Das menschliche Leben bietet bekanntlich nicht nur Erfolgserlebnisse oder glückliche Phasen. Der weitaus größere Teil besteht aus Alltag und ein nicht geringer Teil auch aus durchaus unangenehmen Abschnitten. Das ist die Domäne des Alkoholikers, denn hier beginnt faktisch sein Heimspiel. Das Schwelgen in Selbstmitleid und die stumme Klage über die Schlechtigkeit der Welt gehören zum zweiten Gesicht der Alkoholkrankheit. In der typischen Zurückgezogenheit oder in der offizielleren Form des Gesellschaftstrinkers steckt immer ein kleiner Misanthrop, dessen Stimmung freilich durch den Alkohol noch zusätzlich verstärkt wird. Die Droge unterstützt die Depression, und sie liefert damit die Voraussetzung für einen erneuten Absturz: »Es geht mir schlecht, also darf ich mir doch wenigstens einen guten Schluck genehmigen.« Die Folgeerscheinungen bestätigen dann wiederum den miesen Zustand der Welt. Das ist wieder eine der typischen Karussellfahrten, auf die uns der Alkohol für gewöhnlich schickt – immer im Kreis herum, unmerklich zunächst, aber immer tiefer in die Krise hinein.
Das Arme-Schweinchen-Spiel hat einen ganz erheblichen Vorteil. Alkoholabhängige müssen sich anschließend keinen Vorwurf machen, denn die Welt ist schuld. Die Welt da draußen hat es im Grunde zu verantworten, dass man jetzt und hier und in Zukunft so viel trinken muss. Alles andere wäre nicht zu ertragen. Wir sind also wieder dort, wo der Alkoholiker für sein Leben gerne hingelangen möchte: Er darf jetzt nicht nur weitertrinken, sondern er bildet sich ein, jetzt sogar weitertrinken zu müssen, denn er hat einen überzeugenden Grund für sein Verhalten gefunden. Es nützt im Übrigen auch nichts, über diesen Weltzustand groß zu debattieren, denn man kann daran nach Ansicht des Alkoholikers nichts ändern. Nicht das Geringste lässt sich ändern.
Warum ist der Alkoholkranke von dieser Weltlage so felsenfest überzeugt? Jede Veränderung der schlechten Welt würde ja zuletzt sein Trinkverhalten in Frage stellen, und der eben noch gerechtfertigte Konsum der Droge wäre plötzlich zu einem Missbrauch geworden, dem jegliche Legitimation fehlen würde. Was muss die Welt also sein? Abgrundtief schlecht und absolut unwandelbar. Die Zukunft kann nicht düster genug aussehen, denn sie bietet in ihrer Aussichtslosigkeit immerhin eine Rechtfertigung für den nächsten Schluck Alkohol.
Die Welt da draußen ist schuld.
Natürlich ist die Welt kein Ort der durchgängigen Freude, der absoluten Gerechtigkeit oder der allenthalben über uns hereinbrechenden Liebe. Die Welt kann tatsächlich sehr hart und ungerecht mit uns umgehen. All dies gehört einfach zu den Wechselfällen des Lebens, die tatsächlich durch nichts gerechtfertigt sind. Niemand soll behaupten, das sei alles nur ein Zuckerschlecken. Andere Menschen wissen das auch, sie erfahren die gleichen oder ähnliche Schicksalsschläge. Sie kommen aber nicht zu derartig negativen Urteilen. Bei ihnen bleibt ein positiver Rest, ein Grund zur Hoffnung. Manche begründen diese Hoffnung mit einem in der Kindheit vermittelten Urvertrauen, andere schwören auf religiöse Einflüsse, die manche Menschen stabilisieren können. All dies kann zutreffen und es kann vielleicht sogar aus der Krise mit dem Alkohol heraushelfen. Das einzige Motto, das hier gilt, ist: Was mir hilft, das verwende ich auch, denn der einzige zuverlässige Maßstab bleibt mein eigenes Befinden. Aber genau um dieses Befinden betrügt sich der Alkoholiker. Seine abgrundtief schlechte Stimmung, seine Depression und seine Resignation gegenüber der Welt beruhen in erster Linie auf dem Missbrauch der Droge. Die Welt kann so schlecht sein, wie sie will – nur mit Alkohol wird sie noch schlechter und vor allem für den Trinkenden eben hoffnungslos. Das ist der Punkt, den man sich vollkommen klar machen sollte. Die Gemeinheit liegt in der dauernden Wiederholung, im Zirkel von Frustration und anschließendem Absturz. Dann, aber eben auch nur dann, kann die Welt als restlos schlecht und ausweglos empfunden werden. Der Mikrokosmos aus absoluter Weltenttäuschung entsteht mit dem Alkohol in unserem Kopf, und dort trifft er auf die Krankheit, die eine ziemlich abgeschmackte Rede hält:
»So etwas wie dich habe ich schon lange gebraucht. Du bist meine Existenzgrundlage, mein Sparstrumpf und meine zweite Seele im Geiste. Wenn du im siebten Kreis der Hölle schmorst, hole ich Nachschub. Ich helfe dir in deiner aussichtslosen Lage. Trink doch endlich was. Das kann ja keiner aushalten. Niemand kann so etwas aushalten. Mach dir keine Vorwürfe! Wer in so einer Welt lebt, der muss irgendetwas trinken. Wenn die anderen wüssten, wie schlecht es dir geht, dann würden sie verstehen, warum du so viel trinken musst, und aus Sympathie für dein Elend gleich mittrinken. Gott sei Dank geht es denen nicht so schlecht, denn wie gesagt, das kann ja niemand aushalten. Was soll man schon noch tun, außer sich eine kleine Erleichterung zu verschaffen. Wenigstens das muss doch noch erlaubt sein! Ein Wunder, dass du noch nicht verrückt geworden bist. Immer noch besser, etwas zu trinken, als in den Wahnsinn zu verfallen.«
Glücklicherweise wissen Sie jetzt schon, welches Spiel hier gespielt wird. Die Krankheit führt einen Dialog mit uns in unserem eigenen Kopf. Aber wie spricht die Krankheit? Sie benutzt einen ganz raffinierten Trick: Sie schildert uns ihre eigenen Auswirkungen, macht aber etwas anderes dafür verantwortlich. Was sie selbst angezettelt hat, dafür soll nun die Schlechtigkeit der Welt herhalten. Die »unschuldige« Krankheit bietet natürlich auch einen Ausweg an. Was dann kommt, wissen Sie – ein Absturz. Das Gesetz des Trinkers hat zugeschlagen, er oder sie darf nun weitertrinken.
Die ganze Kunst der Trockenheit oder eines abstinenten Lebens besteht im Grunde darin, das Karussell des Trinkens anzuhalten. Dieses Karussell hat viele Gesichter. Manche Trinker schaffen sich ein ganz individuelles Karussell, das aus ihrer besonderen Lebenssituation heraus entsteht und auch nur bei genauer Kenntnis dieser Situation durchschaut werden kann. Daher ist es nicht möglich, jede Strategie der Selbstüberlistung detailliert darzustellen. Wir müssen auch nicht alle Varianten genau kennen. Wichtig ist nur, dass wir das Prinzip verstehen. Dieses Prinzip lautet:
Die Krankheit wirkt immer selbstverstärkend in unserer Psyche indem sie dort Verhältnisse schafft oder provoziert, die zuletzt zum Griff nach der Flasche führen. Aber das sind dann nicht Sie selbst, sondern das sind Sie und die Krankheit – nichts anderes.