»Oh, Männer sind allzeit bereit.

Männer bestechen durch ihr Geld und ihre Lässigkeit. […]

Wann ist ein Mann ein Mann?

Wann ist man ein Mann?«

Herbert Grönemeyer, Männer

93 × Thomas

Das Lieblingsthema im Umfeld Geld und Geschlechterrollen sind natürlich Frauen. Vermutlich völlig zu Recht, denn hier gibt es nach wie vor jede Menge Defizite und Handlungsbedarf.

Nach wie vor verdienen Frauen deutlich weniger Geld als Männer. Während sie in besser bezahlten Jobs unterrepräsentiert sind, werden sie bei gleicher Tätigkeit schlechter bezahlt. Wenn Letzteres schlicht eine indiskutable Ungerechtigkeit ist, beruht der erste Punkt nicht ausschließlich auf einer Verschwörung des Patriachats. Dahinter liegen teilweise auch bewusste Entscheidungen: Frauen sind (zumindest im Schnitt) sozial kompetenter, stärker an Beziehungen orientiert und weniger geldgetrieben. Dies führt einerseits dazu, dass Frauen mehr Teilzeit arbeiten, weil sie Zeit für Kindererziehung oder Pflege der Eltern investieren. Andererseits entscheiden sich Frauen deutlich häufiger für eher schlecht bezahlte Jobs im eher weiblich kodierten Sozialbereich.

Kein Wunder also, dass es kaum eine Branche gibt, die so fest in männlicher Hand ist wie die Finanzindustrie. Banker qualifiziert sich halt auch nicht im engeren Sinne als Sozialberuf, eher im Gegenteil. Ob stockkonservative Privatbank, Großbank oder (scheinbar) innovatives Fintech ‒ oberhalb der Assistenzebene und erst recht ab einer gewissen Führungsebene gilt: Männer, Männer, Männer. So kommen bei 839 deutschen Genossenschaftsbanken auf 1 905 männliche Vorstände gerade mal 88 weibliche Vorstände: 4,4 Prozent. Wenn man Vorstand einer Volks- oder Raiffeisenbank ist, ist es wahrscheinlicher, dass man Thomas heißt, als eine Frau zu sein. Denn Thomasse gibt es in den Vorstandsetagen ganze 93.62 Gut, Thomas ist ja auch ein häufiger Name.

Wenn Geld einen abnehmenden Grenznutzen hat und im besten Fall dazu dient, Beziehungen reicher zu gestalten, dann wäre es eigentlich gar keine schlechte Nachricht, dass Frauen offenbar nicht im gleichen Maße geldgetrieben sind wie Männer. Sich selbst auf seinen ökonomischen Tauschwert zu reduzieren, kann ja nicht Sinn und Zweck eines erfüllten Lebensentwurfs sein. Doch unabhängig davon, wie bewusst oder wie (un-)freiwillig diese Entscheidung jeweils ist, befinden sich Frauen häufig am unteren Ende der Kurve des abnehmenden Grenznutzens von Geld ‒ da, wo mehr Geld noch ein deutliches Plus an Lebensqualität bedeuten würde, oder anders ausgedrückt: da, wo fehlendes Geld viel Lebensqualität kostet. Das gilt insbesondere, wenn im Fall einer gescheiterten Ehe Frauen potenziell mit Altersarmut konfrontiert sind. Insofern ist ein Klassiker des frühen Finanz-Feminismus absolut korrekt: »Ein Mann ist keine Altersvorsorge.« 63 Insbesondere, wenn ein entsprechend gestalteter Ehevertrag dazu führt, dass die Frau im Fall einer Scheidung weitgehend leer ausgeht.

In der gelebten Praxis ist Geld eine der letzten Bastionen des Patriachats. Paare fällen zwar oft die wichtigen grundsätzlichen Entscheidungen gemeinsam, dann aber übernimmt der Mann die laufenden operativen Entscheidungen. Ich beobachte sehr häufig, dass Frauen froh sind, das Stressthema Geld weitgehend delegiert zu haben, in der meist unbegründeten Vermutung, ihre Männer seien da kompetenter. Männer übernehmen dann dieses Thema, mal nolens volens, seltener mit Hingabe. Auch das ist natürlich eine Form einer schleichenden Entmündigung. Umso ernüchternder ist, dass dies offenbar kein Thema einer früher oder später aussterbenden Generation ist. So beobachtet auch der Finanzjournalist Henning Jauernig in seinem durch und durch lesenswerten Ratgeber Young Money, dass auch Frauen, die heute in ihren Zwanzigern sind, sich bei Finanzen wie »kleine Prinzessinnen« verhalten, die hoffen, dass ihnen ein männlicher Ritter das lästige Thema Geld abnimmt.64 Insofern sind die alleinige Ursache des Problems nicht nur alte weiße Männer, jene Repräsentanten eines aussterbenden Lebensmodells, zu dem wohl auch ich selbst gehöre.

Geld ist folglich nach wie vor Männersache. Das ist bis in unsere Sprache hinein tief verwurzelt. Die meisten Begriffe und Werte im Umfeld von Geld sind traditionell eindeutig männlich kodiert: Macht, Status, Prestige. Geld ist mitunter das Gegenstück zu klassisch weiblich belegten Vorstellungen wie soziale Fürsorge oder Beziehungen. Und so verwundert es nicht, dass Geld und finanzieller Erfolg als Ausdruck der Fähigkeit, ein sicheres Umfeld für den Nachwuchs zu schaffen, bis heute elementarer Bestandteil männlicher Identität und männlichen Selbstbewusstseins ist – ein archaischer Wettbewerbsvorteil bei der Suche nach einer geeigneten Partnerin, mit der man die eignen Gene in die nächste Generation weitertragen kann. Insofern ist Geld immer auch eine Frage männlicher Potenz, und ein finanzielles Scheitern wird insbesondere von männlichen Alphatieren immer auch wie eine (partielle) Kastration empfunden. Das ist unschön und traurig, insbesondere auch für die betroffenen Männer. Nicht, dass sich das nicht ändern ließe, aber es ist erst mal die Ausgangslage.

Entsprechend sind es fast immer Männer, die auf Partys ungute Gespräche über Geld führen, meist über wenig verdeckte Umwege. Wie es in einer nur bedingt selbstironischen, dafür umso sexistischeren Sparkassenwerbung aus dem Jahr 1995 hieß: »Mein Haus, mein Auto, mein Boot.«65 Kein Wunder, dass bei den auftrumpfenden Männern in diesem Werbespot nicht nur Swimmingpools und Pferde, sondern auch Frauen (Plural?!) käuflich erscheinen. Man kann die Uhr danach stellen, wann diese Herren vor die Tür gehen, um zu sehen, wer das größte Loch in den Schnee pieseln kann.

Ja, Frauen sind völlig zu Recht das Lieblingsthema im Umfeld »Geld und Geschlechterrollen«, denn hier gibt es nach wie vor den meisten Handlungsbedarf. Aber spannender und tragischer sind Männer – alte weiße Männer: Familientyrannen, liebevolle Patriarchen, Männer, die sich selbst für Beruf und Familie aufopfern, und auch Männer, die für den Beruf und das Geld ihre Familie zerstören. Und ganz selten auch Männer, denen es gelingt, auf Augenhöhe eine liebevolle Beziehung zu ihrer Partnerin zu leben – auch beim Thema Geld.

21:45 Uhr

Eigentlich wollte Roman gar keine eigene Agentur gründen – und Anja erst recht nicht. »Wir haben gar nichts gegründet«, sagt Anja heute rückblickend, »wir wurden gegründet.« Und das kam so.

Mit 28 lernten sich Robert und Anja auf dem dreißigsten Geburtstag einer gemeinsamen Freundin kennen. Robert verliebte sich sofort unsterblich, Anja ein paar Wochen später. Kein optimales Timing: Denn Anja hatte fest vor, für die nächsten Jahre nach Shanghai zu gehen, wo die kleine aufstrebende Agentur für digitales Marketing, für die Anja arbeitete, eine Niederlassung etablieren wollte. Auch Robert hatte gerade einen ziemlichen Karriereschritt hinter sich gebracht. Er leitete seit einem Jahr als Marketingdirektor ein kleines Team einer mittelständischen Werbeagentur in Hamburg und war zusätzlich verantwortlich für Strategie und Konzeption für drei der wichtigsten Kunden.

