4 500 Wochen

Die spannendste und zugleich trügerischste Transaktion, die man mit dem universellen Tauschmittel Geld unternehmen kann, ist der Tausch von Zeit in Geld und wieder zurück: von Geld in Zeit.

Die geistloseste Version dieser Konvertierung lautet natürlich »time is money«: das Motto einer gehetzten, permanenten Gewinnmaximierung. Beeil dich, trödele nicht, verschwende keine Zeit, denn das kostet alles Geld. Und was du im Überfluss hast, ist Zeit, und was du im Überfluss brauchst, ist Geld: mehr, mehr, mehr.

Machen Sie dazu einfach ein Gedankenexperiment, das ich Carl Richards verdanke: Jemand bietet Ihnen an, Ihr Einkommen innerhalb von achtzehn Monaten zu verdoppeln – für nur zehn Stunden mehr Arbeit pro Woche. Ist das nicht ein großartiger Deal? 45 statt 35 Stunden und dafür 160 000 Euro statt 80 000 Euro? Was man dafür alles machen und sich leisten kann. Was wäre mit einem Einsatz von 55 Stunden für 320 000,– Euro, 65 Stunden für 640 000 Euro oder 75 Stunden für 1,28 Millionen Euro pro Jahr? Vielleicht kann man sogar noch 85 Stunden für 2,56 Millionen Euro irgendwie (eine Weile) durchhalten. Aber klug ist das sicher nicht mehr. Wann sagen Sie: »Stopp!« Und wann sagen Sie: »Das ist genug«. »Genug«, das ist ja ohnehin die schwierigste Vokabel im Zusammenhang mit Geld respektive Reichtum.86 Umgekehrt: Was würden Sie tun, wenn Sie auf einmal unbegrenzt unstrukturierte Zeit hätten? Kann das nicht auch bedrohlich sein?

Die meisten Menschen tauschen ihr Berufsleben lang (Arbeits-)Zeit in Geld um. Und auch, wenn Sie Inhaber eines Unternehmens sind, das auch wunderbar ohne Sie funktioniert, oder Sie ein größeres Vermögen haben, von dessen Kapitalerträgen Sie leben: Auch in diesem Fall leben Sie von in Geld getauschter Zeit. Nur eben der Zeit anderer Menschen. Insofern hat Karl Marx‹ Theorie, nachdem der Kapitalist sich am durch den Arbeiter geschaffenen Mehrwert bereichert,87 nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine zeitliche Achse.

Sehr stark vereinfacht, sah über viele Jahrhunderte hinweg die Gleichung bezüglich Geld und Lebenszeit für die meisten Menschen ungefähr so aus: Arbeit = erträgliche Armut. Keine Arbeit (Ruhestand) = unerträgliche Armut. Das gilt für große Teile der Weltbevölkerung nach wie vor, wobei die Definition von erträglich und unerträglich ein weites Feld ist.

Seit in Deutschland mit dem Wirtschaftswunder der Fünfziger- und Sechzigerjahre das Thema Altersarmut für größere Teile der Bevölkerung an Härte verloren hat, sieht die – angestrebte – Gleichung anders aus. Das (ordo-)liberale Heilsversprechen der Fünfziger und Sechziger lautet dabei quasi identisch wie das (neo-)liberale Heilsversprechen der Neunziger: durch mehr oder minder harte Arbeit sich im Laufe seines Lebens eine finanzielle Reserve zu erarbeiten, von der man dann später im Alter sorgenfrei leben kann.

Dabei ist der Deal der Nachkriegs-, der Babyboomer-Generation und großer Teile der Generation X, die zu Geld gefrorene Zeit nach der Erwerbstätigkeit wieder aufzutauen, also Geld zurück in Zeit zu tauschen, in mehrerer Hinsicht trügerisch.

Erstens, weil wir Menschen zwar die Variable Geld in dieser Gleichung ein Stück beherrschen können, für die Variable Zeit aber jemand oder etwas anderes zuständig ist, egal, ob Sie das dann Gott, Karma, Schicksal oder Zufall nennen. Finanziell gesehen ist zwar ein früher Tod – insbesondere für die Erben – der »Best Case«. Im Sinne von genutzter Lebenszeit aber ist es (potenziell) eine unglaubliche Verschwendung, ein großes Vermögen zu hinterlassen. Das gilt auch, wenn eine angeschlagene Gesundheit verhindert, dass Sie Ihren Ruhe- beziehungsweise Wohlstand richtig genießen können. Umgekehrt: Wenn Sie viel älter werden, als Sie angenommen haben, fallen Sie eventuell doch wieder in die Altersarmut zurück.

Zweitens reduziert das Verschieben von Erlebnissen Ihre Erinnerungsrendite drastisch: An den dreimonatigen Roadtrip mit zweiundzwanzig durch Australien erinnern Sie sich potenziell noch fünfundsechzig Jahre. Von diesen »Credit Points für Ihre Seele« können Sie sehr lange zehren. An die Kreuzfahrt mit fünfundsechzig erinnern Sie sich dagegen vermutlich nur noch zweiundzwanzig Jahre.88

Drittens fällt es erstaunlich vielen Menschen, die ihr Leben lang in der Hoffnung auf eine sorgenfreie und komfortable Zukunft gespart haben, schwer, zu akzeptieren, dass dieses Kapital jetzt auch wieder weniger wird – geschweige denn, dass es ihnen gelingt, im Alter Geld lustvoll zu verbrauchen.89 Sie haben es schlicht nie gelernt. Gerade wenn diese Menschen keine Erben haben, die ihnen am Herzen liegen, gilt für sie – wie für den vor der Zeit Gestorbenen: Ihre gefrorene Zeit wird von Momos grauen Herren geraucht. Sie haben im wahrsten Sinne des Wortes umsonst gearbeitet. Es geht ihnen so, als hätten sie ihr Vermögen nie gehabt.

Wenn der traditionelle Tausch von Zeit in Geld und Geld zurück in Zeit, der über einen ganzen Lebenszyklus hinweg angelegt ist, so brüchig ist, ist es kein Wunder, dass Menschen insbesondere aus jüngeren Generationen versuchen, dieses Grundschema zu relativieren.

Die intellektuell zumindest in dieser Hinsicht schlichteste Lösung: Frugalismus. Eine in den letzten Jahren vor allem im Netz gehypte Bewegung, deren Ziel es ist, den klassischen Geld-Zeit-Deal deutlich zu beschleunigen: Lebensstandard massiv absenken, brutal sparen und das »Hamsterrad« der ungeliebten Erwerbsarbeit so schnell als möglich verlassen. Dazu ein bisschen philosophischer Zuckerguss im Sinne von Konsumverzicht und Fokussierung aufs Wesentliche – und fertig ist eine ex negativo aufs Geld fixierte Weltanschauung.90 Am Ende bleibt es aber bei dem naiven Grundvertrauen: Es lohnt sich, größere Teile des Lebens auf die Zukunft zu verschieben.

Die naive Zuversicht, Zeit langfristig in Geld zu tauschen zu können, ist vielen jungen Menschen aus der Generation Y abhandengekommen. Viele von ihnen stellen sich jenseits der finanziellen Optimierung bei der Berufswahl im Schnitt daher deutlicher die Frage, wie viel Freude ihnen eine Tätigkeit macht, ob nicht 80 Prozent arbeiten auch reicht und man die restliche Zeit nicht lieber mit Freunden oder den Kindern verbringen sollte. Elternzeit, Sabbatical, ein freies Jahr nach der Schule sind für sie alles andere als exotischer Luxus, sondern Teil ihres Selbstverständnisses. Am Ende versuchen sie damit, auf ihre Weise den Deal, Geld in Zeit zu tauschen, zu optimieren, indem sie die Geld-Zeit-Transaktion viel kleinteiliger und ich meine auch reflektierter eingehen. Bis zu einem gewissen Maß kippt dabei die Leitwährung von Geld auf Zeit.

Natürlich haben das auch einige Menschen aus den älteren Generationen schon so gemacht – dass es ein Stück zum Normalfall wird, ist neu. Ob das an mehr Lebensweisheit, einer beschleunigten (Arbeits-)Welt, einer dystopischen Weltsicht wegen des Klimawandels liegt, oder einfach daran, dass diese Generation in einem nie dagewesenen Wohlstand aufwächst, der ihnen ein Stück weit den ökonomischen Stachel nimmt? Vermutlich an allem zusammen. Spannend.

Egal welche Generation und welcher Lebensentwurf: Am Ende gibt es einen Hebel, die trügerische Gleichung Zeit = Geld = Zeit zu den eignen Gunsten zu manipulieren: wenn die Zeit in der Arbeit selbst als erfüllend wahrgenommen wird. Dazu braucht man entgegen anderen Gerüchten nicht vor allem viel Geld, sondern vor allem eines: Mut und Freiheitswillen.

