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Mittwoch, 29. Januar

»Ja«, rief Clarke, als es an der Tür klopfte, jedoch ohne von seinem Computer aufzublicken. Clarke schloss die Tür nicht allzu häufig, denn er bevorzugte genau das Gegenteil dessen, was sein Vater als Arbeitsatmosphäre propagierte.

Wenn Alton West einen Festungsgraben um sein Büro im obersten Stockwerk hätte errichten können, hätte er das getan. Stattdessen hatte er sich darauf verlegt, den Aufzug entsprechend regulieren zu lassen. Niemand hätte überhaupt ins Büro des CEO gelangen können, ohne persönlich von der langjährigen Assistentin seines Vaters hingeleitet zu werden.

Clarkes eigenes Büro befand sich in dem Stockwerk genau unter dem des CEO, und er legte Wert darauf, dass die Türen offen standen, um so erreichbar wie möglich zu sein. Nicht, weil er Unterbrechungen sonderlich liebte, sondern weil er festgestellt hatte, dass Menschen härter und besser arbeiteten, wenn sie das Gefühl hatten, dass man ihnen zuhörte.

Die Philosophie der offenen Türen war in der Theorie zwar ideal, allerdings häufig für Clarkes eigene Produktivität alles andere als förderlich. Insbesondere während des vergangenen Monats hatte Clarke seine liebe Not gehabt, des ständigen Stroms von Fragen und Anforderungen Herr zu werden, die über seinen Schreibtisch gingen.

Demzufolge hatte er in letzter Zeit seine Tür immer häufiger geschlossen in dem Versuch, den Lärm auszuschließen. Es gefiel ihm nicht, aber er durfte in seinen Leistungen auch nicht nachlassen.

Clarke wusste, warum Maria seinen Posteingang und seinen Kalender mit Nachrichten und Terminen flutete – sie wusste, dass ihr Konkurrent durch eine Hochzeit abgelenkt war und sah darin ihre Chance, ihr Engagement für diesen Job unter Beweis zu stellen. Allerdings war es ihm ein Rätsel, warum auch sein Vater momentan so sehr zu seinem Stress beitrug.

Nicht, dass er sich darüber wirklich beklagen wollte. Clarke hatte Jahre darauf gewartet, dass sein Vater ihm mehr Vertrauen entgegenbrachte und sich auf ihn stützte. Endlich schien es so weit zu sein. Er verstand nur nicht so recht, warum es ausgerechnet jetzt so war, während Clarke versuchte, das Hochzeitstorten-Tasting mit den Etat-Meetings in Einklang zu bringen.

»Ja«, sagte Clarke wieder, diesmal lauter, als, wer immer da geklopft hatte, nicht eintrat. Er hatte Mühe, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Schließlich wusste sein Team, dass man ihn nur in dringenden Fällen stören durfte.

Die Tür öffnete sich, und er hob den Kopf. Seine Finger erstarrten über der Tastatur, als er das bekannte Gesicht entdeckte. »Liz.«

Seine Ex lächelte zaghaft. »Darf ich reinkommen?«

»Klar«, antwortete er automatisch. Nicht, weil er sie sehen wollte, sondern weil er verdammt neugierig war. Elizabeth hatte ihn schon während ihrer Beziehung nur selten im Büro besucht. Sie hatte gar keine Zeit dazu gehabt, da ihr eigener Job sie viel zu sehr in Anspruch genommen hatte. Dass sie sich trotz ihres stressigen Arbeitstages nun Zeit nahm, war … interessant.

»Hat meine Mutter dich geschickt?«

Liz hatte zumindest den Anstand zusammenzuzucken, während sie die Tür hinter sich schloss. »Das habe ich wohl nicht anders verdient.«

»Ah«, sagte er, lächelte leicht und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Du gibst also zu, dass du mit ihr unter einer Decke steckst.«

Sie reckte das Kinn. »Sie weiß, dass ich mich mit dir treffen will, seit ich wieder in der Stadt bin. Um zu hören, wie es dir so ergangen ist«, antwortete sie in defensivem Ton.