Um Anja nicht zu verlieren, kündigte Robert und begann, sich von seinen Kunden zu verabschieden. Einen Umstand, den Anja mit den Worten kommentierte: »Eigentlich wollte ja ich ins Ausland. Aber gut …« Zu Roberts großem Erstaunen bekniete ihn der größte Kunde der Agentur regelrecht, wenigstens noch einen letzten Auftrag für ihn zu übernehmen. Es war nichts Aufregendes, aber gut bezahlt und schmeichelhaft. Wann hatte man schon mal die Chance, für einen DAX-Konzern ein Set an Printmaterialien für deren Sport-Sponsoring zu machen?

Anja zu überzeugen, war im Prinzip nicht allzu schwer: 130 000 D-Mark Budget für einen Auftrag, den sie zu zweit mit ein, zwei Freelancern in zwei, drei Monaten durchziehen konnten. Das bedeutete jede Menge finanziellen Spielraum für einen gemeinsamen Neustart in Shanghai. Doch als sich Anja den Auftrag näher ansah, meinte sie nur: »So machen wir das nicht.« Statt in der ersten Präsentation bunte Bildchen, Werbebotschaften und Ideen für Flyer zu präsentieren, stellten sie den gesamten Auftrag infrage. »Wir waren überzeugt, dass die sich einfach die falschen Fragen stellen. Wir wollten ihnen zeigen, wie viel Potenzial sie verschwenden und wie sie das Sport-Sponsoring nutzen können, um direkt mehr Erfolge im Sales zu haben.«

Ihr Auftraggeber war erst einmal ziemlich sauer: Wie kamen zwei Achtundzwanzigjährige dazu, einfach ihren Job nicht zu machen und ihn zu belehren? Im selben Moment allerdings griff er zum Telefon und verlangte den Marketingvorstand des Konzerns. »Dr. Meier, wenn es bei Ihnen gerade nicht um Leben und Tod geht, kommen Sie runter und hören Sie sich das an.« Drei Wochen später hatten Anja und Robert den Auftrag, das gesamte Sport-Sponsoring des Konzerns neu zu konzipieren. Volltreffer! 600 000 D-Mark Budget – und das nur für die ersten Arbeitsschritte ohne die konkrete Umsetzung und ohne das Roll-out. Was für ein Sicherheitspolster für China! Wahnsinn!

Um das Projekt umzusetzen, gründeten die beiden eine eigene GmbH. Binnen zwei Jahren zog ein Auftrag den nächsten nach sich, und es kamen neue Kunden dazu. Nicht, dass die beiden aktiv akquiriert hätten, irgendwie ergab sich das: ein Marketingleiter, der den Konzern wechselte und weiter mit Roman und Anja arbeiten wollte; ein Freelancer, der mit einem mittleren Budget eines M-DAX-Konzerns ankam. Einmal sprach sie ein Immobilienentwickler an: »Habt ihr schon mal was mit Immobilien gemacht?«

»Nein.«

»Gut, dann seid ihr meine Agentur.« Ihm hatte gefallen, was die beiden machen, und er wollte jemand mit einem frischen Blick.

Inzwischen hatte die GmbH fünf feste Angestellte und arbeitete mit einem guten Dutzend Freelancern zusammen. Morgens stolperte Anja, wenn es mal später geworden war, in der Küche und im Wohnzimmer über Mitarbeiter, die an Laptops oder provisorischen Arbeitsplätzen saßen. »Wir haben uns ewig vorgemacht, dass das nur vorübergehend ist, dass wir nach dem nächsten, zumindest dem übernächsten Auftrag endlich losziehen.«

Erst nach fast zweieinhalb Jahren mieteten die beiden eine Bürofläche an und gestanden sich ein, dass Anjas Traum dem Erfolg der Agentur zum Opfer gefallen war. Ernüchternd, aber eben auch beglückend. »Wir hatten wirklich sehr ›leckere‹ Budgets und Aufträge, solche, von denen andere Agenturen nur träumen können.« Zusammen waren sie ein unschlagbares Team, beruflich ebenso wie privat. Ein Jahr später heirateten die beiden. Die Agentur wuchs und wuchs. Inzwischen begannen die beiden, einen größeren Teil ihrer Gewinne zurückzulegen und zu investieren. »Da war auch viel Mist dabei: Filmfonds, Schiffe et cetera. Aber im Großen und Ganzen hatten wir das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort in Immobilen investiert zu haben.«

Die Agentur wurde immer größer, wenn auch nicht zwangsläufig profitabler. Gleichzeitig nahm aber der Schmerz durch die Arbeit zu. Was als relativ autonomes Arbeiten begonnen hatte, war immer mehr von Fremdbestimmung geprägt: Mitarbeiterinnen, Kunden, Freelancer – je größer die Agentur wurde, umso mehr prasselte auf sie ein. Den Tag von sich aus zu strukturieren, war kaum mehr möglich. Dazu kamen ein immenser Zeitdruck und das Gefühl, immer verfügbar sein zu müssen.

Eines von Dutzenden Beispielen: Als Anja und Robert ihre Flitterwochen auf einer winzigen Südseeinsel in Fidschi verbrachten, einer Insel, auf der überhaupt nur Platz für zwölf Touristen war, erreichte sie eine aufgeregte SMS eines Mitarbeiters: »Wir haben einen Notfall.« Die beiden reisten zwei Stunden über die Insel und fanden dort in einer Wellblechhütte so was Ähnliches wie einen Internetzugang. Nach 20 Minuten war der Rechner hochgefahren, nach einer weiteren Viertelstunde hatten die beiden Zugang zu einem Browser. Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis sie die Aufgabe, die angeblich so unglaublich dringend war, heruntergeladen hatten. Den nächsten Tag verbrachten sie damit, ein Konzept für den Kunden zu erstellen, und gingen am Folgetag wieder zurück zu der besagten Wellblechhütte. Sie hatten die Hütte gerade erreicht, als eine SMS aus Hamburg ankam: »Hi, Roman, hi, Anja, sorry für die Aufregung – hat sich erledigt.«

Dieses Arbeiten, in dem das, was heute noch auf Leben und Tod wichtig ist, morgen niemanden mehr interessiert, in dem man primär seine Arbeitszeit, genauer: seine Lebenszeit, verkauft und das von einer immensen Kurzatmigkeit geprägt war, strapazierte die beiden zunehmend. »Irgendwann hat man immer weniger Lust, am Freitagabend um 21:45 Uhr noch einen ultrawichtigen Flyer für die Premium-Innenausstattung eines Sportwagens fertig zu machen.«

Der eigentliche Schmerzpunkt kam mit der Geburt der beiden Söhne Timo und Niklas 2007 und 2008. Anja erinnert sich: »Während der knapp zweijährige Timo daheim bei der Kinderfrau blieb, fuhren wir drei Wochen nach Niklas‹ Geburt mit der Praktikantin als Babysitter nach Frankfurt zu einer Präsentation. In den Pausen ging ich kurz raus, um Niklas zu stillen, drinnen nahm mich der Marketingchef des Unternehmens danach zur Seite: ›Sie bleiben uns aber schon im ganzen Umfang wie bisher erhalten, oder?‹ In den knapp zehn Jahren nach der Geburt der Kinder habe ich es faktisch nicht einmal geschafft, um 16 Uhr daheim zu sein.« Unter der Woche und oft auch am Wochenende waren Erziehung und Betreuung der Kinder fremdorganisiert durch Haushälterin, Kinderfrau und Anjas Mutter. Wenn sich die beiden dann ansahen, wie viele ihrer Mitarbeiter aus der Generation Y andere Prioritäten setzten, nicht mehr bereit waren, Nacht- und Wochenendschichten für die Karriere zu schieben, kamen ihnen immer mehr Zweifel, ob die Agentur dauerhaft das Richtige für sie war. Waren die jungen Leute einfach verweichlicht, fehlte denen der Biss oder hatten die im Grunde genommen recht und stellten sich die besseren Fragen?

Im Herbst 2016 kam Anja nach einem Besuch bei einer Freundin in Südafrika mit einer Handvoll Rezepten für Naturkosmetik wieder und fing nachts im Keller an, an diversen Gesichtscremes zu arbeiten. Anfang 2017 gründeten sie und Roman eine GmbH, um diese Produkte zu vertreiben, selbstverständlich mit einer sehr überzeugenden Markengeschichte und einem professionellen Marketing. Doch der Plan, zweigleisig zu fahren, sich quasi durch die Hintertür aus der Werbewelt zu verabschieden, funktionierte nicht: Dringende Aufträge in der Agentur – und die gab es immer – hatten stets Priorität. Statt eine Alternative zur Agentur wurde das Projekt Naturkosmetik zur Doppelbelastung – vor allem für Anja.

