Sie dürfen sich die Auseinandersetzung mit der psychischen Seite des Alkoholismus nicht als Horrorstory vorstellen. Viele glauben das, weil sie von mehrmonatigen Aufenthalten in Trinkerheilanstalten und Ähnlichem gehört haben. Allein das Wort »Trinkerheilanstalt« klingt schon höchst bedrohlich. Man spricht heute wohl besser von »Fachkliniken für Suchtprobleme«, was auch zutreffender ist. Es handelt sich nicht um düstere Kliniken mit Mauern und Stacheldraht, solche Vorstellungen sind völlig falsch.
Wenn es sich für Sie als notwendig herausstellen sollte, eine mehrmonatige Entwöhnungskur zu machen, besteht keinerlei Grund zur Panik. Meist haben Sie es dann sogar leichter, weil Ihnen sehr intensiv geholfen wird. Entscheidend ist: Falls man Ihnen zu einer derartigen Therapie rät, dann sollten Sie das als Chance sehen und alle Angebote nutzen. Wer seine Zeit in derartigen Einrichtungen einfach absitzt und glaubt, dort am völlig falschen Platz zu sein, der sollte es besser gleich lassen. Es würde sich nur um Zeitverschwendung handeln. Betrachten Sie die Kur am besten zunächst als Auszeit, das Leben »in der freien Wildbahn« geht danach ja weiter. Bis dahin können Sie sich erst wieder an sich selbst gewöhnen – so, wie Sie ohne Droge sind. Die Entwöhnung ist auch eine Gewöhnung an sich. Wir müssen uns erst wieder selbst ohne Alkohol kennen lernen. Sie dürfen nicht vergessen, dass dem in aller Regel ein jahrelanger Missbrauch oder eine Abhängigkeit vom Alkohol vorausging.
Die Auseinandersetzung mit der psychischen Seite des Alkohols führt nicht zwangsweise in eine mehrmonatige Entziehungskur, viele alkoholkranke Menschen schaffen es auch ohne derartige Therapien. Sie bewältigen dies allerdings mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht allein. Jeder Alleingang in der Entwöhnungsphase hat langfristig gesehen einen Rückfall vorprogrammiert. Selbst wenn Sie die Entgiftung in eigener Regie durchgeführt haben, die Entwöhnungsphase sollten Sie keinesfalls ohne Kontakte in Angriff nehmen. Hierzu bieten sich zahlreiche Selbsthilfegruppen und fachtherapeutische Hilfestellungen an. Sie müssen sich hierzu informieren und die verschiedenen Alternativen erfragen. Eine Adressenliste für die erste Kontaktaufnahme finden Sie am Ende des Buches.
Die Entwöhnungsphase stellt kein Ruhekissen dar, ohne wirkliche Arbeit an sich selbst geht es hier nicht! Das erscheint vielen Betroffenen zunächst etwas rätselhaft, denn oft ist nicht klar, wo diese Arbeit beginnen soll. Schon der Ansatzpunkt fehlt. Es erscheint einerseits wenig sinnvoll, qua Nabelbetrachtung alles aufzubauschen, andererseits lässt es sich einfach auch nicht leugnen: Mit uns Alkoholikern stimmt etwas nicht. Es stimmt sogar so wenig, dass wir unseren frühzeitigen qualvollen Tod in Kauf nehmen. Die ganze Sache hat also sehr wohl etwas mit der Psyche zu tun. Sind wir deshalb »schwere« Fälle, was immer dies auch sein mag? Natürlich nicht. Es gibt nur einen Anteil in unserer Psyche, der sich unter dem oft lange währenden Alkoholeinfluss verändert hat. Wir sind in diesem Punkt tatsächlich andere Personen geworden. Damit sind sehr feine Veränderungen gemeint, wenig spektakuläre Wandlungen, die aber ausreichen, unser gesamtes soziales Umfeld stark zu verändern.