15 834 Kilometer

Nikolaus: »Lorenz, du bist mit dem Fahrrad von Hamburg nach Bangkok gefahren. Warum?«

Lorenz: »So eine Reise, das war schon immer mein Traum, lange, lange bevor ich ihn wahr gemacht habe. An seine Grenzen zu kommen und Dinge zu sehen und zu verstehen, die man sonst nie sehen und verstehen würde. Und natürlich war da so eine Vorstellung von Freiheit und Lösung von den alltäglichen Zwängen.«

Nikolaus: »Warum quer durch Asien? Warum nicht einfach von Lappland nach Portugal und dann am Mittelmeer entlang bis Istanbul und über den Balkan und Osteuropa zurück nach Hamburg?«

Lorenz: »So eine Tour wäre natürlich auch großartig. Und das machen auch vergleichsweise viele Menschen. Am Ende scheuen sie sich aber davor, in ein völlig unplanbares Gebiet zu fahren, in Länder, in denen sie die Sprache nicht sprechen und die ihnen völlig fremd sind. Und das verstehe ich auch, aber genau das wollte ich. Denn genau dort wird es ja am schönsten – und mit der Vermutung hatte ich auch recht.«

Nikolaus: »Eigentlich wolltest du ja bis nach Singapur, was ist dazwischengekommen?«

Lorenz: »Bevor ich weggefahren bin, habe ich mich furchtbar in Tamara verliebt, eine Georgierin, die ich in meiner Zeit in London kennen gelernt hatte. Nach über einem Jahr haben wir uns in Bangkok wiedergetroffen. Vor mir lagen noch etwas mehr als 1800 Kilometer. Einmal war der Straßenverkehr in Thailand wirklich mörderisch und im Norden Malaysias gab es damals schon Bürgerkrieg und jede Menge islamistischer Anschläge. Nachdem Tamara und mein Vater mich schon einmal während meiner Reise für über eine Woche für tot gehalten hatten, wollte ich nicht auf den letzten Metern das Schicksal herausfordern.«

Nikolaus: »Träumen – das tun ja viele. Was hat dazu geführt, dass du es tatsächlich getan hast, und das gleich zu Beginn deiner beruflichen Karriere?«

Lorenz: »Ich fand das damals – und das finde ich auch noch heute – eigentlich den besten Zeitpunkt. Es war noch so wenig Existenz da, es gab kaum Verpflichtungen: keine Frau, keine Kinder, keine Schulden, keine nennenswerte Karriere, die ich hätte aufgeben müssen. Mir war klar: So leicht würde ich es nie wieder haben. Ich lebte damals in London. Ich fand die Stadt toll, ich fand es toll, richtig Geld zu verdienen, aber die Arbeit in einem Konzern als vergleichsweise kleines Rädchen mit all der Politik – das fand ich furchtbar, und ich habe mir gedacht, wenn ich es jetzt nicht mache, dann passiert es nie.«

Nikolaus: »Hattest du nicht Angst, dass das schlecht im Lebenslauf aussieht?«

Lorenz: »Ein bisschen habe ich schon darüber nachgedacht, dass das komisch aussieht, wenn man gerade zwei Jahre gearbeitet hat und auf einmal bricht man das alles schon wieder ab. Als ich wieder da war, hat es mir nie geschadet. Im Gegenteil, die Personaler fanden es großartig, und es war manchmal schwierig, mit ihnen über meine Ziele und meine Qualifikation zu sprechen und nicht über die Reise.«

Nikolaus: »War die Reise nicht wahnsinnig teuer?«

Lorenz: »Das ist immer eine Frage der Perspektive. Am Ende hat mich das Jahr 14 000 bis 15 000 Euro gekostet. Ob das viel ist … das kommt sehr darauf an, welchen familiären Hintergrund man hat.«

Nikolaus: »Lass uns genau darüber sprechen, Lorenz. Was spielte Geld für eine Rolle in deiner Kindheit?«

Lorenz: »Als ich ein Kind war, war eigentlich nie viel Geld da. Mein Papa war eher sehr ausgabenfreudig, und wenn mal etwas Geld da war, war es auch bald wieder weg. Meine Mutter dagegen war eher sparsam und nutzenorientiert, das hat immer wieder zu Diskussionen geführt. Ich erinnere mich daran, dass Dinge, wie mal zu McDonald’s zu gehen, etwas ganz Besonderes und Schickes waren. So ungefähr waren die Relationen. Bevor mein Großvater auf dem Radar erschien, war Geld auch irgendwie nie wichtig für mich. Ich stellte mir immer vor, Priester oder vielleicht Lehrer zu werden.«

Nikolaus: »Wie konnte das sein, dass bei euch daheim so wenig Geld da war – dein Großvater war doch eher Milliardär als Multimillionär?«

Lorenz: »Das Verhältnis zwischen meinem Vater Andreas und seinem Vater Ludwig war, um es sehr, sehr höflich zu formulieren, faktisch nicht existent. Mein Großvater hat seinen unehelichen Sohn kaum wahrgenommen. Entsprechend kamen bei uns auch keinerlei finanzielle Segnungen an.«

Nikolaus: »Wann hast du zum ersten Mal realisiert, dass du vielleicht irgendwann so viel Geld erben könntest, dass es jegliche Bedeutung verliert?«

Lorenz: »Kennengelernt habe ich meinen Großvater mit elf oder zwölf auf der Konfirmation meiner Schwester. Als ich dann so nach und nach begriff, wer Ludwig war, hatte ich erst mal eher kindliche Vorstellungen. Ich fand den Gedanken cool, demnächst mit Bodyguards in die Schule zu gehen. Ich war einfach viel zu klein, um zu verstehen, dass das riesige Vermögen vielleicht einmal zu einem Teil mir gehören würde. Auch später war der Gedanke, dass da so unglaublich viel Geld da war, eher abstrakt. Ich projizierte auf dieses Vermögen eher eine sichere Zukunft als irgendwelchen Luxus oder das Leben der sogenannten Reichen und Schönen.«

Nikolaus: »Dein Vater hatte, wie du es beschrieben hast, ein tief gespaltenes Verhältnis zu seinem eignen Vater. Wie entwickelte sich dein Verhältnis zu Ludwig?«

Lorenz: »Großvater war zunächst nicht wirklich begeistert, dass ich auf einmal auf dem Schirm erschien. ›Was soll ich jetzt machen mit diesem Knirps?‹ Im Prinzip war er ziemlich empathielos. Da war es eher meine Großmutter Clara, die ein Stück weit moderiert und meinen Großvater auch geschubst hat, sich zumindest finanziell etwas um mich zu kümmern. Das ermöglichte mir dann auch, auf ein sehr gutes Internat in England zu gehen und später an einer relativ renommierten Universität in den USA zu studieren.

Dann passierte da auf einmal etwas zwischen mir und meinem Großvater: Durch meine guten Schul- und Studienleistungen begann er auf einmal, etwas auf mich zu projizieren und in mir zu sehen, was er in seinen eigenen Kindern nicht gesehen hatte: jemanden, der in seine Fußstapfen als Unternehmer, Gestalter und Macher steigen würde. Und ich projizierte auf meinen Großvater das, was ich in meinem Vater nicht gesehen hatte: eben einen erfolgreichen Unternehmer, Gestalter und Macher. Was mich an meinem Großvater faszinierte, war nicht das Geld als solches, sondern dass dieses Geld Ausdruck von Macht, Einfluss, Erfolg und Gestaltungsmöglichkeiten war. Ich wollte nicht an das Geld meines Großvaters. Ich wollte bis zu einem gewissen Grad so werden wie er.«

Nikolaus: »Wann hast du begonnen, die Schattenseiten von Ludwigs Vermögen zu erkennen?«

Lorenz: »Das kann ich nicht genau sagen. Ich weiß zumindest, dass ich zu Beginn die Nachteile nicht gesehen habe, und das obwohl die Familie meines Großvaters dermaßen kaputt war. Ich glaube, mein Vater hat unglaubliches Glück gehabt, dass er im Großen und Ganzen außerhalb dieses toxischen Umfelds groß geworden ist. Sein Halbbruder Christoph ist völlig in einem Sumpf aus psychischen Krankheiten, Drogen und juristischen Streitigkeiten um seine Entmündigung untergegangen. Ob es am Geld lag? Ich glaube, Geld war die entscheidende Zutat für sein Unglück.

