreibt: »Die guten Vertriebsergebnisse sind auch darauf zurückzuführen, dass es Herrn Schwarz immer wieder gelingt, seine Kollegen zu motivi…« Er stockt, streicht »motivi…« wieder durch und ergänzt »einzubinden«.

»Herr von Grafental, ist ›motivieren‹ in der Bank inzwischen negativ besetzt?«

»Herr Schwarz, ich schätze Sie sehr, Sie wollen in diesem Haus noch Karriere machen, und da möchte ich Ihnen nicht schaden …«

Beurteilungsgespräch (Mai 2007)

»Chef, was wir da machen, unsere Trades61, das ist ja mittlerweile nur noch kriminell.«

»Ach, haben Sie sich doch nicht so, allerhöchstens 10 Prozent unserer Trades sind kriminell.«

Dialog zwischen Privatbanker Stephan G. (32) und seinem Vorgesetzten Hans T. (45) (Juni 2008)

»Na, die Kundin hot des ned woin, des Zerti. Des hob I der drüberbradn. Ihr habt’s gsagt, dass I dois verkafa soll. Des hob I ois schriftlich. Ihr kennt’s mir goar nix.«

Senior Private Banker Franz W. (54) der VR Bank Oberkaltenkirchen rechtfertigt sich gegenüber seinem Vorstand wegen einer massiven Kundenbeschwerde zum Thema Fehlberatung. Ein kleineres Archiv ausgedruckter Vertriebs-Mails des Vorstands im heimischen Keller erlaubte Franz W. eine in seiner Bank legendäre Ungeniertheit (Mai 2009).

»Starke Behauptung ist immer besser als schwaches Argument.«

Hans-Dieter N. (36), Wertpapierspezialist (Januar 2004)

»Das Produkt habe ich meinen eigenen Eltern empfohlen.«

Karl D. (33), Senior Private Banker (Juli 2008)

»Sie hätten mir erzählen müssen, wie problematisch das Verhältnis zu Ihren Eltern ist.«

Clara P. (48) zu Senior Private Banker Karl D. (März 2009)

»Wir wenden das Depot der Kunden so oft, bis das letzte Fleisch von den Knochen fällt.«

Henry P. (28), Junior Private Banker der »Grillstation« getauften Filiale der Kopfweh-Bank München (Juni 2006)

»Schauen Sie, Herr Braun, das sind meine Unterlagen zur Immobilienbeteiligung in Ludwigshafen, da gehört mir ein Apartment in einem Seniorheim.«

»Und ist es schön da?«

»Keine Ahnung, ich war noch nie da, aber mein Berater fand es so gut, er hat selber da investiert.«

»Ah – hat er?«

Dr. med. Andreas L. (42) im Gespräch mit Nikolaus B. (50) (März 2019)

»Weißt du, was für uns der größte Unterschied zu früher (Provisionsvertrieb) ist? Früher war die Dummheit der Kunden unser Freund …«

Stefan H. (38), Honorarberater (Juni 2018)