Im Sommer 2018 verkündete Anja an einem der letzten Urlaubstage in der Toskana bei einem Glas Wein auf der Terrasse: »Ich komme nicht in die Agentur zurück. Wenn ich keinen klaren Schnitt mache, wird das nie etwas.« Ab da ging alles ganz schnell: Binnen eines halben Jahres wickelte Roman die verbleibenden Aufträge und damit die Agentur ohne Anjas Hilfe ab. Für einen geordneten Verkauf, der schätzungsweise zwischen 2 und 2,5 Millionen Euro eingebracht hätte, war ihm die Zeit zu kostbar. Dazu hätte Roman die Agentur drei bis vier Jahre allein weiterführen müssen, was für ihn keine Alternative war. Auch ohne den Unternehmensverkauf hatte der finanzielle Erfolg der Agentur ihnen einen Handlungsspielraum eröffnet, den sie jetzt nutzten. Sie verkauften zwei ihrer Immobilien, um genügend Geld für Investitionen und für ihren nicht ganz unkomfortablen Lebensstandard zu haben.

»Am Ende lief es für mich darauf hinaus, ob es schlimmer war, mit dem eigenen Unternehmen zu scheitern, als es nie versucht zu haben.«

Anina B. (48) über ihre späte Unternehmensgründung (November 2017).

So entschlossen, wie Roman vor 16 Jahren bereit gewesen war, Anja zu folgen, und sich entschieden hatte, alles in Deutschland aufzugeben und mit Anja nach China zu gehen. So entschlossen, wie sich Anja danach der von Roman fast aus Versehen angestoßenen Agentur verschrieben hatte, so entschlossen reagierte Roman auch diesmal. »Es machte einfach gar keinen Sinn, beruflich getrennte Wege zu gehen. Ich hätte nie einen ebenbürtigen und mit Anja irgendwie vergleichbaren beruflichen Partner gefunden – und sie auch nicht.« »Ich erinnere mich noch«, ergänzt Anja, »wie wir 2006 in große, wirklich schöne Agenturräume gezogen waren und Roman und ich uns einen Schreibtisch im kleinsten Zimmer der Agentur geteilt haben. Die Mitarbeiter haben gelacht und viele haben nicht verstanden, warum wir uns nicht jeder ein Einzelbüro gegönnt haben. Aber das war immer der Kern unseres Erfolges, dass wir alles Wesentliche zusammen gemacht haben.«

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In den ersten Jahren haben beide wie in einem Crash-Kurs das kleine Einmaleins des produzierenden Gewerbes gelernt – auch durch eigene Fehler. Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg haben für deutliche Einbrüche gesorgt. Die Naturkosmetik-Firma von Anja und Roman ist dabei trotz aller Rückschläge gut gewachsen. Gewinne haben sie bisher nicht gemacht, und sie zahlen sich auch keine Gehälter, da bisher jeder Euro zurückinvestiert wurde.

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Für ihre Kinder haben Anja und Roman jetzt deutlich mehr Zeit.

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Sobald das Naturkosmetik-Projekt läuft – oder auch, wenn es völlig scheitert –, wollen die beiden ihr nächstes Unternehmen gründen. Ideen gibt es dazu mehr als eine.

44 Jahre

Letztlich durfte das ja eigentlich nicht wahr sein, dachte sich Friedrich Jansen, als er mit 31 Jahren wieder in dem Nest ankam, aus dem er vor über zehn Jahren regelrecht geflohen war. Und nicht nur er: Auch seine Frau Anne war alles andere als euphorisch, den lebendigen Ruhrpott gegen eine Gegend zu tauschen, die ihr halbtot vorkam. Aber aus einer Mischung aus klassischer Rollenverteilung und tiefer Liebe folgte sie Friedrich, ohne viel zu diskutieren.

Nun war er wieder daheim, einer Kleinstadt auf dem platten Land in Holstein, in dem seine Eltern ein Altenheim mit ungefähr 70 Zimmern betrieben. Damals hatte er sich geschworen, nie wieder hierher zurückzukehren, zu seinem sturen Vater und seiner – man konnte es leider nicht anders ausdrücken – habgierigen Mutter.

Und umgekehrt: Hatten seine Eltern nicht regelrecht mit ihm gebrochen, weil er das Familienunternehmen partout nicht übernehmen wollte und stattdessen eine Hotelfachschule besucht hatte? Hätten seine Eltern nicht stolz auf ihn sein sollen, dass er an einem der ersten Häuser in Hamburg als Lehrling akzeptiert worden war und dort binnen kurzer Zeit einen steilen Aufstieg hingelegt hatte? War es gar nichts wert, dass er bereits mit 27 Restaurantleiter im über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Gourmettempel geworden war?

Stattdessen beschränkte sich die Kommunikation auf eine Postkarte zu Weihnachten und eine zum Geburtstag – und das auch nicht immer. Ihre Enkeltochter kannten die Großeltern nur von wenigen Fotos, und auch zur Hochzeit waren sie nicht gekommen. Zuletzt hatten sie sich vor vier Jahren auf der Beerdigung von Oma Erika gesehen; die Gespräche waren gequält und stockend gewesen, und am Ende waren Friedrich und seine Frau Anne froh, dass sie sich nach einer Anstandsfrist relativ früh verabschieden konnten.

Nach einem erfolglosen Versuch, ein eigenes Fünf-Sterne-Haus in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen zu etablieren, war Friedrich zuletzt zwei Jahre Manager eines kleinen Boutique-Hotels in Dortmund gewesen, als ihn seine Schwester anrief. Die Eltern seien mit der Führung des Altenheims inzwischen ziemlich überfordert, es fehle jemand mit betriebswirtschaftlichem Know-how, und außerdem gebe es nach Rücksprache mit den entscheidenden Stellen des Landkreises die Möglichkeit, drei Orte weiter ein weiteres Heim zu eröffnen: Der Landrat habe signalisiert, man werde das Projekt in jeglicher Weise unbürokratisch unterstützen. Das wäre ein Riesengeschäft, aber allein würden es die Eltern nicht schaffen.

Rückblickend war es kein Wunder, dass die Zusammenarbeit mit den Eltern binnen relativ kurzer Zeit schiefging: Friedrich sollte sich bei der Konzeption des neuen Heims um alles kümmern, entscheiden wollte aber alles sein Vater – und das, obwohl dessen planerische Fähigkeiten im besten Fall übersichtlich waren. Friedrich brütete Nacht um Nacht über Angeboten, Kalkulationen und Kostenrechnungen, nur um sich später von seiner Mutter belehren zu lassen, dass das alles viel zu teuer würde und er wohl die Familie ruinieren wolle. Kurzum: Seine Eltern waren in den letzten zehn Jahren offenbar nicht auf wundersame Weise zu netten Menschen geworden.

So kam es erneut zum Bruch: Die Eltern erklärten, sie wollten mit dem Neubau nichts mehr zu tun haben, und Friedrich beschloss, die Sache allein durchzuziehen. Alle Fäden, alle Entscheidungen und auch alle Informationen liefen bei ihm zusammen. Seine einzige Unterstützung im Hintergrund war seine Frau Anne. Stress pur – 6,8 Millionen Schulden, die Verantwortung für eine Großbaustelle, und das mit 32 –, insbesondere, als seinem Architekten eine Reihe von Schnitzern unterlief, Planungsfehler korrigiert werden mussten und das Projekt zweimal nachfinanziert werden musste. Auch Annes Wunsch, den Heimbewohnern über das gesetzliche Mindestmaß hinaus Komfort zu bieten, verteuerte das Projekt weiter: höhere Decken, etwas größere Bäder, schönere Gemeinschaftsräume. Das Altenheim war für Friedrich und Anne nicht nur ein reines Geschäftsmodell – es entwickelte sich zunehmend zu einer Herzensangelegenheit. Als sich die Inbetriebnahme noch einmal um drei Monate verzögerte, wurden die örtliche Sparkasse und ihr Direktor Dirk Dirksen zunehmend nervös.