Aber es war nicht nur die Familie, die durch das Geld letztlich völlig krank war. Ludwig war umgeben von einer mittleren Heerschar von Anwälten und Steuerberatern, ich würde fast sagen Hofschranzen, die sein Leben und seine Finanzen organisierten. Ab einem gewissen Punkt war fast das gesamte Vermögen an seine Frau Clara überschrieben oder in Stiftungen überführt worden. Ludwig hatte, so absurd das klingen mag, bezüglich seines eigenen Vermögens nicht mehr wahnsinnig viel zu sagen. Wie man bei uns in der Familie sagte: ›Ludwig sagt, Clara macht‹.«

Nikolaus: »Welche Rolle spielte Geld ganz konkret in dem Verhältnis zu Ludwig?«

Lorenz: »Einmal hat mir das Geld von Ludwig eine wirklich sehr gute und wunderbare Ausbildung ermöglicht. Und daran war auch geknüpft, dass ich für kleine finanzielle Annehmlichkeiten nicht immer meine Eltern fragen musste, wenn ich mir in England und später in den USA eine Kleinigkeit leisten wollte. Mal abgesehen von den tatsächlich einigermaßen fürstlichen Studiengebühren und der Unterbringung auf dem Campus war das zwar viel Geld für einen Studenten, aber alles andere als exorbitante Summen. Nicht nur mit dem Maßstab eines Milliardärsenkels. Ich denke, das waren im Laufe von sieben Jahren vielleicht knapp 50 000 Euro gewesen, im Schnitt rund 600 Euro im Monat. Am Ende bin ich sehr dankbar dafür, denn mit dem, was von diesem Geld übrigblieb, habe ich meine Reise finanziert.«

Nikolaus: »War es also das Geld deines Großvaters, das dich auf die Idee gebracht hat, für eine Weile auszusteigen und sich diesen Luxus zu gönnen?«

Lorenz: »Nein, zum Glück nicht. Das Geld hat den Traum zwar möglich gemacht, aber der Traum war schon lange davor da. Das ist irgendwie wichtig für mich, dass es nicht das toxische Geld der Familie war, das mich erst auf den Gedanken gebracht hat.«

Nikolaus: »Wann hast du verstanden, dass aus dem Millionenerben vermutlich doch nichts werden würde?«

Lorenz: »Eigentlich hatte ich sehr bald erhebliche Zweifel, ob irgendetwas mal bei mir ankommen würde. Zwar hatte mir mein Großvater immer signalisiert, dass später einmal für mich gesorgt sein würde, aber allein schon die Art, in der er mir Geld zukommen ließ, wenn ich ihn besuchte, war einigermaßen absurd: Es mussten mehrere Telefonate geführt werden, und es wurden unterschiedliche »Angestellte« und Berater konsultiert, bis dann irgendwann eine Sekretärin mit einem Umschlag erschien, in dem Mal mehr und mal weniger Bargeld enthalten war. Als mein Großvater dann im letzten Jahr meines Studiums verstarb, war es schon eine mittlere Kraftanstrengung, dass mein Studium noch bis zu Ende finanziert wurde.«

Nikolaus: »Was hat das mit dir gemacht? Beschäftigt dich das bis heute, dass du beinah Multimillionär geworden wärst, dass du es vielleicht sogar immer noch werden kannst?«

Lorenz: »Weil ich nie so richtig damit gerechnet habe, beschäftigt es mich letztlich nicht wahnsinnig viel. Und ganz vielleicht kommt ja doch noch mal was, dann sehe ich das so ähnlich wie einen Sechser im Lotto, ansonsten habe ich das aus meinen Gedanken ausgeblendet. «

Nikolaus: »Noch mal zurück zu deiner Reise: War es schwer für, sich danach wieder einzugewöhnen?«

Lorenz: »Definitiv ja. Ich tu mich bis heute manchmal schwer. Wenn man einmal dieses unglaubliche Maß an Autonomie und Freiheit genossen hat, wird es nicht gerade leichter, mit dem einen oder anderen Unsinn unseres alltäglichen westlichen Lebens klarzukommen.«

Nikolaus: »Wenn du heute zurückdenkst, in welcher Hinsicht hat die Reise dich am meisten geändert, wie du heute über Geld und Zeit denkst?«

Lorenz: »Einmal denke ich, habe ich durch diese Reise, wie du das nennst, relativ sinnvoll Geld in Zeit getauscht. Zum anderen hat es mich tief beeindruckt, wie andere Kulturen teilweise ökonomisch viel unsinniger, aber in Bezug auf ein gelungenes Leben viel sinnvoller mit Zeit und Geld umgehen.«

Nikolaus: »Ist das nicht ein Klischee? Kannst du das an einer konkreten Geschichte festmachen?«

Lorenz: »Wenn du magst, an einem Dutzend. Zum Beispiel werde ich nie vergessen, wie ich im Osten des Irans in eine größere Stadt kam – vielleicht so groß wie Mannheim. Weil mich mein mittlerweile ziemlich verwilderter Bart quälte, habe ich einen kleinen Markt aufgesucht und habe mit Händen und Füßen versucht, dem Inhaber zu erklären, was ich brauchte, wo ich herkam und was ich noch vorhatte. Der Mann war begeistert von meiner Geschichte: ein verrückter Deutscher, der mit dem Fahrrad von Hamburg nach Singapur wollte. So was passiert im Leben nur genau einmal. Es war 11 Uhr vormittags, er sperrte seinen Laden ab, und wir gingen die nächsten vier Stunden gemeinsam zum Essen und Teetrinken. Das ist eine Klugheit, die uns hier irgendwo verloren gegangen ist.«

Nikolaus: »Gibt es auch Schattenseiten, Aspekte, von denen du sagen würdest, die Reise hat dich negativ beeinflusst?«

Lorenz: »Das lange Alleinsein lehrt einen irgendwie, selber klarzukommen. Ich tu mir heute deutlich schwerer, mich auf neue Menschen einzulassen. Zu der Zeit, als ich losgefahren bin, hatte ich auf Facebook 2 000 Kontakte. Seit ich wiedergekommen bin, ist kein einziger neuer dazugekommen.«

»Im Alter wird es dann noch schlimmer. Dann hat man oft Geld und Zeit … aber Golf spielen und reisen kann man halt auch nur dann noch, wenn man keinen schlechten Rücken hat und einen vernünftigen Lebenspartner. Ergo: Es gibt keinen Trade-off mit der Zeit.«

Jörg M. (64) (Juli 2022).

Nikolaus: »Mir hat mal eine Kundin gesagt: ›Herr Braun, ich habe 4 000 Freunde‹, und sie meinte damit ihre Kontakte im Social Web. Wow, habe ich mir gedacht, ich habe nicht mal zehn. Was ich damit sagen will: Kann man denn das auch nicht genau umgekehrt sehen: dass du Beziehungen jetzt mehr wertschätzt und genauer hinschaust?«

Lorenz: »Vielleicht. Ich würde mir trotzdem wünschen, besser darin zu werden, neuen Menschen in meinem Leben eine echte Chance zu geben.«

Nikolaus: »Könntest du dir vorstellen, noch mal aufzubrechen?«

Lorenz: »Natürlich, und ich wäre auch bereit, diesen Lebensstil mit meiner Frau Tamara zu teilen. Auf der anderen Seite aber habe ich nach wie vor ein großes Sicherheitsbedürfnis. Ein Leben auf der Reise, das kann man nicht dauerhaft durchhalten, allein schon körperlich. Und noch dazu würde ich, wenn es einmal so weit ist, meinen Kindern diesen Lebensstil nicht aufzwingen wollen.«

Nikolaus: »Denkst du seitdem anders über Erfolg nach? Bist du geheilt davon, einmal so erfolgreich zu werden wie dein Großvater?«

Lorenz: »Ich denke sicher anders über Erfolg nach, über Karriere und Geld. Ich möchte aber immer noch ordentlich Karriere machen, aber nicht wegen der damit verbundenen Macht, sondern eher wegen Dingen wie Autonomie und weil ich mehr wissen möchte. Insofern war diese Reise auch die Geschichte einer Selbstfindung. Geheilt von dem Gespenst meines Großvaters, dem Gedanken, einmal so erfolgreich zu werden wie er, bin ich trotz allem nicht. Ich bin immer noch ein Getriebener. Aber ich kann das Gespenst jetzt ziemlich gut erkennen, wenn es mich nachts besucht, und ich bin sehr gut darin geworden, über dieses Thema nachzudenken.«

Nikolaus: »Was würdest du aus heutiger Sicht dem Lorenz raten, der vor ein paar Jahren aufgebrochen ist?«

Lorenz: »Lass dir mehr Zeit.«

Nikolaus: »Lieber Lorenz, danke, dass du mir deine Geschichte erzählt hast.«

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Lorenz lebt heute mit seiner Frau Tamara in einem eher weniger glanzvollen Viertel von Hamburg.

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Er arbeitet bei einem kleinen mittelständigen Betrieb als (einziger) Mitarbeiter im Marketing und verdient mit 70 000 Euro anständig, aber – gemessen an seiner Herkunft – auch nicht berauschend.

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In ihren Urlauben machen Tamara und Lorenz kleinere Radtouren – etwa den Rhein entlang, von Konstanz an die Nordsee oder quer durch die Toskana. Sein Fahrrad hat er sich auf die Wade tätowiert.

2016

Eigentlich wollte Heiner einmal Mediziner werden. Aber da er in der dreizehnten Klasse verschwitzt hatte, den Medizinertest zu machen und diesen erst im Herbst 1989 nachholen konnte, entschloss er sich, die Zeit mit einem Praktikum bei der kleinen Unternehmensberatung Bauer und Partner zu überbrücken. Nach dem Praktikum wurde er für einen damals traumhaften Stundenlohn von 23 D-Mark übernommen und entwickelte sich bei Bauer und Partner zu einer Art unersetzlicher Universal-Assistenz.

So ließ er im Herbst 1990 seinen Platz für ein Medizinstudium in Heidelberg sausen und begann an der LMU München ein Betriebswirtschaftsstudium, das er so schnörkellos und effizient wie möglich in acht Semestern durchzog. Parallel dazu arbeitete er so viel wie möglich bei Bauer und Partner, wo er bereits ab dem fünften Semester im Hintergrund eigene kleinere Beratungsmandate organisierte.