»Das haben wir doch schon bei dem Lunch geklärt, zu dem du mich überlistet hast.« Clarke sprach leichthin, aber dennoch lag eine gewisse Härte in seiner Stimme. »Ich weiß, dass du wieder hergezogen bist, weil du ins Büro des Attorney General berufen wurdest. Ich weiß auch, dass du gerade eine Wohnung auf der West 70th gekauft hast und dass Lucy vor einem Jahr gestorben ist und du über die Anschaffung einer neuen Katze nachdenkst. Ich weiß, dass du immer noch die Gurken aus dem Salat pickst, obwohl ich nach wie vor der Meinung bin, dass sie eigentlich nach nichts schmecken und infolgedessen harmlos sind.«

Sie schenkte ihm ein weiteres flüchtiges Lächeln und kam auf seinen Schreibtisch zu. »Und ich weiß, dass du immer noch in dieser Wohnung um die Ecke der Madison lebst, die du nach meinem Umzug gekauft hast. Dass, sobald ein Cheeseburger auf der Speisekarte zu finden ist, du ihn bestellen wirst. Ich weiß, dass Priscilla immer noch als deine Assistentin arbeitet und dass du befördert wurdest. Gratuliere.« Mit beiden Händen deutete sie auf das großräumige Büro mit dem Ausblick aufs Zentrum.

»Und doch …« – sie stützte sich mit den Fingerspitzen auf der gegenüberliegenden Seite seines Schreibtisches ab – »… hast du mir bei jenem Lunch ein sehr wichtiges Detail vorenthalten.«

Clarke schwieg beharrlich, gab keinen Zentimeter nach.

Sie beugte sich ganz leicht vor. »Du hast nicht erwähnt, dass du heiraten wirst.«

»Ist mir wohl kurzfristig entfallen«, antwortete er mit unverbindlichem Lächeln.

»Anscheinend.«

Sie sahen sich in die Augen, und genau wie bei besagtem Lunch erwartete Clarke jetzt die schlagartige Erkenntnis, dass seine Beziehung zu ihr einmal richtig gewesen war. Zum Teufel, ein Aufflackern hätte ihm schon gereicht. Alles, um ihn daran zu erinnern, dass diese Frau ihm früher einmal am Herzen gelegen hatte. Nicht, dass sie ihm jetzt überhaupt nichts mehr bedeutete. Damals war Elizabeth ihm wichtig gewesen, und er wünschte ihr nur Gutes. Aber während er sie seinerzeit für schön gehalten hatte, fand er sie jetzt nur noch attraktiv, wie ein gleichgültiger Beobachter sie vielleicht attraktiv gefunden hätte. Nicht, weil sie sich verändert hatte, sondern weil seine Gefühle für sie sich gewandelt hatten. Sie war zu einer netten Erinnerung verblasst, und ihre Rückkehr nach New York änderte nichts daran.

Doch Elizabeth lächelte vielsagend. »Wie lange werdet ihr beiden diese Scheinverlobung noch durchziehen?«

Er legte den Kopf schief, gab sich verwirrt.

»Lass den Blödsinn, Clarke«, sagte sie und setzte sich hin, ohne dass er sie dazu aufgefordert hatte. »Ich weiß, warum Audrey die Braut spielt. Es ist buchstäblich ihr Beruf, vor der Öffentlichkeit zu posieren. Aber ich verstehe nicht, warum du da mitmachst. Um dich an mir zu rächen, um deine Mutter zu verärgern, oder weil Audrey dich immer noch um den kleinen Finger wickeln kann?«

»Vorsicht, Liz.«

»Oh, ich wollte Audrey damit nicht beleidigen«, sagte Elizabeth. »Sie war immer nett zu mir. Ich habe sogar angefangen, sie zu mögen, nachdem ich aufgehört hatte, eifersüchtig auf sie zu sein. In unseren Anfängen war ich nämlich durchaus eifersüchtig, und ich erinnere mich sehr deutlich, dass du während der ersten Monate unserer Beziehung versucht hast, meine Eifersucht zu besänftigen, indem du mir versichert hast, dass sie wie eine Schwester für dich war.«

Beinahe hätte Clarke automatisch wie immer reagiert. Hätte darauf beharrt, dass Audrey tatsächlich wie eine Schwester für ihn war. Doch heute wollte ihm das einfach nicht über die Lippen kommen. Er versuchte, sich einzureden, dass er Elizabeth dadurch treffen wollte, aber ihm wurde mit jeder Minute klarer, dass die Sache zwischen ihm und Audrey nichts mit Elizabeth zu tun hatte.

