60 (?) Cousins

Im Folgenden unterhalte ich mich mit Lorenzo Gasperi, dem Sohn von Francesco und Claudia, über seine Familiengeschichte, seine sizilianische Heimat, den Wert von Bildung, Arbeit, Zeit und Geld.

Nikolaus: »Lorenzo, du bist der Erste in deiner Familie, der ein Abitur und einen Hochschulabschluss gemacht hat. Musst du nicht vor Stolz platzen?«

Lorenzo: »Irgendwie natürlich schon, aber es ist nicht ganz so einfach, als Erster in der Familie den Weg zu gehen.«

Nikolaus: »Was heißt das? Macht es dich bei deinen sechzig oder siebzig Cousinen und Cousins in Sizilien zum Außenseiter – lebst du für die in einer anderen Welt?99

Lorenzo: »Na, ob es wirklich siebzig sind, weiß ich gar nicht genau, ich habe sie nie ganz gezählt. Mama hat zwölf Geschwister, Papa drei, es sind auf jeden Fall viele – und mit denen zweiten Grades verliert man endgültig den Überblick.«

Nikolaus: »Ich erinnere mich, als mein Sohn Niki mit dir vor circa zehn Jahren in Palma war. Das Erste, was er erzählt hat, war: »Hier ist jeder Dritte ein Verwandter vom Lorenzo.« Aber wir kommen vom Thema ab. Also … macht dich Bildung zu einem Alien?«

Lorenzo: »In gewisser Hinsicht ist es schlimmer und in gewisser Hinsicht ist es nicht ganz so schlimm.«

Nikolaus: »Erklär mir das.«

Lorenzo: »Schlimmer ist es, weil die Bildung nur eine Kluft ist. Auf einmal bist du ›Dottore‹ – in Italien heißt man mit einem Bachelor ja schon so, und das schafft natürlich Distanz … zu Handwerkern, Bauern und Arbeitern. Dazu kommt aber noch mehr: dass ich in München geboren bin, in einer Schwabinger Bubble groß geworden bin, die unterschiedlicher zu Palma nicht hätte sein können. Und vermutlich als Resultat von dem Ganzen, dass ich mit meinen progressiven, liberalen Vorstellungen auch nicht gut zum katholisch-konservativen Mezzogiorno passe. Da bleiben halt am Ende noch vier, fünf Menschen in meinem Alter, mit denen ich noch einigermaßen reden kann.«

Nikolaus: »Und weniger schlimm?«

Lorenzo: »Weniger schlimm, weil meine Eltern immer voll hinter meiner akademischen Ausbildung gestanden haben und die Wertschätzung von Bildung auch im italienischen ländlichen Süden generell massiv zugenommen hat. Es gibt einen regelrechten Boom auch von Privatschulen, die einen zur Hochschulreife bringen sollen. Wenn ich eine meiner Cousinen mitrechne, bin ich nicht der Erste mit Bachelor, und ich wäre auch nicht der Erste mit einem Master. Ich kann denen also schon ganz gut erklären, was ich tu, auch wenn das – meine Eltern eingeschlossen – für die meisten reichlich abstrakt bleibt.«

Nikolaus: »Wertschätzung von Bildung – das klingt ja fast optimistisch.«

Lorenzo: »Die Wertschätzung für die Bildung ist aus der Sicht einer bildungsfernen und häufig ökonomisch prekären Perspektive ja kein Selbstzweck. Bildung birgt das Versprechen, ein Ausweg aus der Armut zu sein. Heute Bildung = morgen Geld. Das ist letztlich auch nur eine Version des neoliberalen Versprechens: ›Jeder kann es schaffen.‹ Eine Bildung, die sich nicht materiell niederschlägt, ist aus dieser Perspektive also nichts wert. Und das Absurde ist ja, dass das Versprechen ›Aufstieg durch Bildung‹ im italienischen Süden letztlich nicht gehalten wird. Nach wie vor ist eine Stelle im Staatsdienst das Ziel aller Wünsche, und ohne einen Umzug nach Norditalien oder etwa Deutschland – also ein Opfern der Heimat – ändert sich am Outcome für die Absolventen nichts.«

Nikolaus: »Siehst du das auch so? Dass Bildung ohne materiellen Erfolg nichts wert ist?«

Lorenzo: »Ich würde das nicht so platt sehen, wie: ›Na, wenn du in der Gastro mehr verdienen kannst – was soll dann die Zeitverschwendung an der Uni.‹ Aber die finanzielle Belohnung der Bildung ist auch für mich ein wichtiges Versprechen.«

Nikolaus: »Du meintest, es war für dich nicht leicht, als Erster in der Familie den Weg an der Uni zu gehen. Warum? Ich stelle mir das unglaublich befreiend vor.«