Da Heiner schon immer eine hohe Affinität zur IT hatte und auch an der Uni jeden Kurs belegte, der irgendetwas damit zu tun hatte, entwickelte er sich in dem kleinen Unternehmen sehr schnell zu einem Ansprechpartner für alle Themen, die man heute unter dem Schlagwort Digitalisierung zusammenfassen würde. Nach dem Studium sofort übernommen, wurde Heiner nach drei Jahren als Juniorpartner bei Bauer und Partner von einem deutlich größeren Wettbewerber abgeworben. Dort, bei KV & Cie, wurde er mit gerade einmal 28 zum Chef der kleinen, aber schnell wachsenden Digitaleinheit ernannt. In den Jahren 1998, 1999 und 2000 schoss das Geschäft bei KV & Cie durch die Decke. Hatte Heiner die Abteilung mit vier Mitarbeitenden gestartet, waren es im Jahr 2000 schon knapp 40 und sein Gehalt ansprechend bis stattlich.

Auch privat hätte es für Heiner nicht besser laufen können. Schon in den ersten Wochen bei KV & Cie verliebte er sich in Corinna, eine Mitarbeiterin aus der Marketingabteilung, die er noch im selben Jahr heiratete. 1999 kam ihr erster Sohn Niklas auf die Welt, nur fünfzehn Monate später gefolgt von Timo.

Mit dem Platzen der Technologieblase kam auch für die Digitaleinheit von KV & Cie der Zusammenbruch: Quasi über Nacht brachen über 50 Prozent der Aufträge weg. Das Unternehmen reagierte mit einem knallharten Sparprogramm. Auf einen Schlag wurde jeder dritte Mitarbeiter freigestellt, der Rest wurde zu einem »freiwilligen« Gehaltsverzicht gedrängt, und auch Heiner musste auf seinen Bonus verzichten. Das tat richtig weh, denn seine Variable machte fast die Hälfte seines Gehaltes aus. Da die Krise sich immer weiter hinzog, die Kunden immer weiter wegbröckelten, sah sich KV & Cie 2002 gezwungen, das Geschäftsfeld Digitalisierung abzustoßen. Heiner kratzte das Geld, das er hatte, zusammen, lieh sich den Rest und kaufte seinem Arbeitgeber die Digitalisierungssparte ab. Mit einem Dutzend Mitarbeitenden und einer Handvoll verbliebener Kunden machte er weiter.

Seine neue Firma H1 – eine etwas alberne Abkürzung seines Spitznamens Heinz – bekam tatsächlich die Kurve. Bereits im Jahr 2004 wurde sie von einem Branchenmagazin als Newcomer des Jahres gefeiert. Das Wachstum der ersten Jahre war phänomenal und wirkte auf Heiner wie eine Droge. Jeden einzelnen Euro investierte er sofort wieder in das Unternehmen zurück, nicht nur in die Entwicklung strategischer Projekte oder in die Einstellung neuer Mitarbeitender, sondern auch in prestigeträchtige Designermöbel, mit denen er seine Kunden beeindrucken wollte. 25 000 Euro oder mehr für einen schicken Empfangstresen – kein Problem. Das führte dazu, dass in der H1 neben der Steuerrücklage kaum liquide Reserven waren, um eventuelle Umsatzrückgänge ohne drastische Maßnahmen abfangen zu können. Doch warum auch? Das Unternehmen wuchs und wuchs ja. Und solange das so war, störte es Heiner wenig, dass die Bilanzen zwar wachsende Umsätze, aber kaum Gewinne auswiesen. In diesem Punkt bestärkte ihn sein Steuerberater auch noch: »Besser investieren, als Steuern zu zahlen.«

Sein Ziel: Bis 2016 die Marke von 10 Millionen Euro Umsatz knacken, dann die Prozesse auf Gewinnmaximierung statt Wachstum umstellen und die ganze H1 für einen mittleren zweistelligen Millionengewinn verkaufen. Ausgesorgt mit 45 und endlich frei sein. Wenn er mit seiner Frau Corinna über die Zukunft sprach, dann baute er immer größere und fantastischere Luftschlösser, malte sich die gemeinsame sorgenfreie Zukunft immer bunter aus. Dafür lohnte es sich doch, noch ein paar Jahre ranzuklotzen.

Wenn Heiner in der Firma kaum Reserven unterhielt, so sorgte er privat überhaupt nicht vor. Sein Gehalt war mit gut 200 000 Euro ziemlich üppig. Doch davon legte er kaum etwas zur Seite, machte lieber noch mal einen spontanen Wochenendtrip oder Corinna teure Geschenke. Und da das Unternehmen kaum Gewinne machte, gab es auch keinerlei zusätzliche Gewinnausschüttungen. Insgesamt überführte Heiner kaum Firmenvermögen in Privatvermögen. Metaphorisch gesprochen brachte Heiner keinerlei Geld hinter die Brandmauer, legte keinerlei Wintervorräte an, falls die Zeiten einmal frostiger werden würden.

Heiner war an dieser Stelle völlig risikoblind und wie berauscht vom Erfolg und der Droge Wachstum. Er arbeitete täglich zwölf, oft auch vierzehn Stunden, und das im Regelfall auch an den Wochenenden. 2010 knackte die H1 erstmals die 5-Millionen-Euro-Umsatzgrenze – das Ziel 10 Millionen zur Hälfte erreicht. Als das Wachstum im Folgejahr erstmals deutlich zurückging, reagierte Heiner darauf, indem er noch härter arbeitete. Ein unerklärlicher Ausrutscher, mehr nicht, kein Grund, umzusteuern.

Dabei übersah er noch etwas viel Wichtigeres als unternehmerische Liquiditätsplanung, Kostendisziplin oder seine private finanzielle Vorsorge und Notfallplanung: seine Gesundheit. Letztlich steuerte er zielstrebig auf einen Burnout zu – oder auf etwas Schlimmeres. Inzwischen hatte er einen ziemlich unangenehmen Tinnitus. Schlafen konnte er schon lange nicht mehr richtig, und nachts fuhren seine Gedanken Karussell: Deadlines, Aufträge, Akquisitionsgespräche, Ärger mit Angestellten …

Dazu kam eine mindestens ebenso verheerende Tatsache: Er vergaß im fast wörtlichen Sinne seine Familie. Corinna, Niklas und Timo wurde der zunehmend gehetzte und unter Strom stehende Ehemann und Vater immer fremder. So traf es Heiner wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als ihm seine Frau im Juli 2013 in einer offenbar vorher einstudierten Rede eröffnete, dass sie und die Kinder nächstes Wochenende ausziehen würden. Eine Wohnung in der Nähe ihrer Eltern in Bamberg hatte Corinna bereits angemietet und den Rest – so sei es am vernünftigsten – sollte er dann mit ihrer Anwältin klären.

Heiner zog es den Boden unter den Füßen weg. Wieso hatte er es nicht kommen sehen? Wie konnte das sein? Wenn nicht schon 2016, so wäre er doch zumindest in ein paar Jahren durch gewesen und hätte alle Zeit der Welt für seine Familie gehabt, Was sollte das heißen: »In fünf Jahren brauchen dich deine Kinder nicht mehr« – »Ich lebe jetzt und nicht nur in der Zukunft«? Wie konnte sie so kurzsichtig sein? Er bekam einen massiven depressiven Schub, verließ über Tage die Wohnung nicht, zog die Vorhänge zu, aß kaum mehr und ließ sich auch äußerlich gehen.

Auch als er sich einigermaßen gefangen hatte, war er meilenweit von seiner alten Leistungsfähigkeit entfernt: Heiner kam nur noch unregelmäßig zur Arbeit, allein schon die Büroräume zu sehen, bereitete ihm Übelkeit, er rief wichtige Kunden nicht zurück, ließ Meetings sausen und reagierte auch nicht, als nach drei Monaten vier seiner wichtigsten Kollegen »ihm in den Rücken fielen und sich aus dem Staub machten«, sprich: ein Konkurrenzunternehmen gründeten. Um einen vernünftigen strukturierten Verkaufsprozess für die H1 durchzuziehen, fehlte ihm jetzt definitiv die Kraft. Sich noch mal ein Jahr richtig reinzuhängen, das Unternehmen aufzuhübschen, hart zu verhandeln, war undenkbar. Gut, er hätte die H1 an die vier Kollegen verkaufen können, die sich gerade selbstständig gemacht hatten – aber dafür war er zu stolz.