»Überrascht es dich, dass ich Audrey heiraten will?«, fragte er also stattdessen. »Oder vielmehr, dass ich überhaupt heirate? Denn immerhin hast du keinen Zweifel daran gelassen, dass ich in deinen Augen nicht zum Ehemann tauge.«

»Damals taugtest du nicht zum Ehemann«, stellte sie mit leiser Stimme klar. »Du musstest erst noch, hmm, erwachsen werden. Manhattan war dein Spielplatz, und so hast du dich auch aufgeführt. Du und ich, wir wussten doch beide, dass du niemals glücklich geworden wärest, wenn du dich mit mir in D.C. niedergelassen hättest.«

Du hast mich doch noch nicht einmal gefragt.

Aber die übliche Bitterkeit, die ihn sonst bei diesem Gedanken immer erfüllt hatte, wollte sich diesmal nicht einstellen. Seit Jahren hatte es ihn belastet, dass Liz ihn genauso unterschätzt hatte wie seine Eltern. Weil er immer ein Lächeln auf den Lippen hatte, weil er sich gern amüsierte und Aufgaben nach seiner eigenen Vorstellung und in seinem eigenen Tempo erledigte, hatte sie angenommen, dass er es in Bezug auf nichts und niemanden ernst meinte.

»Vielleicht wäre ich dort tatsächlich nicht glücklich geworden«, stimmte er ihr zu. »Womöglich bin ich einfach ein waschechter New Yorker, und Audrey war immer die Richtige für mich.«

Er sagte das, um Liz zu provozieren, aber kaum waren ihm die Worte über die Lippen gekommen, traf es ihn wie ein Hammerschlag. Nicht, weil die Aussage absurd zu sein schien, sondern weil sie es nicht war.

Womöglich war Audrey immer die Richtige für mich.

Fassungslos lehnte sich Clarke nun vollends auf seinem Stuhl zurück, denn endlich wurde ihm klar, was schon seit Wochen an ihm nagte. Dass er sich trotz Elizabeth und den Machenschaften seiner Mutter und sogar angesichts der absolut primitiven Piesackerei durch ScandalBoy niemals geerdeter gefühlt hatte als während dieses ganzen vergangenen Monats.

Als sei sein Leben endlich auf Kurs.

Energisch schüttelte Clarke den Kopf. Offensichtlich brachte ihn dieses Spielchen, das er und Audrey spielten, langsam ganz durcheinander.

Elizabeth musterte ihn eindringlich, dann runzelte sie die Stirn, anscheinend frustriert darüber, dass sie ihn nicht durchschaute.

»Clarke.« Sie streckte die Hand über den Tisch hinweg aus. Doch dann merkte sie wohl, dass es falsch gewesen wäre, ihn zu berühren, also zog sie die Hand wieder zurück und sah ihm lediglich fest in die Augen. »Ich vermisse dich.«

Clarke wusste nicht so genau, ob diese Erklärung ihn erstaunte oder nicht. Einerseits nicht. Liz’ neueste Versuche, wieder mit ihm zusammenzukommen, waren alles andere als subtil gewesen. Andererseits hatte die Liz von früher, von der er zumindest geglaubt hatte, sie zu kennen, selten Gefühle und schon gar keine Verletzlichkeit gezeigt. Ihm war nicht ganz klar, wie er ihr Verhalten jetzt bewerten sollte.

»Warum?«, fragte er.