Friedrichs Eltern, bestens mit Dirksen bekannt, hielten sich immer missgünstig auf dem Laufenden, was Friedrichs Projekt und dessen Probleme anging. Nun signalisierten sie dem zunehmend besorgten Dirksen, dass sie ihn in der Not nicht hängen lassen würden – im Gegenteil: Es solle sein Schaden nicht sein, wenn er sie dabei unterstütze, an Friedrichs nun fast fertiges Altenheim zu kommen. Er habe sich doch schon lange für das kleine Freizeitgrundstück der Jansens am örtlichen Badesee interessiert … Da ließe sich sicher was machen. So beschloss Dirksen, aus der Not eine Tugend zu machen, und nahm die sich abzeichnenden Zahlungsschwierigkeiten von Friedrich und Anne zum Anlass, um alle Kredite ohne weiteren Grund mit einer Frist von vier Wochen zu kündigen.

In dem Moment passierte so etwas Ähnliches wie ein Wunder. Man sagt ja Banken nach, sie verteilten bei Sonnenschein Regenschirme, um sie bei Regenwetter wieder einzusammeln. Und genau das tat ja auch die örtliche Sparkasse. Doch gleichzeitig fand sich ein Kreditinstitut – die Bremer Landesbank66 –, das in genau dieser existenzgefährdenden Situation den jungen Jansens unter die Arme griff, den Kredit der Sparkasse ablöste, dafür sorgte, dass Friedrich sein Altenheim behielt, und Dirksen weiter am allgemein zugänglichen Strand mit Krethi und Plethi zum Baden gehen musste.

Ab da ging es für Friedrich und Anne bergauf: Im Oktober 1998, drei Monate später als geplant, eröffnete das Heim, 2001 erweiterte Friedrich es auf 100 Betten, 2004 eröffnete er 15 Kilometer weiter ein zweites Haus. Wieder planten Friedrich und Anne großzügiger als nötig: mit einer liebevollen Fassade, ansprechenden Außenanlagen, höheren Decken, größeren Zimmern und anständigen Gemeinschaftsräumen. Ja, die Jansens verdienten gut an den beiden Heimen, aber sie versuchten nie, den letzten Euro aus dem Betrieb herauszuquetschen. Das Essen war ausgesprochen anständig – etwas anderes war mit Friedrich und seiner Erfahrung in Hotellerie und Gastronomie auch nicht zu machen. Bei Bewohnern, denen das Geld ausging, drückten sie immer wieder ein Auge zu. Und jeder Heimbewohner bekam zu seinem Geburtstag einen großen Blumenstrauß, was dazu führte, dass der Steuerprüfer bei der Betriebsprüfung Friedrich unterstellte, er würde seiner Frau auf Kosten des Unternehmens regelmäßig Blumen schenken. Am wichtigsten war, dass die Heime mit einem erhöhten Betreuungsschlüssel arbeiteten, sprich mit mehr Pflegekräften als offiziell vorgesehen, um die Qualität aufrechtzuerhalten. In der Summe zahlte sich das aus: Die Heime hatten lokal einen ausgezeichneten Ruf und waren immer voll ausgelastet.

Friedrich, aber auch Anne setzten sich praktisch Tag und Nacht für die Heime und ihre Einwohner ein. Alle Angehörigen hatten die private Handynummer von Friedrich, und wenn es irgendwo knirschte, setzten sie sich ins Auto und fuhren »runter«, um zu sehen, was man tun könne. Der Stress war immens, insbesondere für Friedrich, bei dem nach wie vor alles zusammenlief. Aber zugleich waren beide sehr zufrieden mit ihrem Leben. Was Friedrich dagegen wirklich belastete, war nicht die viele Arbeit für seine Heime, sondern der Ärger mit Behörden, Ämtern und Politikern, die einerseits lautstark und scheinheilig forderten, man müsse Menschen einen würdigen und schönen Lebensabend gestalten, aber andererseits gleichzeitig Budgets kürzten und Einsparungen einforderten, wo sie nur konnten.

Als Friedrich 2008 das dritte Heim plante, war seine Belastungsgrenze endgültig erreicht: Mit 44 erlitt er einen Hinterwandinfarkt, den er mit Müh und Not überlebte. Während Friedrich um sein Leben kämpfte, musste Anne die beiden Heime allein am Laufen halten. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, denn die Schaltzentrale der beiden Heime war Friedrich gewesen – in dieser Hinsicht vollkommen Patriarch alter Schule. Prozesse waren kaum dokumentiert, das meiste hatte Friedrich einfach im Kopf, aber nirgends aufgeschrieben. Kein Wunder, dass an vielen Stellen das Chaos ausbrach, die Logistik teilweise kollabierte, einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kündigten und die Umsätze zurückgingen. Wieder waren es die finanzierende Bank und eine sehr gute Steuerberaterin, die Anne den Rücken freihielten, bis sie einigermaßen klarkam. Außerdem wuchs Clara, ihre sechzehnjährige Tochter, als mentale, aber auch als organisatorische Stütze über sich hinaus. Anne, die es immer gewohnt gewesen war, im Hintergrund zu unterstützen, erwies sich als durchaus fähige Unternehmerin und Krisenmanagerin.

2010 kehrte ein gesundheitlich immer noch massiv angeschlagener Friedrich in den Betrieb zurück – erst stückweise, relativ schnell aber wieder mit aller Kraft. Im alten Stil zog er erneut die meisten Aufgaben an sich. Das war keine wirklich gute Idee für einen Menschen, dessen Herzmuskel zu einem Drittel abgestorben war. Doch da Friedrich seinen Beruf und seine Heime so liebte, war es für ihn faktisch unmöglich, mit halbem Einsatz zu arbeiten. Eine Weile ging das einigermaßen gut.

2014 verschlechterten sich Friedrichs Werte deutlich. Sein Arzt sagte ihm damals: »Wenn du höchstens 60 werden willst, dann machst du gerade alles richtig.« In der Situation entschied sich Friedrich, das Unternehmen zu verkaufen. Friedrich meint heute rückblickend: »Ich liebe [sic! Präsens] meine Arbeit, aber meine Familie liebe ich mehr.« Am Ende sicherte sich ein örtlicher Wettbewerber die beiden Heime. Er hat dabei ein ziemlich gutes Geschäft gemacht – wenngleich der Verkaufspreis mit hoher Wahrscheinlichkeit ausreichen wird, um Annes und Friedrichs Lebensstandard dauerhaft zu sichern und das Medizinstudium ihrer Tochter zu finanzieren.

»Wenn ich einmal reich und tot bin …«67

Maxim Biller (Juni 1990)

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Nach den zwei Jahren, in denen Clara ihre Mutter so stark unterstützt hatte, fiel sie in ein ziemliches Loch. Eine der Folgen war ein eher mittelmäßiges Abitur. Nach einem Studium der Pflegewissenschaften studiert sie heute Medizin in Bratislava. Sie hat ein sehr liebevolles Verhältnis zu ihren Eltern.

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Friedrichs Vater rang seinem Sohn 2011 auf dem Sterbebett das Versprechen ab, sich um den Betrieb der Mutter zu kümmern. Ein Versuch, dem nachzukommen, scheiterte daran, dass Friedrichs Mutter jede Hilfe abschmetterte. Das gegebene Versprechen hinderte Friedrichs Vater dennoch nicht daran, seinen Sohn noch rechtzeitig zu enterben.

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Die ehemaligen Heime der Jansens laufen heute deutlich profitabler als früher: Die Pflege ist straffer organisiert. Im Klartext: Die Anzahl der Pflegekräfte wurde auf ein Minimum heruntergefahren, die Außenanlagen sind heruntergekommen, und das Essen ist so, wie man es erwarten würde. Mit anderen Worten: Ihren ehemaligen Charme für die Bewohner haben die Heime eingebüßt. Anne ist bis heute tief enttäuscht, dass ihr Lebenswerk eines menschenwürdigen Altenheims gescheitert ist beziehungsweise gekapert wurde. Friedrich dagegen hat damit seinen Frieden geschlossen. Er ist froh, am Leben und für seine Frau und seine Tochter da zu sein – und dass genügend Geld vorhanden ist, um davon dauerhaft abbeißen zu können.

10 000 D-Mark

Im Sommer 1961 hatte Martin Wagner definitiv die beste Zeit seines Lebens. Der Alptraum seiner Kindheit schien wie weggeblasen: Nicht nur die Armut seines Elternhauses und der Nachkriegszeit – so schien es – gehörte der Vergangenheit an, sondern auch die Lieblosigkeit seiner Kindheit: In den ersten fünf Lebensjahren abgeschoben zu den Großeltern, weil er daheim und im Geschäft seiner Eltern im Weg war. Ein cholerischer und krankhaft geiziger Vater und eine Mutter, die sich auch später nicht übermäßig für ihn interessierte. Wenn ihm eines in seiner Kindheit und Jugend vermittelt wurde, dann das: Du bist nichts wert. Das alles vor dem Hintergrund von Krieg und dem Elend der Nachkriegsjahre. Recht viel schlimmer konnten eine Kindheit und Jugend nicht verlaufen. Doch das alles hatte er jetzt weit hinter sich gelassen.