Heiner tat das, was ökonomisch vermutlich das irrsinnigste war, was er tun konnte: Er wickelte die letzten Aufträge ab und sperrte den Laden einfach ab. Nach fünfzehn Jahren vollem Einsatz, davon elf im eigenen Unternehmen, stand er mit annährend nichts da. Zwar nicht bankrott und verschuldet, dennoch war er gemessen an allen selbst gesteckten Zielen gescheitert. Er selbst sieht das heute – vermutlich zu Recht – völlig anders und meint, dass ihm das kampflose Aufgeben der H1 wahrscheinlich das Leben gerettet hat. »Den Druck hätte ich so angeschlagen, wie ich war, nicht weiter ausgehalten. Ich wäre entweder auf der Intensivstation oder in der Geschlossenen gelandet. Selbst wenn Corinna mich nicht verlassen hätte, das wäre nicht mehr lange gutgegangen.«

Noch Ende 2013 unterschrieb er bei einem Konkurrenzunternehmen, um deren Digitalisierungsgeschäft zu sanieren. Wieder flüchtete er sich in Arbeit: Diesmal, um sich zu betäuben – als eine Art Therapie. Er funktionierte wie ein Roboter, riss wieder Sechzig-Stunden-Wochen runter und krempelte die Abteilung zielstrebig um. Anders als bei der H1 berührte ihn das Ganze aber emotional kaum, seine Identifikation mit dem Arbeitgeber ging nahe null. Er tat seine Pflicht und war froh, dass ihn das Unternehmen als solches nichts anging. Wenn er nachts immer noch ab und zu wach lag, dachte er an vieles, aber sicher nicht an die Arbeit. Jetzt begann er auch damit, einen Teil seines Gehaltes, vor allem aber seinen jährlichen Bonus zurückzulegen. Auch sein Privatleben gestaltete sich langsam erträglicher. Auch wenn Corinna ihm nichts schenkte – den ganz schmutzigen Scheidungskrieg ersparten sich die beiden, um die Verletzungen für die Kinder einigermaßen zu begrenzen.

Im Sommer 2015 lernte er Kathrin kennen, als er eine Stelle im Projektmanagement bei seinem Arbeitgeber besetzen musste. Kathrin war zehn Jahre jünger als er und strahlte eine unglaubliche Sorglosigkeit und Lebensfreude aus – ungewöhnliche Eigenschaften für eine Frau, deren Job es war, Prozesse zu optimieren, Budgets zu kontrollieren, Projekte zu steuern und notfalls hart durchzugreifen.

Eigentlich hatte Heiner weder Lust auf noch Zeit für eine neue Beziehung, aber da er ohnehin die meiste Zeit im Büro war und oft an den gleichen Projekten mit Kathrin arbeitete … Aus einer Arbeitsplatzaffäre wurde relativ schnell mehr, und schon nach drei Monaten zog Heiner bei Kathrin ein. Bald diskutierten die beiden am Abend nicht mehr über ihre Projekte und die Arbeit, sondern über eine gemeinsame Zukunft, Heirat – Kinder inklusive. Daran war ja Kathrins langjährige Beziehungen vor drei Jahren zerbrochen, dass sie unbedingt Kinder bekommen wollte, ihr Lebensgefährte aber auf keinen Fall. Nicht zuletzt deshalb war sie nach München gezogen, um all das hinter sich zu lassen und wieder neu anzufangen.

Jedes Mal, wenn der Hase unten oder oben ankam, sagte der Swinegel oder seine Frau: »Ich bin schon hier.«

Märchen von dem Hasen und dem Igel.92

Und jetzt passierte etwas Erstaunliches: Heiner, der sein Leben immer auf die Zukunft verschoben hatte, sich aufgearbeitet, seine Ehe an die Wand gefahren und das Leben mit seinen Kindern weitgehend verpasst hatte, steuerte radikal um. Noch im Dezember kündigten Kathrin und Heiner, gründeten zu zweit ein neues Unternehmen, das sie H2Digi nannten. Sie reduzierten ihre Arbeitszeit konsequent von 60 auf circa 35 Stunden und übernahmen nur Digitalisierungsprojekte von Mandanten, die sie ausgesprochen mochten, die anständig zahlten und die inhaltlich auch anspruchsvoll genug waren. Statt Dutzende von Angestellten einzustellen und auf Wachstum zu setzen, blieben sie zu zweit. Ihre Aufträge setzten sie mit Freelancern aus ihrem Netzwerk um. Statt eines Unternehmens, das irgendwann in der Zukunft wahnsinnig viel wert sein würde, betrieben sie so eine Art Lifestyle-Boutique, eine Cashflow-Maschine, die ihnen genügend Geld für die Gegenwart erwirtschaftete. Bereits im zweiten Jahr verdienten beide wieder genauso gut wie bei ihrem Ex-Arbeitgeber.

Im Frühjahr 2016 heirateten sie. Im Herbst desselben Jahres kam ihre erste und bislang einzige Tochter Mara auf die Welt. Bis zur Einschulung von Mara im September 2022 nutzten die beiden so oft sie konnten den Umstand, dass sie den Großteil ihrer Arbeit von jedem Platz der Welt und zu jeder Uhrzeit, die ihnen passte, ausüben konnten. Wochen und Monate reisten sie durch Europa, Asien und Lateinamerika. »Die Zeit, in der Mara so klein ist, ist so schnell vorbei und so wertvoll – es wäre idiotisch, das jetzt nicht auszukosten«, erzählte mir derselbe Mann, an dem die Kindheit seiner Söhne noch vorbeigelaufen war.

Mich erinnert Heiners Geschichte sehr an Grimms Märchen von dem Hasen und dem Igel. Den größten Teil seines Lebens hatte Heiner versucht, wie der Hase im Märchen immer schneller und schneller von A nach B zu hetzen, um ans Ziel – hier: ein autonomes, selbstbestimmtes und freies Leben – zu gelangen. Dabei wäre er beinahe – wie ebendieser Hase – ums Leben gekommen. Mit seiner zweiten Frau Katrin gelang ihm das, was den wenigsten Menschen gelingt: sich selbst zu hinterfragen und neu zu erfinden. Er machte es wie der Igel in dem Märchen und beschloss: »Bin schon da!« Paradoxerweise hatte er 2016 all das erreicht, was er sich immer erträumt hatte: hohe Freiheitsgrade, reisen, wohin er wollte, nur noch solche Aufträge annehmen, die ihm Spaß machten und wann es ihm Spaß machte – nur ohne größere Reserven.

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Ich weiß nicht, wie die Geschichte ausgehen wird. Wir haben die Finanzen der Familie mit mehreren Szenarien durchgerechnet. Heiner wird relativ lang arbeiten müssen, wenn er seinen heutigen Lebensstandard mit Reisen, Essengehen und einer schönen Wohnung in München im Alter dauerhaft aufrechterhalten möchte.

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Auch wenn er bis Ende sechzig weitermacht, wird das nicht automatisch ein Selbstläufer: Bei einem schlechten Verlauf der Kapitalmärkte oder wenn sich sein Einkommen reduzieren würde, wird ihm mit Mitte, Ende achtzig irgendwann das Geld ausgehen.

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Bei seinem heutigen Lebensentwurf spricht allerdings vieles dafür, dass er auch weit länger arbeiten kann, ohne an Lebensqualität zu verlieren – solange seine Gesundheit und seine Kunden mitmachen und er keinen Rückfall in seine alten Verhaltensmuster erleidet.

09:30 Uhr

Franz Gruber konnte wirklich stolz sein, zu was er es im Leben gebracht hatte. Und es war auch genau diese etwas altmodische Formulierung, die er selbst benutzte, wenn er über sein Leben nachdachte: »Es im Leben zu etwas bringen.«

Dass Gruber, Sohn einer Oberpfälzer Brauerfamilie, irgendwann sein Leben mit der Herstellung von Bier verdienen würde, war seit seiner Geburt letztlich klar. Da der Zweite Weltkrieg die einst stolze Brauerei seines Vaters völlig zerstört hatte und es aussichtslos gewesen war, diese wieder aufzubauen, stieg er nach seinem Studium in das leicht kränkelnde Familienunternehmen seines Onkels ein: eine der zahllosen Brauereien des bayerischen Hinterlands. Dank Grubers Kenntnissen florierte das Unternehmen bald wieder. Und Gruber hätte diesen Betrieb sicher nie verlassen, wenn ihm die – so seine Wortwahl – »Sturschädel« in der Gesellschafterversammlung nicht das Leben immer schwerer gemacht hätten. Gruber, der auf Wachstum, neue Biersorten und mehr Marketing setzen wollte, stand eine ganze Heerschar an Onkeln, Cousins und anderen Familienmitgliedern gegenüber. Alle hatten ihre eigenen Vorstellungen, die wenigsten dachten auch nur ansatzweise strategisch, »das mit der Reklame« schien außer ihm höchstens noch seine Schwester zu verstehen, und jeder wollte immer und überall mitreden.

Als in den 1970er Jahren die ersten Fastfood-Ketten nach Deutschland kamen, sah er seine Chance, dem zu entkommen und sein betriebswirtschaftliches Wissen anders einzusetzen.

1978 verschuldete sich Gruber bis zum Anschlag und übernahm als Franchisenehmer erst einen, später einen zweiten Burgerbrater im Münchner Raum. Auch wenn seine Eltern etwas (und sein Onkel sehr) verschnupft waren, dass ihr Sohn dem Familienbetrieb den Rücken gekehrt hatte, sein finanzieller Erfolg erfüllte die Eltern durchaus mit Stolz. Und das zeigten sie ihm auch: »A Hund is a scho der Franz.«

Mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung kam endgültig Grubers große Zeit. Sein Ruf im Unternehmen war ausgezeichnet. So betraute ihn der Konzern damit, erst ein, später relativ zügig vier weitere Schnellrestaurants in Leipzig und Dresden aufzubauen. Unternehmerisches Risiko zu übernehmen, war Gruber reichlich gewohnt. Die nötigen Investitionen von rund 1 Millionen D-Mark pro Standort belasteten ihn dabei mental nicht weiter. Er hatte inzwischen einiges angespart, und die fehlenden 3 Millionen lieh er sich von der Bank. Zinsen von knapp 10 Prozent hin oder her – Gruber wusste, was er tat: Rechnen konnte er, und er hatte ein großes strategisches Gefühl für den richtigen Standort. Deshalb schlief er trotz der immensen Risiken seelenruhig.