Sie lachte. »Warum? Weil du … na ja … wir haben halt gut zueinander gepasst.«

»Ach wirklich?«

»Clarke.« Jetzt war sie gereizt. »Das weißt du doch. Wir sind ein ganzes Jahr miteinander gegangen. So lange bleibt man nicht zusammen, wenn nichts dahintersteckt.«

»Stimmt schon. Aber wenn es tatsächlich ernst ist, dann verlässt man auch nicht so einfach die Stadt.«

»Du weißt, dass ich wegziehen musste. Diese Gelegenheit …«

»… konntest du dir nicht entgehen lassen. Das habe ich verstanden. Ich habe es respektiert. Aber du hast keinen Zweifel daran gelassen, dass ich in diesem Kapitel deines Lebens keine Rolle spiele. Eine Fernbeziehung stand nicht zur Debatte, und gefragt, ob ich dich begleite, hast du mich schon gar nicht.«

»Hättest du es denn getan?«

Er blickte nachdenklich auf seinen Schreibtisch hinab. »Keine Ahnung«, antwortete er schließlich. »Aber die Tatsache, dass du nicht einmal gefragt hast, sprach Bände.«

Sie atmete tief ein und hielt einen Augenblick lang die Luft an, bevor sie sie langsam wieder ausstieß. »Na ja, ich frage dich jetzt. Nicht, ob du mit mir nach D.C. ziehst, sondern, ob du uns eine zweite Chance gibst, hier in New York. Um das weiterzuführen, was wir damals begonnen haben.«

Bei diesen Worten wurde Clarke vollends klar, wie er dieser Frau gegenüberstand: einigermaßen gleichgültig.

»Du kommst zu spät, Liz«, erklärte er leise und stand auf, um ihr das Ende der Unterhaltung zu signalisieren. »Ich heirate Audrey.«

»Oh bitte«, fauchte sie. »Du tust doch nur so, als ob du sie heiratest, um dich an deiner Mutter zu rächen, weil sie dich ständig herumkommandiert und vielleicht, um mich zu bestrafen, aber …«

»Du täuschst dich«, unterbrach Clarke sie scharf. »Meine Beziehung zu Audrey hat nichts mit dir zu tun. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst. Ich habe einen Termin mit meiner Verlobten, um die Hochzeitstorte auszusuchen. Du weißt sicher noch, wo die Tür ist.«

❊ ❊ ❊

Die Konditorei war auserlesen, sogar für Manhattan. Clarke musste zunächst an einem Wachmann in der Lobby vorbei, dann an einer Gegensprechanlage vor einer verschlossenen Tür, und nun hatte er noch eine Empfangsdame zu überwinden, die kurz davor zu sein schien, ihn nach seinem Ausweis zu fragen, nachdem er ihr seinen Namen genannt hatte.

»Miss Tate erwähnte nicht, dass sie in Begleitung kommen würde«, sagte die Blondine kühl und musterte ihn von oben bis unten.

»Ich habe ihr gesagt, dass ich verhindert sei, konnte aber meine Termine verlegen.«

»Hmm.« Die Empfangsdame schien das nicht weiter zu beeindrucken.

»Ist sie denn schon hier?«, fragte Clarke geduldig. »Wissen Sie was? Ich werde sie jetzt einfach anrufen. Dann kann sie Ihnen erklären, dass ich ihr Verlobter bin. Danach erklären wiederum Sie ihr, warum ich zu spät komme und immer noch hier in der Lobby herumstehe.«

Er zog sein Handy heraus, und die Empfangsdame gab seufzend nach. »Hier entlang, bitte.«

Clarke folgte ihr einen kurzen Flur entlang. Es überraschte ihn nicht, dass der Innenbereich zwar klein, aber überaus elegant war. Hochglanzfotos von aufwendigen Torten säumten die Wände, und statt des grellen Neonlichts, das man sonst in den Hochhäusern der Innenstadt fand, hatte man überall gedämpfte, strategisch günstige Lampen angebracht. Es sah weder aus, noch duftete es wie in einer normalen Konditorei.

»Riecht gar nicht nach Kuchen«, bemerkte er.

Die eisige Blondine sah sich nicht um. »Dies ist unser Showroom und der Ort fürs Tasting. Die Tortenherstellung erfolgt an einem anderen Ort.«

Sie verkniff sich das Wort offensichtlich, aber Clarke hörte den Zusatz dennoch deutlich heraus.

Die Empfangsdame blieb stehen und wies ihm den Weg durch eine Tür.