Als seine Eltern vor acht Jahren beide innerhalb relativ kurzer Zeit verstarben, hatte er das wie eine Befreiung empfunden. Viel hatten sie ihm nicht hinterlassen, aber darauf kam es ihm nicht an. Wenn ihn die Nachkriegsjahre und noch mehr sein Zuhause etwas gelehrt hatten, dann mit sehr, sehr wenig Geld klarzukommen. Dazu kam, dass er durch eine Anstellung an der Uni und weitere Gelegenheitsjobs nicht nur gut über die Runden kam, sondern sich recht schnell eine kleine Summe zur Seite geschafft hatte. Nie würde er das Gefühl vergessen, als er das erste Mal 10 000 D-Mark auf dem Sparbuch gehabt hatte. Das war jetzt zweieinhalb Jahre her, und er hatte es wie einen Sieg über, nein, wie eine Rache an seinem Vater empfunden. Es war auch das erste Mal, dass Martin bedauerte, dass dieser nicht mehr am Leben war. Was war das? Ein Triumph ohne Publikum? Eine Rache ohne Besiegten? Eigentlich schade. Inzwischen waren es fast 17 000 D-Mark, genau 16 876 D-Mark. Aber das Gefühl würde, egal, welche finanzielle Hürde er in seinem späteren Leben noch nehmen würde, nicht noch einmal das gleiche sein.

Nicht nur finanziell war es mit ihm bergauf gegangen: Martin, dessen Vater Elektrotechniker gewesen war und dessen Haushalt kein einziges Buch aufwies, war der Erste in seiner Familie gewesen, der eine akademische Karriere durchlaufen hatte: ein Physikstudium an der TU-München, im Anschluss eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent von Prof. Heinz Maier-Leibnitz. Seine Promotion hatte er zwar nicht mit Bravour, aber doch anständig abgelegt – ein unglaublicher sozialer Aufstieg.

Im Herbst würde Dr. Martin Wagner eine Stelle in der Entwicklungsabteilung eines Münchner Elektrokonzerns antreten. Die Bezahlung: unvorstellbare 2 350 D-Mark pro Monat. Das war mehr als viermal so viel wie die knapp 550 D-Mark, die er bisher hatte, sowie zehnmal mehr, als er bisher benötigt hatte. In seinem Kopf drehten sich die Zahlen, wenn er daran dachte, wie schnell sich jetzt 20 000, 50 000, ja 100 000 D-Mark erreichen lassen würden.

Noch vor ein paar Jahren hatte er sich nächtelang Horoskope erstellt und anhand endloser Kalkulationen, Tabellen und Zahlenkolonnen auszurechnen versucht, wer er war. Darüber konnte er jetzt nur abfällig den Kopf schütteln. Heute schützten ihn ganz andere Zahlenkolonnen: ein Zettel, auf dem er sein Gesamtvermögen festhielt, in kleiner Schrift, ein Kästchen kariertes Papier pro Zahl, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Sicher war dieses Geld für ihn auch ein Schutz vor Armut, wie er sie in seiner Kindheit erlebt hatte. Das Potenzial, sich und später einmal seine Familie versorgen zu können. In erster Linie aber war es ein Totem, ein Amulett gegen die bösen Geister seiner Kindheit. Eine Selbstreferenz, mit der er sich jederzeit vor Augen halten konnte, wie weit er es gebracht hatte, was er erreicht hatte, genauer: wer er war und was er wert war. Er nannte es »Kursblatt«, und solange die Zahlen stetig stiegen, war er auf Kurs.

Auszug aus Martins Berechnungen zu seinem Horoskop

Martins letztes Kursblatt, 9.8.2019–18.06.2020

Jetzt war er siebenundzwanzig, und die Zukunft stand ihm offen. Davon war er überzeugt. Denn bei aller Sparsamkeit war Martin kein freudloser Geizhals, der daheim in der Stube hockte. Im Gegenteil, seine freie Zeit verbrachte er meist am Starnberger See auf dem Gelände der Münchner Universitäten und dort am liebsten beim Segeln. Bei seinen Kommilitonen war Martin, wenn nicht beliebt, so doch zumindest akzeptiert, zumal er sich als ausgezeichneter Segler in diesem Umfeld ausgesprochen sicher fühlte und seine tiefsitzende Unsicherheit weitgehend verdrängen konnte.

Als Angestellter am Lehrstuhl Maier-Leibnitz hatte er einen sehr günstigen Zugang zum Gelände und zur Einrichtung. Und weil Segeln trotzdem noch alles andere als preiswert war – insbesondere, wenn man nicht viel mehr als 200 D-Mark im Monat ausgeben wollte –, machte Martin aus der Not eine Tugend. Er absolvierte einen Schein zum Segellehrer und unterrichtete andere Studenten. Genau genommen am liebsten Studentinnen. Martin sah gut aus, war schlank, relativ groß, mit einem markanten Gesicht, und in den letzten drei Jahren hatte sich dabei immer wieder etwas ergeben. Mal mehr, mal weniger.

Doch auch das war dieses Jahr anders, nein, besser. Vor zwei Monaten hatte er eine junge Studentin kennengelernt, die ihn ernsthaft interessierte. Martin konnte gar nicht genau sagen, was das war. Marianne war attraktiv, wenn auch keine ausgesprochene Schönheit. Aber von ihr gingen eine unbeschreibliche Vitalität aus, eine Selbstverständlichkeit und ein Selbstbewusstsein, ohne dass sie je versuchte, im Mittelpunkt zu stehen – alles Dinge, die Martin so sehr an sich vermisste und die er daher umso mehr bewunderte. Vor vier Wochen hatte Martin sie nach dem Korsar-Segeln zu einem Kaffee mit Kuchen eingeladen. Die 1,20 D-Mark pro Tasse taten ihm noch heute ein Stück weh, aber seitdem waren sie so etwas wie ein Paar.

Übertriebene Ausgaben wie den Kaffee nach dem Segeln hatte Martin seitdem verhindern können, indem er eine Art Weltmeister im Gestalten preisgünstiger Picknicks wurde. Eine Sparsamkeit, die Marianne, deren Vater das Geld im Regelfall zwischen den Finger zerrann, zunächst sehr imponierte.

Drei Jahre später heirateten Martin und Marianne. Auch die Hochzeit hatte kein Loch in Martins Finanzen gerissen, da Mariannes Eltern die Kosten, wie traditionell üblich, übernahmen. Sein Kontostand – und das hieß auch wirklich sein Kontostand – betrug jetzt über 100 000 D-Mark, exakt 103 428 D-Mark. Die Hunderttausend zu knacken, war zwar sein großes Ziel seit über zehn Jahren gewesen, es hatte sich aber erstaunlich unspektakulär angefühlt. Egal, wichtig war, dass die Marke nie wieder unterschritten wurde und die nächsten Ziele – 150 000 D-Mark und dann 250 000 D-Mark – schnell erreicht wurden. Mittlerweile verdiente Martin 3 200 D-Mark, wovon er und Marianne maximal 400 D-Mark ausgaben. Marianne bekam für die laufenden Ausgaben nicht mehr als ein monatliches Haushaltsgeld von 120 D-Mark, über die sie Tag um Tag, Woche um Woche Rechenschaft ablegen musste. Entdeckte Martin Ausgaben, die er für vermeidbar hielt – und die entdeckte er regelmäßig –, war es seine Art, Marianne darauf hinzuweisen, und zwar ausgesprochen deutlich.

1966 war Marianne zum ersten Mal schwanger. Schon vor der Hochzeit hatte sie Martin das Versprechen abgerungen, dass sie dann aus der kleinen Zweizimmerwohnung ausziehen würden. Martin, der inzwischen dank seines brillanten Verstandes zum Teamleiter befördert worden war und stolze 4 100 D-Mark verdiente, war bei dem Gedanken alles andere als wohl. Mieten war für ihn undenkbar, aber Schulden aufzunehmen, um luxuriöser zu wohnen? Den Gedanken, 340 000 D-Mark für 154 Quadratmeter zu bezahlen, empfand er geradezu als Wahnsinn. Umgekehrt erschien ihm ein Haus im Münchner Osten auch als eine sinnvolle Investition, und Platz für drei Kinder gäbe es auch. Von seinen inzwischen 213 528 D-Mark brachte er schließlich 113 528 D-Mark als Eigenkapital ein. Exakt 100 000 D-Mark blieben auf seinem Sparbuch. Denn auch, wenn ihn knapp 10 Prozent Darlehenszins fast um den Verstand brachten – eine Zahl von unter 100 000 D-Mark abends auf seinem »heiligen« Kurszettel zu notieren, war für ihn buchstäblich körperlich unmöglich.