Lorenzo: »Im Gegenteil: Als Kind mit einem bildungsfernen Hintergrund hatte ich ein immenses Imposter-Syndrom. Wie ein Fisch aus dem Wasser. Ich spürte eine unglaubliche Kluft zu den Akademikerkindern, die alle irgendwie wussten, wie der Hase läuft, und die wussten, wenn der Hase mal nicht läuft, wie man ihn zum Laufen kriegt, an wen man sich wendet, wo man ein Praktikum herbekommt und so weiter. Ich hatte dann zum Glück doch eine Mentorin, ein Stammgast aus der Pizzeria, die hat mir viel als Sparringspartner geholfen.«

Nikolaus: »Warum hast du nichts gesagt? Viele deiner Freunde waren doch klassische Akademikerkinder … und die hatten doch Eltern – wir, die Müllers, die Schaubs. Die wären doch immer da gewesen als Gesprächspartner.«

Lorenzo: »Na, jetzt ist mir das langsam auch klar – damals habe ich mich nicht getraut.«

Nikolaus: »Oh Sch… das habe ich nicht geahnt, zumal es doch du warst, der den Studiengang PPE quasi ›entdeckt‹ hat und sich so viele deiner Freunde mit Akademikereltern da drangehängt haben. Und vielleicht unterschätzt du auch massiv, wie orientierungslos fast jeder Student am Anfang an der Uni ist. Mir ging das so, meinem Sohn Niki auch und den meisten deiner Freunde mit Akademikerhintergrund auch.«

Lorenzo: »Aber allein, das zu wissen, wäre schon was wert gewesen …«

Nikolaus: »Trotzdem: Anders als die Akademikerkinder hattest du auch kaum Erwartungsdruck. Egal, was du noch erreichst, bist du in der Familie der Held. Es gibt Elternhäuser, in denen alles andere als eine Promotion eine abgebrochene Ausbildung ist, meines zum Beispiel. Und ich glaube, deine Eltern haben dir viel mehr mitgegeben, als du meinst.«

Lorenzo: »Wie meinst du das?«

Nikolaus: »Na, du kommst doch aus einer Unternehmerfamilie.«

Lorenzo: »Das stimmt, die Einstellung zur Arbeit habe ich von meinem Vater übernommen. Das Versprechen, dass es sich lohnt, sechs Tage in der Woche zwölf Stunden zu arbeiten, habe ich schon als Kind aufgesogen. Mitzuhelfen im Restaurant, war einfach von klein auf selbstverständlich. Wenn ich heute mal einen Tag am Wochenende nichts mache, habe ich ein schlechtes Gewissen. Und die Probleme des Restaurants waren natürlich täglich Gesprächsstoff: Auflagen von Behörden, Ärger mit Mitarbeitern, dass der Mozzarella wieder teurer geworden ist …«

Nikolaus: »Viele Unternehmer, aber auch Juristen und Ärzte meiner Generation, mit denen ich rede, klagen, dass es ihnen nicht mehr gelingt, junge Leute zu rekrutieren, die sich so bedingungslos einsetzen, wie sie das selbst noch getan haben. Liegt das daran, dass viele in der Generation Y einfach zu satt sind, dass ihnen der Hunger fehlt, etwas zu erreichen? Was meinst du?«

Lorenzo: »Nein, zumindest nicht nur. Ich glaube, es hat viel mit einer veränderten Wahrnehmung von Zeit, Geld und Vertrauen in Stabilität zu tun.«

Nikolaus: »Erklär mir das.«

Lorenzo: »Wenn ich mir deine Generation, also die Generation meiner Eltern, ansehe, dann gibt es da einen klassischen Deal zwischen Geld und Zeit, egal ob Angestellter, Arbeiter, Unternehmer und letztlich quer durch alle Schichten: Im Laufe des Berufslebens wird ein gewisses Vermögen aufgebaut und nach dem Berufsleben in Zeit zurückgetauscht – das nennt man dann Rente oder Ruhestand. Mit der Vision einer sorgenfreien Zukunft sind viele Menschen bereit, oft eine irrsinnige Arbeitslast zu ertragen. Dieser Deal, Geld in Zeit zu tauschen, scheint der Generation, die heute in den Zwanzigern und frühen Dreißigern ist, viel fragwürdiger.«

Nikolaus: »Das kann ich gut nachvollziehen. Ich sehe selbst oft genug, dass sich die erträumte goldene Zukunft als Fata Morgana erweist: Man ist älter, manchmal gesundheitlich angeschlagen, fällt ohne die Arbeit oft in ein Loch, und man tut sich schwer, das Ersparte überhaupt auszugeben – schließlich schmilzt da vor den Augen die (finanzielle) Lebensleistung wieder zusammen. Vielleicht kennst du das ja auch von deinen Eltern.«

