Es gibt eine Form des Rückfalls, die keineswegs so schwer nachvollziehbare Wege beschreitet wie die plötzliche Lust. Sie müssen sich dazu in folgende Situation hineinversetzen: Angenommen Sie haben es geschafft und sind bereits seit vielen Jahren trocken. Alkoholismus stellt für Sie kaum noch ein Thema dar. Da entsteht folgender Gedanke:
»Eigentlich könnte ich mal wieder ein Bier oder ein Gläschen Wein zu mir nehmen. Aber wirklich nur eines. Eines kann doch nicht schaden. Und ich trinke wirklich nur ein einziges Bier. Ich könnte mich sogar auf ein einziges kleines Bier beschränken.«
Der nasse Gedanke macht sich gelegentlich auch in der Variation bemerkbar: »Ich habe Wein früher in rauen Mengen in mich hineingeschüttet, jetzt möchte ich diesen edlen Rebensaft nur wegen des Geschmacks trinken. Ich weiß ja schließlich, was mit mir los ist. Es geht mir um den echten Genuss und den unverfälschten Geschmack. Den Rausch suche ich nicht mehr. Das gehört der Vergangenheit an.«
Dieser Gedanke präsentiert sich in einer höchst verführerischen Form. Wie geht es weiter, wenn Sie dem Gedanken nachgeben? Angenommen das festgesetzte Quantum an Bier oder Wein wird konsumiert. Zunächst ist die Angelegenheit weit weniger spektakulär als zunächst angenommen. Ein wirklicher Genuss ist es nicht, weil Sie ja um Ihre Krankheit wissen. Die Folge besteht in einem schlechten Gewissen, das jeden Schluck begleitet. Außerdem trinken Sie nicht mehr unbelastet und müssen sich bei dieser Aktion ständig beobachten:
»Merke ich schon eine Suchtwirkung oder geht es noch?«
Wie geht es höchstwahrscheinlich weiter, wenn Sie dem einen Bier nachgeben?
Das Bier haben Sie getrunken, und es ist nichts Spektakuläres passiert. Auch das Glas Wein hat keinerlei Katastrophe hervorgerufen. Sie belassen es dabei, registrieren aber folgenden Sachverhalt: Ein Bier oder ein Glas Wein ruft keinen Absturz hervor. In den nächsten Wochen passiert nichts. Sie unternehmen schließlich einen Wochenendausflug, sitzen in einem Lokal am See, und plötzlich meldet sich unser Gedanke wieder: »Jetzt wäre ein Weißbier recht.« Sie stellen einige genüssliche Überlegungen zu der Geschmacksfrage des Weißbiers an. Eigentlich wollten Sie nichts mehr trinken. Dann erinnern Sie sich. Das mit dem einen Bier ging ohne negative Konsequenzen aus. Dieses eine Bier hat damals keinerlei Katastrophe ausgelöst. Außerdem ist das jetzt bereits einige Wochen her. Warum sollten Sie also auf diesen Genuss hier verzichten? Schließlich können Sie es sich doch auch einmal gut gehen lassen. Die anderen trinken schließlich auch ein Bier. Das sind natürlich keine Alkoholiker, aber es bleibt ja auch bei einem Bier. Sie bestellen sich das Bier, trinken es mit schlechtem Gewissen, und es findet wieder keine Katastrophe statt. Jetzt neigen Sie folgender Überlegung zu: »Wenn ich nur ein Bier trinke, dann passiert mir nichts.«
Die alles entscheidende Frage ist nun – Sie ahnen es schon –, wie es in einem halben Jahr, vielleicht auch erst in einem dreiviertel Jahr mit Ihnen aussieht. In der erdrückenden Mehrzahl aller Fälle haben Sie mit dem geschilderten Experiment Ihre Alkoholikerkarriere wieder aufgenommen. Die Zukunft sieht folgendermaßen aus: Die Abstände zwischen den einzelnen Bieren verkürzen sich, irgendwann steigt das Quantum an, und anschließend befinden Sie sich wieder dort, wo Sie aufgehört haben. Das gilt selbstverständlich für alle Arten von Alkohol und nicht nur für Bier! Mit dem kleinen Quantum setzen Sie Ihre alte Suchtmaschine im Kopf wieder in Betrieb und aktivieren Ihr Suchtgedächtnis.
Dieses Suchtgedächtnis besteht aus fest »eingebrannten« Verbindungen im zentralen Nervensystem von Suchtkranken, die durch wiederholten Alkoholmissbrauch entstanden sind. Sobald der Suchtstoff erneut zugeführt wird, löst das Suchtgedächtnis im Belohnungszentrum des Gehirns die bekannten Lustgefühle aus. Sie haben dieser Maschinerie gleichsam ihren speziellen Sprit zugeführt, ohne den diese Maschine nicht laufen kann. Im trockenen Zustand ist die Maschine stillgelegt, aber sie kann jederzeit reaktiviert werden. Natürlich entfaltet diese Maschine ihre ganze Kraft nicht gleich zu Beginn. Das erste Bier genügt aber bereits, um die Maschine aus ihrem eingemotteten Zustand in eine erste Stufe der Reaktivierung überzuführen. Die Maschine arbeitet dann wochenlang völlig unbemerkt und unterhalb der Bewusstseinsschwelle in Ihrem Kopf.