Im Gegenzug hatte Marianne ihm versprechen müssen, die Sparanstrengungen noch einmal zu verdoppeln. Die Schulden, das war klar, mussten so schnell wie möglich getilgt werden. Mochten bitte andere ihr Häuschen ein Leben lang abzahlen. Für solche Menschen hatte Martin nur Geringschätzung übrig – da konnte er gleich zur Miete wohnen und wie seine idiotischen Nachbarn im Sommer für zwei Wochen an die Adria fahren. Für ihn war klar: In den nächsten acht Jahren wäre das erledigt. Vollständig. In Zahlen hieß das: Von seinem relativ fürstlichen Gehalt von 4 100 D-Mark flossen monatlich fast 3 400 D-Mark in Zins und Tilgung. Urlaub, Essen gehen, selbst ein Abend im Kino: undenkbar.

Martin sparte nicht nur an Einkäufen für Kleidung und Ernährung. Er drehte die Heizung im Winter auf maximal zehn Grad auf, sorgte dafür, dass nur Licht in den Zimmern brannte, in denen sich auch jemand aufhielt, und er achtete mit Argusaugen darauf, dass es keine unnötigen Telefonate gab. Im Klartext: dass es keine Telefonate gab. Auf Fehlverhalten reagierte er jetzt zunehmend cholerisch.

Auch als Ende 1966 seine Tochter Christiane auf die Welt kam, änderte sich nichts an Martins unerbittlicher Sparsamkeit und seiner Fixierung auf Geld. Martin liebte seine Tochter, doch sein Verhältnis zu ihr blieb – auch für einen distanzierten Vater der 1960er Jahre – erstaunlich kühl, und so rettete die Liebe zur Tochter Martin ebenso wenig wie zuvor die Liebe zu Marianne. Was ihm Halt gab, waren nicht Beziehungen, sondern eine Mauer aus Zahlen, aus Geld und beruflichem Erfolg. Doch hinter dem dünnen Schutzwall seines Kursblatts, das die Welt beherrschbar machen sollte, gab es immer noch eine Leere, in der er nichts wert war. Egal, auf welches Niveau die Zahlen stiegen – vor dieser Leere kapitulierte die Magie, mit der Geld seinen Selbstwert definierte.

Die Geburten seiner Söhne Florian und Sebastian änderten daran ebenso wenig wie der frühe tragische Unfalltod seiner Tochter: sich Emotionen zu stellen, sich auf eine menschliche Beziehung einzulassen, blieb ihm weiterhin unmöglich. Martin igelte sich immer mehr ein, flüchtete sich in Arbeit und ließ seine Frau Marianne mit der Sorge um die beiden Söhne und mit ihrer Trauer um die Tochter allein. Einer Trauer, die der Hausarzt der Familie über Jahre hinweg »pragmatisch« mit Valium »behandelte.«

Wenn es ums Geld ging, fing Martin mit jedem und allen Streit an. Er schrieb seitenlange Beschwerdebriefe an Banken und Aufsichtsbehörden wegen falsch berechneter Gebühren – meist wenige Mark, hatte Konflikte mit Handwerkern, Dienstleistern und vor allem und immer wieder Streit mit seiner Frau und später mit den Kindern. Als Marianne 1972, etwa im achten Monat schwanger mit Sebastian, morgens Licht im Wohnzimmer brennen ließ, quittierte er das mit einer lautstarken finanziellen Strangulationsdrohung. Er kündigte ihr an, ihr den Geldhahn abzudrehen, sie könne dann ja sehen, wie lange sie noch mit den paar Nudeln aus der Küche klarkäme.

Auch in den Jahren darauf wurde Geld für Martin immer mehr ein Machtinstrument, um seine Familie zu regieren – zu tyrannisieren, Wohlverhalten zu belohnen oder Fehlverhalten zu bestrafen. Martin manipulierte, ja kommunizierte über Geld. Er wertete seine Familienangehörigen selten auf und meist ab, und das auch im wörtlichen Sinne durch heutige oder zukünftig angekündigte Zahlungsströme. Die Androhung, einzelne Kinder oder seine Frau zu enterben oder gar sein gesamtes Vermögen mit ins Grab zu nehmen, gehörte zu seinem Standardrepertoire. Wenn Martin seine Kinder und seine Frau nicht über Liebe an sich binden konnte, so konnte er sie doch hervorragend über Geld beherrschen, und darin wurde er laufend besser.

Trotz seines Fleißes und seiner weit überdurchschnittlichen Intelligenz führten seine Unfähigkeit zur sozialen Interaktion und seine extreme Sparsamkeit zu einem relativ frühen Karriereknick. Viele Entscheidungen schienen am Ende an Martin vorbeigelaufen zu sein. Während andere in der Kantine oder bei ein, zwei Bierchen nach Feierabend ihre Seilschaften pflegten, saß Martin mit seinen mitgebrachten Broten und einer Thermoskanne mit Tee allein hinter seinem Schreibtisch oder ging abends nach Hause. Und so ging 1980 nach der Zusammenlegung zweier Einheiten der entscheidende Abteilungsleiterposten an seinen internen Konkurrenten Peter Grauer. Der war zwar fachlich nicht einmal halb so qualifiziert, in Martins Worten »nicht mal promoviert«, aber eben bestens vernetzt und im Konzern verdrahtet.

Der Bühne seines sozialen Aufstiegs und seines beruflichen sowie finanziellen Erfolges beraubt, wurde Martin immer verbitterter. Mit Mitte 50 ging er in Frühpension. Hatte er bis dahin sein Geld nur auf dem Festgeld gehortet, begann er sich nun mit der Börse zu beschäftigen. Täglich saß er stundenlang hinter seinem Computer in einem kleinen Arbeitszimmer im Keller seines Hauses und optimierte seine Finanzen. Dort baute er sich ein kaum mehr zu überschauendes Universum an unzähligen Wertpapieren auf, die er nach und nach auf über ein gutes Dutzend Depots verteilte. Ein Wust, in Summe nicht mal schlecht gemacht, der jedoch nur noch von ihm selbst verstehbar und beherrschbar war und der ihm so eine Daseinsberechtigung gab – auch ohne Beruf.

Über die Jahre entwickelte er dabei eine immer weiter zunehmende Hingabe dahingehend, Kurse zu studieren, Tabellen anzulegen, Werte zu analysieren, füllte wie besessen Excel-Spreadsheet um Excel-Spreadsheet. Wie in seinem Physikstudium, wie in seinen frühen Studien zur Astrologie, wie mit seinem Kursblatt versuchte er, sich erneut die Welt über Zahlenreihen erklärbar sowie gefügig zu machen und sie sich ein Stück weit auch vom Hals zu halten.

Für Marianne änderte sich durch die Frühpension nicht viel: Tagsüber war ihr Mann nach wie vor beschäftigt und im Keller genauso gut aufgehoben wie in seinem Büro. Sonst versuchte sie, ihr eigenes Leben so gut wie möglich zu leben, irgendwie mit Martin auszukommen und ihn möglichst nicht zu reizen – was aussichtslos genug war. Warum es ihr nicht gelang, Martin zu verlassen, ist für Außenstehende vermutlich schwer zu verstehen. »Ich habe immer wieder den Moment verpasst: Als ich das erste Mal gehen wollte, war ich kurz darauf schwanger – und eine Familie ohne Vater war für mich undenkbar. Er war ja nicht immer unerträglich, ein bisschen wie mit einem Alkoholiker, der mal schlimmere Phasen hat, und dann geht es wieder eine Weile besser. Und als es ihm später so schlecht ging, da hätte ich es auch schofel gefunden, ihn im Stich zu lassen.« Ihre Söhne meinen, Marianne habe unter einer Art Stockholm-Syndrom gelitten und sich gleichzeitig für den Tod ihrer Tochter bestrafen wollen.