Er verkaufte seine relativ kleine Eigentumswohnung im Regensburger Hinterland, zog mit seiner Frau und der inzwischen achtjährigen Tochter »in die Zone« und kaufte eine Villa am »Weißen Hirsch«. Gruber brachte 150 000 D-Mark Eigenkapital ein und lieh sich wieder den Rest von der Bank. Wenn seine Frau an die vielen Schulden dachte – von denen sie dank Franz‹ patriarchalischer Informationspolitik nur die Hälfte kannte –, wurde ihr regelrecht schlecht. Aber Gruber regte das nicht weiter auf.

McDonald’s, Burger King, Wendy & Co.: Das waren Anfang der 1990er nicht einfach mehr oder eher minder gut genießbare Hamburger – sie waren gerade im Osten ein Symbol für das, was in der DDR unerreichbar gewesen war: Konsum made in USA. Für die einen war das hohl, unmoralisch, geschmacklos. Doch für andere schmeckten die Burger nach Freiheit und waren »einfach geil«.

Solange es genug Menschen von der zweiten Sorte gab, wuchs mit der Expansion seines Burger-Imperiums auch Grubers Wohlstand: Sein Haus war binnen kurzer Zeit abbezahlt. Nach Ablauf der ersten zehn Jahre Zinsbindung legte er die Restschuld von immer noch gut 180 000 D-Mark auf den Tisch des Hauses – eine Rundungsdifferenz angesichts eines Einkommens von 2,5 Millionen D-Mark pro Jahr.

Alle drei Jahre kaufte er nun eine neue Immobilie: eine Wohnung in der Nähe für sein Büro, eine Villa drei Blöcke weiter – für später, damit die Tochter in der Nähe wohnen blieb –, eine größere Wohnung als Kapitalanlage in Berlin … Trotz dieser Investitionen und der Tilgungen stieg Grubers Kontostand so lange weiter, bis er Ende 2009 mit 65 Jahren seine Franchisebetriebe übergab und in Ruhestand ging. Jetzt wollte er das Leben unbeschwert genießen, schließlich hatte er mit 60-Stunden-Wochen, Dauerstress und wenig Urlaub einen hohen Preis für diese Freiheit gezahlt. In den Worten seiner Frau Marianne: »Mein Mann hat mitunter gearbeitet wie ein Pferd.«

Auch nach der Tilgung all seiner Restschulden waren auf seinem Konto fast 2 Millionen Euro übriggeblieben. Obwohl er sich sein Leben lang auf diesen Moment gefreut hatte, war er nun ziemlich überfordert. Schließlich war die Finanzkrise gerade mal halbwegs ausgestanden, und Gruber wollte alles, außer sein sauer verdientes Geld wieder verlieren. Umso erleichterter war er, als in dieser Situation ein alter Studienfreund auf ihn zukam. Peter Haffner hatte zusammen mit Gruber BWL studiert, sich offenbar mit Mitte 50 schon relativ früh zur Ruhe gesetzt und half nun alten Freunden bei der Kapitalanlage. Vier Wochen später saßen beide bei einem »renommierten« Münchner Vermögensverwalter.

Gruber sah sich Charts mit der Performance der Vermögensverwaltung an, die ihn mehr als beeindruckten. Die Kurve zeigte von links unten nach rechts oben. Gut: Es gab ein paar Wackler, aber gemessen an der Benchmark – hieß doch so? –, lief die Strategie mit dem Ganz-prima-toll-getauften Ansatz – kurz: GPT – erstaunlich stabil und hatte selbst die Finanzkrise gut gemeistert. Und das war Franz Gruber am wichtigsten: Bloß möglichst kein Geld verlieren. Doch das schien, wie er ja selbst sah, wohl irgendwie möglich.

Zur präsentablen Performance kam ein ebenso präsentables Büro in Grünwald, mit »echter« Kunst an der Wand und Beratern in tadellos geputzten rahmengenähten Pferdeleder-Schuhen, maßgeschneiderten Anzügen, weißen Hemden mit Umschlagmanschette und Monogramm und dazu die obligatorische rote Krawatte. Brauereibua, der er immer noch war, war Gruber ausgesprochen beeindruckt. Auch dahingehend, wie sich sein Freund Peter in diesem Umfeld bewegte, wie er selbst die Sprache der Portfoliomanager beherrschte und diese für ihn erklärte.

Was Franz Gruber und vermutlich auch Peter Haffner nicht wussten: Neben dem GPT-Ansatz hatte der Grünwalder Verwalter noch drei weitere Vermögensverwaltungen am Start gehabt, die in der Krise nicht unbedingt nur gut abgeschnitten hatten. Insbesondere die bis 2007 mit Hochdruck empfohlene IMTFP-Strategie (irgendwas mit tollen Finanzprodukten) hatte in der Finanzkrise desaströs abgeschlossen und musste wohl demnächst aus dem Programm genommen werden. Dass fast alle Vermögensverwalter mit unterschiedlichen, teils gegenläufigen und widersprüchlichen Strategien arbeiteten, um dann das zufälligerweise am besten gelaufene Portfolio gut verkaufen zu können – wie sollte er das ahnen?

Erwartungsgemäß lief die GPT-Vermögensverwaltung ab 2010 eher mittelmäßig, doch das war nur der kleinste Teil des Problems. Das größere Problem war Gruber selbst. Denn er konnte mit Verlusten und Rückschlägen, wie sie am Kapitalmarkt unvermeidlich sind, nicht umgehen. War er es bisher gewohnt, sein Schicksal selbst in der Hand zu haben, durch eigene mutige Entscheidung den Lauf der Dinge zu bestimmen, hatte er jetzt die Kontrolle verloren. Vom Siegfried, der den Drachen bezwingt, war er auf die Rolle eines Zuschauers in seinem eigenen Leben zurückgeworfen.

Und: War sein Vermögen bisher laufend mehr geworden, musste er nun von seinem Vermögen leben. Dass es dadurch fast zwangsläufig weniger werden musste, konnte er kaum akzeptieren. Was, wenn das Geld nicht reichen würde? Wofür hatte er alles aufgebaut, wenn es jetzt alles abschmelzen würde? Nach dem für Gruber eher enttäuschenden Jahr 2010 verlief 2011 aus seiner Perspektive inakzeptabel: Im Sommer lag sein Portfolio schon bei 6,0 Prozent im Minus, dabei hatten die feinen Herren ihm doch erklärt, dass sie das Risiko im Griff hätten. Die falsche Erwartungshaltung, die das Gerede der Berater zum genialen Risikomanagement des GPT in ihm geweckt hatte, wurde jetzt zum Verstärker seiner Ängste. Ihm zu erklären, dass 6,0 Prozent minus in einem Umfeld, in der der MSCI World seit Jahresanfang gut 12,5 Prozent verloren hatte, eigentlich ganz okay war, war jetzt kommunikativ faktisch unmöglich. Entnervt rief Franz Gruber Peter Haffner an. Er brauchte wieder Hilfe.

Im September 2011 saßen beide an meinem Tisch und schimpften über den Grünwalder Wettbewerber. Eine Botschaft war dabei sehr deutlich: Gruber wollte zumindest auf Jahressicht kein Geld verlieren und Schwankungen so gering wie möglich halten. Sein Glück – oder Pech – war, dass ich respektive mein Arbeitgeber damals genau solch eine Strategie im Angebot hatte: eine sogenannte marktneutrale Total-Return-Strategie, die im Jahr 2008 nicht nur keine Verluste, sondern sogar Gewinne generiert hatte. Auch ich war mir inzwischen ziemlich sicher, dass der Erfolg 2008 eher auf Glück als auf Können beruhte – ja, im Grunde genommen das Ergebnis einer großen Wette gewesen war. Dennoch war ich froh, eine Ventillösung für Kunden gefunden zu haben, die partout kein »normales« Kapitalmarktrisiko tragen wollten. Lieber den Kunden so bekommen als gar nicht.

Vermutlich hätte es geholfen, mit Franz Gruber über seinen Werdegang zu reden, seine Ängste besser zu verstehen, eine Szenario-Planung zu erstellen und zu erkennen, weshalb Geld für ihn wichtig war. Auf der Basis wäre es eventuell gelungen, ihm die Sorgen vor temporären Schwankungen zu nehmen und eine rationale Strategie zu vermitteln. Aber wie das geht, wusste ich damals schlicht noch nicht.

Also bekam Gruber wieder (versprochen), was er sich so sehr wünschte, aber was es leider nicht gibt: eine Strategie, die bei sehr niedrigen Risiken eine einigermaßen attraktive Rendite erwirtschaftet. Gruber startete also in seinen zweiten Anlauf zum Thema Kapitalanlage mit der gleichen unrealistischen Erwartungshaltung wie beim ersten Anlauf – eine Erwartungshaltung, in der ihn sein Berater – also ich – letztlich noch bekräftigte.

