100 Lire

Im Jahr 1961 kam ein junges, stark politisch motiviertes Filmteam der sozialistischen Partei Italiens ins sizilianische Palma di Montechiaro. War noch ein Jahr zuvor ein Team des Staatsfernsehens RAI vor Ort gewesen und hatte eher ein romantisierendes Bild des rückständigen agrarischen Ortes gezeichnet94 – mit Fokus auf das kulturelle und religiöse Leben, den Dom und den berühmten Palazzo Ducale –, hatten die jungen Sozialisten eine klarere Agenda: den Finger in die Wunde zu legen, die immensen gesundheitspolitischen und sozialen Missstände sichtbar zu machen und dem strukturell tief katholischen, konservativen und mehrheitlich immer noch monarchistisch gesinnten Süden die eigene Rückständigkeit vor Augen zu führen.95

Entsprechend kontrovers wurde der Beitrag in Palma di Montechiaro selbst aufgenommen: Während die einen die Umstände leugneten und schönredeten, war für viele eines unübersehbar: So tendenziös der Film auch inszeniert war – im Grunde hatte die sozialistische Propaganda trotz einer gewissen Dramatisierung recht. Beruhte sie doch nicht zuletzt auf den Ergebnissen einer dreitägigen Konferenz von Gesundheits- und Sozialpolitikern aus dem Jahr 1960:

Vor dem Hintergrund einer immensen Arbeitslosigkeit und oft prekärer Beschäftigungsverhältnisse in der Landwirtschaft blieben nur wenige Möglichkeiten, zumindest eine gewisse soziale Sicherheit zu erlangen. Am begehrtesten war eine Stelle im Staatsdienst, in der Verwaltung, beim Militär oder bei der Polizei oder eine »Anstellung« im Parallelstaat der Cosa Nostra. Für einen sozialen Aufstieg am realistischsten war die Emigration. Von dem nach Hause geschickten Geld der Ausgewanderten lebte ein guter Teil der Menschen im Ort. Für die Emigrierten dagegen war mit dem Fortgang auch immer das Versprechen oder zumindest der Traum verbunden, irgendwann als gemachter Mann – seltener Frau – zurückzukehren und Land zu erwerben.

Diesen Weg hatte auch Lorenzo Gasperi zu einem gewissen Grad beschritten. 1934 geboren, hatte er seit seiner Kindheit auf dem Feld mitgeholfen und schon mit sechs Jahren mit der Amphore Wasser an die Landarbeiter verteilt. In den 1950er Jahren war er zweimal für eine gewisse Zeit illegal nach Deutschland emigriert, um Geld zu verdienen. Davon hatte er sich nach und nach einige kleinere Grundstücke gekauft. Auf einem stand ein kleiner Olivenhain, auf den anderen weitgehend verfallene Häuser, die er instand setzte. Eines behielt er, und die anderen verkaufte er weiter. Bis zu seiner Heirat hatte er es so zu einem sehr bescheidenen Wohlstand gebracht und seinen Kindern die eigene Erfahrung erspart, in der Kindheit hungern zu müssen. Insgesamt besaß Gasperi irgendwann neben dem kleinen Wohnhaus drei kleinere landwirtschaftliche Grundstücke.

Für den zunächst landlosen, in völlig prekären Verhältnissen lebenden Gasperi hatte sich das Versprechen, dass sich Fleiß und harte Arbeit auszahlen, damit ein Stück weit erfüllt, auch wenn der Lebensstandard seiner Familie Jahr für Jahr stark von Ernten und (Weltmarkt-)Preisen abhing. »Assett rich, cash poor« nennt man das.

1968 kam Lorenzos Sohn Francesco als drittes von vier Kindern auf die Welt. Im Rückblick liest sich dessen Geschichte wie der Blueprint einer neoliberalen Erfolgs-, ja Heilsgeschichte. Eine deutsch-italienische Version des »amerikanischen Traums«. Die »Zutaten« sind dabei fast identisch wie bei seinem Vater Lorenzo: harte Arbeit und Disziplin, der Mut und die Überzeugung, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können, und die Bereitschaft, seine Heimat zu verlassen.

Francesco machte sich mit 17 Jahren und 100 Lire97 auf den Weg in den Ruhrpott, kam zunächst bei seinem Bruder unter und hatte dort für einen Teenager, der die streng konservativ-katholischen Verhältnisse Palma di Montechiaros gewohnt war, eine großartige Zeit. In der Gastronomie Bochums verdiente er für sizilianische Verhältnisse bombastisch. Und obwohl es ihm gefühlt an nichts fehlte und er zunächst jede Menge Geld beim Ausgehen verjubelte, legte er regelmäßig Geld zurück. 1993 besuchte er für ein verlängertes Wochenende Freunde der Familie in München und merkte auf Anhieb, dass diese Stadt für einen ehrgeizigen jungen Menschen deutlich mehr Potenzial besaß als Bochum, Bottrop oder Duisburg.

Schon nach einem Jahr stieg er zum Restaurantleiter eines gut gehenden italienischen Lokals auf. Francesco arbeitete härter denn je, und seine Ersparnisse läpperten sich langsam zusammen. Als er 1996 wegen einer Hochzeit zu Besuch in Palma war, verliebte er sich in die vier Jahre jüngere Claudia – und sie sich in ihn. Nach einem Jahr Fernbeziehung heirateten die beiden und Claudia zog nach München. Ein Jahr später kam ihr Sohn Lorenzo auf die Welt, drei Jahre später ihre Tochter Marika.

»Nach dem Krieg hatten wir nichts mehr, nur unseren Fleiß und Hirn.«

Gerhard D. (78) verbreitet das Familiennarrativ (Juni 2017).

Auch wenn Palma längst nicht mehr so bettelarm war98 wie in den 1970er Jahren, gab es nach wie vor außerhalb des Staatsdienstes keine soliden Perspektiven. Auch Claudia zahlte auf Francescos Traum, den Traum so vieler sizilianischer Migranten ein: einmal wohlhabend und ohne finanzielle Sorgen in die Heimat zurückzukehren. Nach fünfundzwanzig, vielleicht dreißig Jahren harter Arbeit wollen sie angesehen und sozial aufgestiegen ein finanziell sorgenfreies Leben führen und die Früchte des eigenen Fleißes ernten. Das Gravitationszentrum ihrer Zukunftsträume blieb dabei immer Sizilien.

2001 investierte Francesco seine gesamten Ersparnisse, verschuldete sich und machte sich mit einem eigenen Restaurant in München-Schwabing selbstständig. Fantasievoll, wie er war, nannte er es »da Francesco«. Und auch, wenn es dort weder das schickste Innendesign gab – im Gegenteil – noch die beste Pasta der Stadt, ist ihm mit »da Francesco« etwas Außergewöhnliches gelungen. Es ist ein authentisches italienisches Familienlokal, mit 95 Prozent Stammgästen, in dem sich Menschen aus dem Viertel treffen, auch ohne sich explizit verabredet zu haben. Von Anfang an wuselten die Kinder und der kleine Hund Paola zwischen den Tischen durch, und später halfen sie mit – also der Hund natürlich nicht. Wenn sich neue Gäste über zu laute Kinder beschweren, wird ihnen auch heute noch erklärt, dass es sich bei »da Francesco« um ein Familienlokal handelt. Es ist bis heute mein Lieblingsitaliener.