Die Kinder dagegen entglitten Martin in den Jahren nach seiner Frühpension immer weiter. Beide haben versucht, sich auf ihre Weise gegen den Lebensentwurf ihres Vaters zu stemmen. Und beide sind überzeugt, dass es die trotz allem ungebrochene Lebenskraft und Liebe ihrer Mutter war, die erreichte, dass keiner am Vater zerbrochen ist und keiner von beiden die Verhaltensmuster des Vaters wie einen Fluch reproduziert hat.

Florian gelang es ziemlich erfolgreich, seinen Vater beruflich zu übertrumpfen. Er wurde nach einem herausragenden Examen und einer steilen Karriere Chefarzt an einem Klinikum in Nordrheinwestfalen. Er ist wohl der Einzige seiner Zunft mit einem ausgesprochenen Widerwillen, sich vorrangig um Privatpatienten zu kümmern. Sobald er finanziell auf eigenen Beinen stand, brach er endgültig mit seinem Vater. Angedrohte Enterbung hin oder her. Zu Geld hat er bis heute ein distanziertes, ja scheues Verhältnis. Das, was ihm monatlich übrigblieb – und das war relativ viel –, ließ er bis zum Tode seines Vaters einfach auf dem Konto liegen, in der Hoffnung, sich nicht damit beschäftigen zu müssen.

Sebastian, ein sehr reflektierter und gebildeter Mensch, ist zumindest nach oberflächlich bürgerlichen Kategorien gescheitert. Er ging nach einem exzellenten Abitur ans Konservatorium in Wien. Obwohl ihm nach seinem Abschluss eine goldene Zukunft prognostiziert wurde, stellte er sein Cello in die Ecke und begann sich mit Gelegenheitsjobs in verschiedenen Wiener Kneipen durchzuschlagen. Wie schon sein Vater hatte er daheim zumindest eines gelernt: mit sehr, sehr wenig Geld sein Leben zu bestreiten. Zu Geld hat auch er ein sehr distanziertes Verhältnis. Als er etwa einmal an einem kaputten Glücksspielautomaten stand und einen Gewinn nach dem anderen einfuhr, zählte er nach ein paar Runden 80 Euro ab und ging zum Abendessen. Denn mehr brauchte er, inklusive Wein und Nachspeise, für heute sicher nicht – den weiter Gewinne ausspuckenden Automaten ließ er interesselos hinter sich. Bis zu Martins Tod lebte Sebastian in einem Zwölf-Quadratmeter-WG-Zimmer, in dem außer einer Matratze und einem Schrank als einziges Schmuckstück sein altes Cello stand. Da für ihn eine Enterbung faktisch Altersarmut bedeutet hätte, versuchte er sich – anders als sein Bruder –, so gut wie möglich zu arrangieren.

Während das Verhältnis der beiden Brüder trotz dieser unterschiedlichen Lebenswege von viel Zuneigung sowie gegenseitiger Achtung geprägt war und ist, hatte Martin für das, was seine Kinder erreicht hatten, letztlich nur Verachtung übrig. Bei Florian für dessen Streben nach Erfolg, seine Fähigkeit, Geld nicht nur zu verdienen, sondern auch für seine Familie wieder auszugeben und für seinen Bruch mit dem Vater. Bei Sebastian für dessen finanzielles Scheitern sowie seinen Versuch, mit seinem Vater irgendwie klarzukommen.

Menschen, die ich nicht näher kennenlernen wollte:

»Herr Müller, schön, dass Sie hier sind, und schön, dass Ihre Frau mitgekommen ist. Es ist gut, wenn Sie so wichtige Entscheidungen gemeinsam treffen.«

»Herr Dr. Braun. Sie (Herr Müller deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger auf seine Frau) hat mir versprochen, dass sie heute nichts sagt. Geld ist Männersache, da sind wir uns ja wohl einig.«

Peter M., Jurist (63) (Februar 2015). Redeanteil Peter M.: 90 Prozent/Redeanteil seiner Frau: 0 Prozent/mein Redeanteil: 10,0 Prozent.

»Wissense, Herr Braun, also ich … ich … ich habe das alles selbst aufgebaut. Aber meine Herren Söhne, die ham’s ja irgendwie nicht nötig, mal ausm Quark zu kommen. Können sich nich ma daheim durchsetzen und so.«

Dipl.-Ing. Reinhard H. (67) – raumgreifend gestikulierend (Juli 2021). Redeanteil Reinhard H.: 95,7 Prozent/Redeanteil seiner Frau: 0,3 Prozent/mein Redeanteil: 4,0 Prozent.

Nach der Frühpensionierung wuchsen die Zahlen auf Martins Kursblatt weiter und weiter: durch Glück, geschicktes Investieren am Kapitalmarkt ebenso wie durch eiserne Sparsamkeit. Von seiner staatlichen Rente und seiner Betriebsrente gab er – und mit ihm Marianne – nur einen Bruchteil aus. Doch trotz steigender Zahlen: Sein Versuch, über seinen finanziellen Erfolg eine Anerkennung seines Selbst zu erreichen, endlich nicht mehr wertlos zu sein, schlug weiterhin fehl. Für Statussymbole, die den Neid des sozialen Umfelds erregen würden, war er zu geizig; Frau und Kinder hassten ihn, zumindest sein Geld, und der eigentliche Adressat seines finanziellen Dschihads – der eigene Vater – war lange tot. Das einzige applaudierende Publikum für seinen Erfolg blieb am Ende er selbst.

Ebenso fortlaufend, wie sich Martins finanzielle Situation verbesserte, verschlechterte sich sein gesundheitlicher Zustand. Je älter er wurde, umso schwerer verlief seine Altersdepression, zu der in seinen letzten Lebensjahren zusätzlich eine schwere Hypochondrie kam. Martin entwickelte zunächst pubertäre, zuletzt regelrecht infantile Züge, um so die Aufmerksamkeit und Selbstwahrnehmung zu erzwingen, die er mit all seinem Vermögen nicht erreicht hatte.

Während er sich mit Mitte siebzig noch ab und zu in die Rolle eines von der Familie respektierten sizilianischen Großvaters fantasierte, drehten sich seine Gedanken zuletzt um eine Art Selbstauslöschung. Sein letzter Wunsch: in einem anonymen Grab beigesetzt zu werden, vergessen, so, als habe es ihn nie gegeben. Seine letzte Fantasie: sein Vermögen auszulöschen respektive mitzunehmen. So wertlos zu gehen, wie er gekommen war und er sich immer gefühlt hatte. Zu verschwinden, ohne irgendeine Spur zurückzulassen.

Martin starb mit 87 Jahren im November 2020. Sein Kursblatt pflegte er bis zuletzt. Er hinterließ ein Einfamilienhaus im Wert von 2,5 Millionen sowie Wertpapiere im Wert von 3,3 Millionen Euro. Ein in jeder Hinsicht sozial, letztlich aber auch beruflich und sogar finanziell gescheiterter Mensch, der nicht einen Tag in den Genuss seines Vermögens gekommen war. Geld blieb für den tief traumatisierten Jungen, der er immer geblieben war, ein unglaublich wirkungsvolles Instrument, eine Waffe, um sich und anderen wehzutun. Wenn man zumindest eines versöhnlich sehen möchte, dann hat Martin vielleicht bewusst darauf verzichtet, seine Familie durch ein entsprechend gestaltetes Testament aus dem Grab heraus weiter mit seinem Geld zu regieren.

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Ich selbst habe Marianne, Sebastian und Florian Wagner im Mai 2021 kennengelernt. Wir saßen noch keine zehn Minuten beisammen, als es unvermittelt aus Florian herausbrach: »Unserem Vater war Geld immer sehr wichtig, er hat sich täglich stundenlang damit beschäftigt und uns alle ein Leben lang damit regiert und tyrannisiert. Wir sind heute hier, um herauszubekommen, ob das auch anders geht.« Ich kannte noch keine Zahl und noch kein Detail – nur diesen einen Satz –, dennoch wollte ich noch nie zuvor und nie wieder seitdem so dringend mit einer Familie zusammenarbeiten wie mit diesen drei Menschen.

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Den Wunsch nach einem anonymen Grab hat Martins Familie übrigens ein Stück weit unterlaufen: Zunächst stand Martins Urne rund eineinhalb Jahre auf dem Schreibtisch im Keller: zwischen Martins Computer und seinen Aufzeichnungen.

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Im Sommer 2022 fuhren Sebastian und Florian mit ihrer Mutter mit einem kleinen Elektroboot auf den Starnberger See und streuten Martins Asche ins Wasser vor dem Universitätsgelände. Eine Erinnerung an den Ort und die Zeit, als Martins Geschichte 1961 scheinbar kurz davor gewesen war, ein Happy End zu nehmen.