Wie zu befürchten, lief auch die Total-Return-Strategie nicht berauschend, und da ich Grubers eigentliches Problem – seine unrealistischen Vorstellungen – nicht angegangen war, bekam auch ich relativ regelmäßig genervte Anrufe: Mal war die Rendite zu niedrig, mal die ohnehin niedrigen Schwankungen zu hoch. Franz Gruber entwickelte eine immer stärker werdende Sorge, dass ihm das Geld im Alter nicht reichen könne. Eine Sorge, die zwar objektiv unbegründet war, die ihn aber trotzdem jede Menge Lebensfreude kostete. So hatte er sich den Ruhestand nicht vorgestellt.

Um meinen Fehler zu korrigieren, versuchte ich, ihm klarzumachen, dass er nicht beides haben könne: ein relativ hohes Maß an Sicherheit und eine attraktive Rendite gleichzeitig. Da ich dabei primär auf seinen Verstand und nicht seine Emotionen sowie Ängste abzielte, hielt sich mein Erfolg stark in Grenzen. Im Winter 2013 beschloss ich, ihn in Dresden zu besuchen, um ein Grundsatzgespräch mit ihm zu führen. Mittlerweile war mir relativ klar, was schiefgelaufen war und wo meine Fehler gelegen hatten. Ich hatte mir vorgenommen, noch mal auf den Anfang zurückzuspulen, um ihm vielleicht doch noch seine inzwischen erheblichen Ängste zu nehmen. Lieber den Mandanten verlieren, als auf der Grundlage weiterzuwurschteln.

Zug und Hotel hatte ich bereits gebucht, als mich am 16. Dezember Grubers Tochter anrief. Ihr Vater war in der Vorwoche für ein paar Tage allein nach Südtirol gefahren, um abzuschalten und etwas runterzukommen. Um 9:30 Uhr des 12. Dezember war er bei gutem Wetter allein zu einer Skitour aufgebrochen und abends nicht wieder ins Hotel zurückgekehrt. Die Bergwacht fand ihn am Abend keine 800 Meter hinter dem Hotel in einer Senke neben der Aufstiegsspur.

Gruber hatte einen Herzinfarkt erlitten, war von der Spur in die Senke gerutscht und vermutlich sofort tot gewesen. Er hinterließ ein liquides Vermögen von 1,8 Millionen Euro und Immobilien im Wert von über 3 Millionen Euro. Bei seinem Lebensstil hätte er davon nach menschlichem Ermessen auch bei extrem ungünstigen Szenarien weit über hundert Jahre alt werden können. Am Ende reichte sein Geld mehr als genug für sein ganzes Leben. Die Dauer seines verbleibenden Lebens aber reichte nicht annähernd, um das Geld für seine Träume und Pläne auch auszugeben.

»Der Grund für unsere Armut als Kinder war nicht, dass die Familie im Krieg alles im Osten verloren hat. Sondern dass Großväterchen unbedingt noch einmal Millionär werden wollte, bevor er starb.«

Leopold G. (74) (2011)

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Gruber war der letzte Kunde, dem ich eine Total-Return-Strategie empfohlen habe. Nur zwei Monate später begann ich, alle zukünftigen und alle bestehenden Kunden auf prognosefreie ETF-Portfolien umzustellen.

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Grubers Witwe und Tochter lernte ich drei Monate später kennen. Sie hatten ein wesentlich realistischeres und abgeklärteres Verhältnis zu Geld, Risiken und Renditeerwartungen entwickelt. Vermutlich, weil sie emotional nicht so sehr an dem hart erarbeiteten Geld hingen und sich (oder ich ihnen) bessere Fragen stellte(n).

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Ihr Denken kreist mehr darum, wie Geld die Lebensqualität der Familie positiv beeinflussen kann, als darum, wie gut die Rendite der letzten zwölf Monate war oder wie hoch ihr Vermögen einmal sein wird, wenn sie versterben. Ich mag sie sehr und danke ihnen noch mal dafür, dass ich ihre Geschichte erzählen durfte.

59 Jahre

Erinnern Sie sich noch an Mark93? Der sich von seinem ersten Gehalt ein sündhaft teures Jackett im Sonderangebot gekauft hat? Das jüngste von sechs Kindern aus Liverpool, mit dem alkoholkranken Vater, den bis heute die finanzielle Prägung, die Armut seiner Kindheit nicht loslässt und der so ein kluger Beobachter der Relativität von Reichtum und von sozialer Ungleichheit ist?

Vor drei oder vier Jahren kam er zum ersten Mal auf mich zu, um sich zu überlegen, wie lange er sich eigentlich noch einen extrem anstrengenden und kräftezehrenden Job im gehobenen Management eines internationalen Konzerns antun wollte. Sechzig- bis Siebzig-Stunden-Wochen waren eher der Normalfall als die Ausnahme, dazu kam eine ausgedehnte Reisetätigkeit: Im Schnitt der letzten 15 Jahre war Mark gut 20 Wochen pro Jahr unterwegs. Meist interkontinental: am Sonntagabend Abflug Richtung Asien oder USA, am Freitag Ankunft zurück in München – Verhandlungsmarathons, Geschäftsessen und Jetlag inklusive.

Zu dieser Zeit verdiente Mark ein Fixgehalt von über 250 000 Euro, aber die eigentliche Musik spielte woanders: Jedes Jahr wurde er mit Mitarbeiteraktien und Optionen im mittleren sechsstelligen Bereich bedacht. Der Clou respektive der Haken daran: Diese Mitarbeiteraktien konnte man nicht einfach verkaufen, wann immer man wollte, sondern sie waren, wie das durchaus üblich ist, auch ein Instrument der Mitarbeiterbindung. Die meisten Aktien durfte man erst nach zwei Jahren, einige auch erst deutlich später verkaufen, und auch das nur, wenn man noch Mitarbeiter des Unternehmens war. Wenn man früher kündigte, dann verfielen sie. Mark nannte das mir gegenüber einmal völlig zu Recht »goldene Handschellen«.

Doch das war noch nicht alles. Da Mark zum gehobenen Management gehörte, hing der Wert seines Aktienpakets nicht einfach nur vom Börsenkurs des Unternehmens ab, sondern wurde wesentlich davon beeinflusst, wie gut sich die Aktien seines Arbeitgebers in Relation zu anderen Unternehmen der Branche schlugen: von einer Halbierung des Werts bis zu einer Verdreifachung war dadurch alles drin. Insofern konkretisierte Mark seine Aussage: goldene Handschellen, die an ein Roulette-Rad gekettet sind.

Das hatte natürlich gewaltigen Einfluss auf Mark: nicht nur finanziell, auch mental, weil er – wie all seine Kollegen – den Aktienkurs seines Arbeitgebers laufend verfolgte. Ein paar US-Dollar hoch oder runter machten finanziell für ihn ja einen riesigen Unterschied – vor allem, wenn die Aktien der Wettbewerber sich nicht in dieselbe Richtung bewegten. Das war verständlich, aber natürlich völlig nutzlos. Denn Marks Einfluss auf die Kursentwicklung lag ziemlich nahe an null. Faktisch verschwendete er eine ganze Menge Energie, Zeit und Emotionen – und davon nicht nur gute: im Regelfall entweder Angst oder Gier. Umso mehr, als die Aktie seines Arbeitgebers wie fast alle Tech-Aktien schwankungsintensiv war.

Ich kann mich gut erinnern, wie schwer sich Mark tat, in Bezug auf diese Aktienpakete das einzig Richtige zu tun: nämlich die Aktie immer genau dann zu verkaufen, wenn er sie auch handeln durfte. Wieso sollte es für ihn sinnvoll sein, diese Aktien zu horten, wenn seine finanzielle Zukunft ohnehin zu großen Teilen vom Unternehmen abhing? Neben den ständig »nachwachsenden« und sich quasi automatisch vermehrenden Aktienpaketen hing ja auch noch sein laufendes Einkommen davon ab.

Und dennoch: Entweder stieg der Wert gerade – und warum sollte er da verkaufen? Oder er fiel gerade – und warum sollte er da verkaufen, wenn die Aktie schon einmal mehr wert gewesen war? Verstehen Sie mich da nicht falsch: Mark ist ein sehr cleverer Mensch, er wusste, dass sein Verhalten Unsinn war, und trotzdem brauchte er jede Menge Ermutigungen und Schubser. Das ist nicht ungewöhnlich, sondern der absolute Normalfall. Ich kenne ein knappes Dutzend ähnlicher Fälle und niemanden, der das auf Anhieb hinbekommen hat, aber viele, die daran gescheitert sind.

Noch schwieriger wurde das Ganze auf der Zeitachse, weil sich hier noch gewaltigere Unterschiede ergaben: Für Marks zukünftiges Vermögen machte es einen gewaltigen Unterschied, ob er weiterarbeitete, bis er dreiundsechzig, fünfundsechzig oder gar siebenundsechzig war, ob er ein Aktienpaket nach dem anderen einfuhr – oder ob er jetzt die Reißleine zog, endlich wieder mehr Zeit für sich und seine Familie hatte und seine Gesundheit durch den Dauerstress nicht weiter strapazierte.