Lorenzo: »Ja, sicher. Bei der ersten Generation von Migranten gibt es da, glaube ich, sogar noch ein weiteres Problem: die geliebte Heimat. Die ist, wenn man nach dreißig Jahren zurückkehrt, ja nicht mehr dieselbe, die man verlassen hat, und so erweist sich das gelobte Land der Heimat eventuell ebenso als Trugbild wie das gelobte Land des ›Ruhestands‹.«

»Mir warn immer anständige Leit, ham immer garbeitet und mir hams (Geld) immer zamghalten, aber d’junga Leit, die woin ja alle nimma arbeiten. Mei eigene Enkelin geht am Schimnasium und wui ama studiarn und mei eigene Dochda find des a no guad.«

Erna B. (82) kann den sozialen Aufstieg ihrer Enkelin eventuell doch nicht verhindern. (Oktober 2012)

Nikolaus: »Und dieses Misstrauen, dass die (finanzielle) Zukunft eventuell ein Trugbild ist, das hat sich deiner Meinung nach in der Generation verschärft?«

Lorenzo: »Genau. In der Baby-Boomer-Generation und der Generation X gab es letztlich ein relativ hohes Vertrauen in die Statik der Welt, dass das Leben auch in dreißig, vierzig oder fünfzig Jahren noch ungefähr so sein wird wie bisher. Dass es sich lohnt, auf eine relativ ferne Zukunft zu setzen – mit seinem Geld und seiner Zeit. Vor dem Hintergrund waren viele eher geizig mit Geld und haben ihre Zeit relativ bedenkenlos investiert. Ich denke, in der Generation Y hat sich das verschoben, das hat sicher mit einer gefühlten und tatsächlichen Beschleunigung von Veränderungen und globalen Krisen wie etwa der Klimakrise zu tun. Deshalb sind viele Menschen meiner Generation eher zeitgeizig, tauschen relativ früh und relativ viel Geld in Zeit um, sind nicht mehr bereit, das Leben auf die Zukunft zu verschieben. Es findet nach wie vor eine Transaktion von – erst – Zeit in Geld und dann wieder Geld in Zeit statt. Aber diese Transaktionen sind eher kleinteiliger, und die erstrebenswertere Leitwährung hat sich geändert von Geld hin zu Zeit.«

Nikolaus: »Lass uns noch mal zurückkommen zur Generation deiner Großeltern im bettelarmen Palma di Montechiaro der Sechzigerjahre. Bitte erzähl mir noch mal die Geschichte mit dem Esel.«

Lorenzo: »Mein Großvater mütterlicherseits hatte einen kleinen Lebensmittelladen und Supermarkt. Einmal alle vier bis sechs Wochen machte er sich mit seinem Esel auf den Weg ins hundertvierzig Kilometer entfernte Palermo, um Waren einzukaufen. Da war er dann immer eine Woche unterwegs. Gemessen an den meisten Bewohnern der Stadt, war die Familie durch diese unternehmerische Tätigkeit noch einigermaßen wohlhabend gewesen – zumindest, bis nach dem Tod dieses Großvaters meine Großmutter begann, das Geld nach und nach zu verbladdern.«

Nikolaus: »Aus der Perspektive Deutschlands im Jahr 2022 klingt das fast romantisch: ein einfacher Mensch, Vater von dreizehn Kindern, der seine Familie mit harter, aber ehrlicher Arbeit ernährt, unterwegs mit seinem Esel in der wunderbaren unverbauten sizilianischen Natur …«

Lorenzo: »Ja, wenn man möchte, kann man das schon so sehen. Aber du weißt genauso gut, dass es großer Quatsch ist, Armut zu verkitschen – dann lass es auch …«

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2014 feierten Lorenzos Großeltern in Palma ihre goldene Hochzeit. Wenn man heute mit Lorenzo redet, scheinen die Fotos der Feier wie eine Botschaft aus einem anderen Zeitalter.

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Bis heute hilft Lorenzo in den Semesterferien in der Pizzeria aus. Während seines Masters, den er im Sommer 2022 antritt, möchte er sich schwerpunktmäßig mit staatlichen Mechanismen zum Ausgleich sozialer Ungleichheit beschäftigen. Mich würde es nicht wundern, wenn daraus später einmal seine Dissertation entsteht. Beruflich kann er sich viel vorstellen, nur nicht, sein Leben lang das Gleiche zu tun. »Und vielleicht mache ich irgendwann ein Restaurant auf.«

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Seine Schwester Marika hat zwei Jahre nach ihm Abitur gemacht. Sie studiert inzwischen in Tübingen. Lorenzos Eltern haben sie ebenso vorbehaltlos unterstützt wie ihren Bruder.