150 D-Mark

Wir haben Achim im Sommer 2019 kennen gelernt. Er war genau die Art Mensch, mit der wir gern zusammenarbeiten: freundlich, zurückhaltend und ausgesprochen erfolgreich. Achim hatte mit Mitte vierzig eine beeindruckende Karriere hinter sich. Er war bei einem Mittelständler zunächst Geschäftsführer, dann Teilhaber geworden und hatte damit etwas mehr als 1 Million Euro angespart, die seit längerer Zeit auf dem Girokonto »rumlag«. Dazu kamen ein schuldenfreies Einfamilienhaus und ein geradezu fürstliches Gehalt, von dem rund 300 000 Euro für die nächsten vier Jahre in weitere Firmenanteile umgewandelt werden würden.

In seiner Familie war Geld nie wirklich ein Thema gewesen. Die Eltern waren Beamte. Es war auf einem mittleren Niveau gefühlt immer genug da. Auf einmal so viel Geld zu haben, war für Achim zwar neu, aber auch nicht bedrohlich. Sein Verhältnis zu Geld war wenig emotional, abgeklärt und rational. Die mit einer Kapitalmarktanlage verbundenen Risiken regten ihn zumindest theoretisch nicht weiter auf. Im Prinzip war er sehr aufgeschlossen, den Rest zu investieren.

Die Situation seiner Frau Sandra war dagegen völlig anders: Ihre Mutter war, als sie acht Jahre alt war, schnell und überraschend an Krebs gestorben. Ihr Vater hatte danach lange in Teilzeit gearbeitet und sie und ihre Schwester mit einem sehr übersichtlichen Angestelltengehalt allein großgezogen. So liebevoll ihre Erinnerungen an ihren Vater auch waren, ihre Erinnerungen an Geld waren davon geprägt, dass es hinten und vorne nicht reichte. Urlaub war nur alle paar Jahre drin, jede Autoreparatur war ein Notfall, jede zu zahlende Klassenfahrt eine Stresssituation. Solche Extraausgaben – und waren es nur 150 D-Mark gewesen – konnten die finanzielle Planung für mehrere Monate durcheinanderbringen und beherrschten das Denken des Vaters und damit auch der Tochter. Entsprechend war jeder persönliche Wunsch für Sandra mit Gewissensbissen verbunden.

Der traumatischen Erfahrung mit Geld entsprechend, war ihr Sicherheitsbedürfnis immens – auch wenn es längst nicht mehr zu ihrer gegenwärtigen Situation passte. Auch ohne Achims Vermögen gab es für sie keinen Grund, sich ernsthafte finanzielle Sorgen zu machen. Sandra hatte einen gut bezahlten Job und war mit einem Abschluss als Maschinenbauerin an der TU München und einem MBA hoch qualifiziert – auch ein machtvolles Amulett gegen ihr Kindheitstrauma. Dennoch ließ sie die Sorge nicht los, der finanziellen Verpflichtung gegenüber ihren Kindern, aber auch gegenüber ihrem Vater nicht nachkommen zu können. Er hatte so viel für sie und ihre Schwester geopfert, ihn konnte sie jetzt unmöglich hängenlassen.

»Mein Mann ist vielleicht der COO68, wenn es aber um Geld geht, bin ich die Aufsichtsratsvorsitzende.«

Ingrid K. (49) kontert meine Thesen zum Finanzpatriarchat (Dezember 2019).

Objektiv gesehen war ihre Existenzangst unter den neuen Umständen völlig irrational, denn für ihren Vater – dem beide inzwischen eine Wohnung in der Nähe gekauft hatten ‒ und die Kinder würde immer genügend Geld da sein. Auch der eigene Lebensstandard war – außer durch katastrophale Fehlentscheidungen – kaum mehr kaputtzukriegen. Und dennoch kamen ihr Kapitalmarkt und Börse vor wie ein Kasino oder Glücksspiel, das die Stabilität, die sie endlich in ihrem Leben gefunden hatte, wieder gefährden würde. Eine Kapitalanlage konnte sie sich deshalb schlicht nicht vorstellen.

Und Achim? Schließlich war es doch er, der das gemeinsame Vermögen großenteils verdient hatte. Er machte von Anfang an klar, dass es eine Entscheidung gegen die Vorbehalte seiner Frau nicht geben würde – nie. Punkt. Nach einer Reihe sehr netter und konstruktiver Gespräche sind wir schließlich nicht zusammengekommen. Natürlich hat uns das damals aufgeregt, meinen Sozius Stefan mindestens so wie mich. Die beiden waren so nette und freundliche Menschen, die eigentlich perfekt zu uns gepasst hätten. Und alles scheiterte an nicht weiter hinterfragten Glaubenssätzen und Erfahrungen aus der Kindheit.

Gleichwohl hat Achim im Prinzip alles richtig gemacht: Wenn Beziehungen wichtiger sind als Geld, dann ist es sicher besser, mehrere Zehntausend Euro Kaufkraftverlust pro Jahr zu ertragen, als – wie so viele Finanzpatriarchen – seine Partnerin bei einem so traumatischen Thema zu übergehen. Vor allem, wenn man es sich finanziell leisten kann.

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Im Februar 2022 haben wir Achim und Sandra wiedergetroffen. Achim hat das Kaufprogramm für seine Firmenanteile inzwischen weitgehend abgeschlossen. Von dem Großteil des Geldes haben Sandra und er sich inzwischen eine Immobilie zum Vermieten gekauft.

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Sandras Sicherheitsbedürfnis ist damit, auch in ihrer eigenen Wahrnehmung, weitgehend gestillt. Die Börse ist ihr nach wie vor unheimlich, aber sie macht ihr nicht mehr so viel Angst.

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Seit ein paar Wochen (Stand: April 2022) arbeiten wir zusammen und sind sehr gespannt, wie es weitergeht.

Fazit

Exkurs: Gute und schlechte Fragen zum Thema Geld

ZWÖLF KLUGE FRAGEN ZUM THEMA GELD

  1. Warum ist Geld wichtig für mich?

  2. Für wen trage ich Verantwortung?

  3. Was darf auf keinen Fall mit meinem Vermögen passieren?

  4. Wenn ich morgen 1 Million Euro mehr hätte – was würde ich in meinem Leben verändern? Geht das nicht auch so?

  5. Wenn ich ein Jahr frei hätte – was würde ich tun und wie viel Geld bräuchte ich dafür?

  6. Wessen Leben könnte ich am stärksten verbessern, wenn ich ihm heute Geld schenken würde?

  7. Wie viel Geld ist genug für mich?

  8. Wie schaffe ich es, mein Vermögen auf die Sicht der nächsten zwanzig, dreißig Jahre zu erhalten?

  9. Wer und was hat mich in Bezug auf Geld am meisten geprägt? War das gut so oder eher toxisch?

  10. Gehört mein Vermögen mir oder ich meinem Vermögen? Was sollte ich daran ändern?

  11. Wie schütze ich meine Kinder vor meinem Vermögen? Wann ist der richtige Moment, ihnen etwas zu schenken?

  12. Was müsste ich mit meiner Familie heute unternehmen, damit sich möglichst alle ein Leben lang positiv daran erinnern?

ZWÖLF SCHLECHTE (UND DUMME) FRAGEN ZUM THEMA GELD

  1. Was wird nach Tesla die nächste Turbo-Aktie? Haben Sie einen aktuellen Tipp für mich?

  2. Wie lege ich jetzt 50 000 Euro am besten für die nächsten drei Jahre an?

  3. Was ist der beste Investmentfonds im Bereich Digitalisierung und Robotics?

  4. Soll ich jetzt noch Bitcoin kaufen?

  5. Was sollte ich vor der US-Wahl noch schnell an meinem Depot verändern?

  6. Wie schaffe ich die erste Million in sieben Jahren?

  7. Wie kann sich der Huber eigentlich so ein fettes Auto leisten?

  8. Wo könnte ich konkret sparen, oder wer leiht mir Geld, damit ich mir ein noch fetteres Auto als der Huber kaufen kann?

  9. Wie schütze ich mein Vermögen vor meinen unwürdigen Erben?

  10. Mit welcher Investition kann ich dieses Jahr noch am besten Steuern sparen?

  11. Wie verhindere ich, dass sich meine Frau in meine Finanzangelegenheiten einmischt?

  12. Soll ich wegen der XY-Krise jetzt lieber alles verkaufen?