Wir fingen also an zu rechnen und ein halbes Dutzend Szenarien durchzuspielen: Ruhestand mit neunundfünfzig, zweiundsechzig, fünfundsechzig, mit oder ohne Ferienhaus und so weiter. Am Ende ließ sich das Ganze auf eine relativ einfache Formel herunterbrechen: Geld oder Zeit? Respektive: Bis zu welchem Grad kann und will ich es mir leisten, Geld wieder in Zeit zu tauschen? Das Ergebnis war – soweit das irgendwie geht – relativ eindeutig: Am Ende war es eine Frage, wie vermögend Mark sterben würde und nicht, ob ihm das Geld auch reichen würde. Wenn alle Stricke reißen, würde er sich im schlimmsten Fall mit Ende achtzig von seinem Ferienhaus trennen müssen.

Wie Mark das Dilemma in seiner unvergleichlichen Art auf den Punkt brachte: »Das Szenario, nächstes Jahr aufzuhören, macht mich wirklich froh. Aber das Szenario ›weiterarbeiten bis fünfundsechzig‹ macht mich richtig traurig.« Früher aufzuhören, das hieß ja nicht einfach, auf ganz viel Geld zu verzichten – das war ja auch der Verzicht auf die in diesem Geld implizit enthaltene Energie, das Potenzial, die Unabhängigkeit und die für Mark so wichtige Wertschätzung.

Und dennoch: Mark schaffte es, die Prioritäten zugunsten von mehr Zeit statt zugunsten von mehr Geld zu setzen. Er tat das, zu dem auch wir ihn ermutigt hatten, und war weise genug, sich gegen seinen inneren Antrieb durchzusetzen, sich immer mehr Selbstbestätigung durch immer mehr Geld und mehr Erfolg zu verschaffen. Mehr noch: Er verkaufte auch, so zügig er konnte, fast alle seine Mitarbeiteraktien. Im Januar 2021 ging er in »Garden Leave« und verließ das Unternehmen – für immer.

Und was passierte dann? Das Paradies auf Erden? Im Gegenteil, Mark fiel in ein tiefes Loch, suchte sich zwischendurch professionelle psychologische Hilfe. Hatte er bis dahin durch sein Einkommen eine permanente Bestätigung bekommen, was er wert war, was er verdiente, durchlitt er jetzt eine Art kalten Entzug: »Was ich mir gedacht habe – genug ist genug –, funktioniert im Grunde genommen nicht. Der Dopamin-Kick ist weg. Geld, das schon verdient ist, das einfach da ist, bietet das nicht. «

War er bis zum Ausbruch der Covid-Pandemie jede zweite, dritte Woche auf einem Interkontinental-Trip gewesen, saß er jetzt weitgehend daheim rum. Das war zwar auch schon im ersten Lockdown so gewesen, aber da hatte er zumindest noch jede Menge zu tun gehabt. Nun saßen er und seine Frau Aisling sich in der Münchner Wohnung auf der Pelle. »Wären wir nach dem elendlangen Lockdown nicht eine Woche nach New York und einen Monat nach Mallorca gefahren, ich weiß nicht, wie lange das mit uns gutgegangen wäre.« Zumindest in dieser Hinsicht hat sein Geld ihm dann doch ganz konkret geholfen, die wichtigste Beziehung in seinem Leben zu retten.

»Du, Niki, Ruhestand ist scheiße … vor allem, wenn du es nicht in der Hand hast.«

Dr. Maximilian T. leidet nach dem Verkauf seiner Kanzlei an Leerlauf respektive Wettbewerbsverbot (Juli 2022) – Entschuldigen Sie bitte seine Wortwahl.

Im Herbst 2021 ging Mark drei Monate nach Wales, um ein Praktikum bei einem Schreiner zu absolvieren. Es war der Versuch, eine Selbstbestätigung zu bekommen, die sich großenteils von der finanziellen Belohnung löst. Rückblickend meint er: »Seinen Selbstwert über Geld herzustellen, funktioniert nur kurzfristig. Aber langfristig ist das alles ziemlich hohl: Langfristig liefert Geld das einfach nicht – in the long run, money simply doesn’t do the job. Sie helfen mir, meine Therapeutin hilft mir, aber der Übergang ist verdammt hart.«

Bis zu einem gewissen Grad geht es ihm mit dem Thema ähnlich wie mit seiner finanziellen Prägung bezüglich Geld aus seiner Jugend in Liverpool: Es ist immer noch da, aber er kann es nun besser beobachten, einordnen – und er hat ein gutes Stück gelernt, damit umzugehen.

»Ich habe zwei gute Freunde, die waren ähnlich erfolgreich wie ich oder noch mehr. Auch die haben mit Ende fünfzig aufgehört zu arbeiten. Der erste hatte einen Nervenzusammenbruch und musste stationär behandelt werden. Der zweite stürzte sich in ein Projekt nach dem anderen: Kaufte eine Baufirma, zog auf eine Farm, investierte in x Projekte, nur um die »Stille« zu betäuben. Heute sagt er zu mir: ›Ich mache alles so, wie ich es mir immer erträumt habe, und bin so unglücklich und depressiv wie noch nie in meinem Leben.‹ Gemessen daran geht es mir inzwischen großartig. Aber ob es mir je gelingt, jemals etwas wert zu sein, ohne etwas zu tun, den Unterschied zwischen ›being‹ und ›doing‹ aufzulösen, das weiß ich nicht.«

»Und Ihr Jackett?«

»Das hängt bis heute in meinem Schrank. Sogar der Bügel von vor dreißig Jahren ist noch da. Vielleicht ist es das Ding, das ich besitze, das am besten zeigt, wer ich bin, wo ich herkomme und was ich erreicht habe. Ich schicke Ihnen ein Foto.«

Marks Jackett

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Zurzeit (Juni 2022) plant Mark mit seiner Frau, wie er das Ferienhaus in Wales konkret gestalten möchte.

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Wir haben noch einmal überprüft und nachgerechnet, ob das trotz Ukraine-Krieg, leichter Kursverluste und massiv gestiegener Baukosten noch möglich ist. Ist es.

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Für mich ist er der klügste und gleichzeitig widersprüchlichste Gesprächspartner zum Thema Sinn und Unsinn von Geld und Erfolg.

Fazit

Konstruktive(re) Glaubenssätze

PHILOSOPHISCH

»Geld ist flüssige Energie.«

Bert B. (65) (Mai 2021).

»Geld ist gefrorene Zeit.«

»Geld ist nicht realisierte Möglichkeit.«

PRAGMATISCH

»Ich liebe Probleme, die man mit Geld lösen kann.«

Anina B. (38) (Juli 2002).

»Geld macht es leichter, glücklich zu sein.«

»Geld ist Mittel zum Zweck.«

»Geld ist zum Ausgeben da.«

Frank K (68) (Juli 2021).

»Geld ermöglicht Freiheit.«

»Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts.«

»Geld – schön, wenn man es hat, und schön, wenn man es nicht braucht.«

Ulrich C. (71) (Juli 2022).

»Kein Geld macht auch nicht glücklich.«

»Geld haben bedeutet dazugehören.«

Josef O. (64) (Juli 2022).

»Für Geld muss man sich nicht schämen. Kurzform: Geld – na und?«

Stefan B. (42) (August 2022).

»Ich sehe natürlich ein, dass es keine Schande ist, arm zu sein, aber eine besondere Ehre ist es auch nicht.«

Maxim Biller (Juni 1990).

WEISE

»Und meine Kinder hatten mich immer gefragt, ob wir reich oder arm sind, und ich antwortete immer: ›Mittelreich‹. Das hatte ihnen genügt. Und auch heute ist das Geld der anderen nie ein Thema bei uns.«

Jörg M. (62) (Juli 2022).

»Niemand ist wirklich frei, solange er Sklave seiner Rechnungen ist.«

»Willst du der reichste Mann auf dem Friedhof werden?«

Hans E. (46) (Juli 2022).

»Geld bedeutet Freiheit oder Unfreiheit. Sie entscheiden.«

Lutz W. (59) (Juli 2002).

OPTIMISTISCH BIS POTENZIELL VERSCHWENDERISCH

»Es ist genügend Geld da – nur noch nicht hier.«

Sonja von L. (45) (Juli 2002).

»Wenn einem Spaß macht, was man tut, wird man gut. Wenn man gut ist, kommt auch das entsprechende Geld.«

Philip S. (36) (Juli 2002).

»Schmeiß Geld zum Fenster hinaus, dann kommt es in Massen durch die Tür wieder herein!«

Dirk R. (42) (Juli 2002).

»Das Leben ist schön und teuer. Man kann es billiger haben, aber dann ist es nicht mehr so schön.«

Ludwig G. (76) (Juli 2022).

SPARSAM BIS MANCHMAL ETWAS GEIZIG

»Geld hat nicht der, der viel verdient, sondern der, der wenig ausgibt.«

Dieter W. (68) (Juli 2022).

»Die Geldweisheit, die mich am meisten begleitet ist: Haben kommt von Halten.«

Beate K. (52) (Juli 2022).

»Weil ich weiß, dass ich mir vieles letztlich Unnötige und Unsinnige leisten könnte, fällt es mir relativ leicht, darauf zu verzichten.«

Michael D. (48) (Juli 2022).

»Lebe im Alltag bescheiden, um dann ein-, zweimal im Leben an der richtigen Stelle das Geld für ›Großes‹ zu haben.«

Christoph L. (43) (Juli 2022).

»Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.«