Wir wollen also an uns arbeiten, wissen aber zunächst nicht wo. Eine Möglichkeit besteht darin, Themengebiete zu sammeln oder persönliche Probleme zu bearbeiten. Beginnen wir einmal ganz banal mit der Frage nach der eigenen Befindlichkeit. Warum könnte so eine Frage für den Alkoholkranken von übergeordneter Bedeutung sein? Die Antwort ist recht einfach. Je nach Grad Ihres Alkoholkonsums haben Sie Ihre Gefühle und Stimmungen mehr oder weniger »weggedämpft«. Der Einsatz des Alkohols als Stimmungsverbesserer lässt negative Gefühle gar nicht erst aufkommen. Es könnte also so scheinen, als ob Sie in der Abstinenz besonders starken Stimmungsschwankungen ausgesetzt sind. Tatsächlich bekommen Sie jetzt Ihre Stimmungen nur wieder mit, weil es keinen dämpfenden Alkoholnebel mehr gibt.
Die Folge der Nüchternheit besteht also darin, dass eben auch negative Stimmungen auszuhalten sind. Wenn Sie das schaffen, können Sie auch Ihre positiven Stimmungen wieder richtig genießen. Wie lässt sich das erklären? Die dauernde Euphorisierung unter Drogeneinfluss schafft den Wunsch nach stärkerer Dosierung. Das normale Maß erweist sich nach kurzer Zeit der Gewöhnung nicht mehr als ausreichend. Wir wollen eine Steigerung der Lust und danach noch eine weitere Steigerung – bis ins Unendliche. Natürlich verschärfen sich auf der anderen Seite dieser Bilanz die negativen Auswirkungen durch die erhöhten Alkoholmengen. Es kommt unweigerlich zu der hier bereits oft beschriebenen Situation, in der alles negativ erscheint, weil Sie an den Rand Ihres psychischen Fassungsvermögens mit Alkohol als Stimmungsverbesserer gestoßen sind.
Von nun an geht es mit Ihrer Stimmung rapide bergab, der Alkohol bewirkt nun das genaue Gegenteil: Sie werden depressiv und sind nur noch »schlecht drauf«. Mehr zu trinken hilft auch nichts mehr, sondern verstärkt sogar noch die unerwünschten Auswirkungen.
Langfristig wirkt Alkohol immer negativ auf die Psyche. Der Alkohol fördert depressive Neigungen oder er ruft sie sogar hervor. Wer Alkohol gegen Depressionen zu sich nimmt, der handelt kontraproduktiv. Er verstärkt seine Probleme, anstatt sie abzubauen.
Wer mit dem Trinken aufhört, also zu einem normalen Leben zurückfindet, der kann zuweilen ein wenig vor sich selbst zurückschrecken. Im Normalzustand bekommt der Betroffene Gefühle und Stimmungen wieder »ungefiltert« mit. Der Vorteil besteht darin, dass wir nur vor dem Hintergrund einer schlechten Laune auch eine gute Stimmung wieder mehr genießen können.
Die künstliche Hochstimmung unter Alkoholeinfluss lässt dagegen – zunächst und scheinbar – keinerlei Missstimmung aufkommen. Wer ständig auf Wolke Sieben schwebt, der hält diese Euphorie am Ende für den Normalzustand. Also versucht er mit entsprechenden »Zusatzmitteln« die »Wolke Acht« zu erreichen. Natürlich lässt sich das theoretisch unbegrenzt fortsetzen, denn warum soll es nicht auch die Wolken »Neun« und »Zehn« geben? Aber nur theoretisch, denn irgendwann erfolgt bei jedem der Zusammenbruch. Die notwendige Folge aus dieser Erkenntnis lautet, dass wir lernen müssen, mit unserer eigenen Normalität wieder umzugehen. Diese Normalität beinhaltet auch schlechte Stimmungen. Die Arbeit an den Gefühlen schließt also das Aushalten negativer Stimmungen ein, die sozusagen das natürliche Gegenstück zur guten Laune bilden.
Das heißt nicht, dass Sie im Fall von schlechter Stimmung von nun an zerknautscht in der Ecke sitzen müssen und allenfalls resigniert die Schultern hochziehen. Sie können dies gelassen hinnehmen – warum auch nicht? Und Sie können sich überlegen, wie Sie es sich leichter machen, denn Sie haben keinerlei Verpflichtung zur Dauerpositivität. Das entspricht einfach nicht der menschlichen Existenz. Der Typ der zwanghaften Hurratüte ist ein Phantasieprodukt der Medienbranche, kein wirklicher Mensch – aber seine Verkörperung hat nicht gerade selten ein sehr reales Drogenproblem. Sie wissen jetzt, warum.