Audrey saß an einem runden Tisch und war in ihr Handy vertieft. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, als sie ihn entdeckte. »Hey! Was tust du denn hier?«

Die Blondine stürzte sich sofort auf ihn. »Sie haben ihn nicht erwartet?«

»Oh, um Himmels willen …« Verärgert, dass er in einem Hochzeitstortenshop wie ein Schwerverbrecher behandelt wurde, marschierte Clarke auf Audrey zu, legte beide Hände auf ihre Stuhllehnen, beugte sich vor und presste entschlossen den Mund auf den ihren.

Er hatte eigentlich vorgehabt, sie flüchtig und kurz zu küssen und eigentlich auch nur wegen der blonden Soldatin im Türrahmen, aber kaum hatten seine Lippen die ihren berührt, wollten sie sich nicht mehr davon lösen.

Clarke erkannte, dass er sich eigentlich die Bestätigung erhofft hatte, durch diesen Kuss jenen auf der Verlobungsfeier zum Zufall abzustempeln, und dass die süchtig machende Süße ihrer Lippen eine Ausgeburt seiner Fantasie gewesen war.

Doch dieser Kuss nun machte jegliche Hoffnung dieser Art zunichte. Ihre Lippen öffneten sich vor Überraschung leicht, und Clarke musste dem Impuls widerstehen, den Kuss zu intensivieren und inniger werden zu lassen. Seltsam, so gut er Audrey kannte, so sehr er glaubte, alles von ihr zu wissen, das hier war ihm nicht klar gewesen. Dass ihre Lippen sich so zart anfühlen würden, so … richtig.

Er zwang sich, sich wieder von ihr zu lösen, denn dies war Beweis genug. Er spürte Audreys Verwirrung und mied ihren Blick, wandte sich um und schenkte der Rezeptionistin sein großspurigstes Lächeln. Siehst du? Ich gehöre zu ihr.

Endlich zufrieden, dass Clarke ein Recht darauf hatte, hier zu sein, nickte die Blondine höflich und knapp. »Ein Mitarbeiter wird so bald wie möglich hier sein, sodass Sie mit dem Tasting beginnen können. Wir hinken etwas hinter unserem Terminplan hinterher. Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Kaffee? Tee? Wein?«

Wein klang extrem verführerisch, wenn man bedachte, wie sein Tag bisher verlaufen war, aber trotzdem schüttelten Audrey und er die Köpfe. Audrey wartete, bis das Klackern der Empfangsdamen-Absätze verklungen war, dann sah sie ihn forschend an. »Wofür war das denn?«

»Was soll das hier sein? Das Fort Knox unter den Konditoreien?«, grummelte er, hakte seinen Fuß hinter das Stuhlbein und zog ihn hervor, sodass er sich neben sie setzen konnte. »Ich habe schon erwartet, dass sie gleich die Paniktaste drückt, weil mein Name nicht auf der genehmigten Liste steht.«

»Na ja, du hast doch behauptet, es wegen eines Meetings nicht schaffen zu können, also habe ich ihr gesagt, ich käme allein.«

»Ich hatte ein Meeting«, sagte er und rieb sich die Schläfen.

»Und das wurde abgesagt?«

Etwas in der Art.

In Wirklichkeit hatten Liz’ Besuch und die seltsamen Erkenntnisse, die damit einhergingen, ihn dermaßen aus der Bahn geworfen, dass er aus dem York-Bürogebäude hinausgestürmt und schon auf halbem Wege zum Tortenshop gewesen war, bevor ihm wieder einfiel, warum er ursprünglich nicht hatte herkommen können.

Er hatte darüber nachgedacht, auf dem Absatz kehrtzumachen, um das vereinbarte Meeting mit den Anbietern wahrzunehmen, hatte aber stattdessen einen Mitarbeiter angerufen, der vor Kurzem ziemlich direkt um eine Beförderung gebeten hatte, und hatte ihn gebeten, den Termin an seiner Stelle wahrzunehmen.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie.

Clarke hob den Kopf, wollte ihr schon von Elizabeths spontanem Besuch im Büro erzählen, aber … ließ es dann doch sein. Audrey und Clarke hatten per se keinerlei Geheimnisse voreinander, vermieden es aber, sich sämtliche Details ihres Liebeslebens zu erzählen. Sie bemühten sich, so gut sie konnten, ihre Freundschaft und die jeweiligen Beziehungen friedlich koexistieren zu lassen, entweder durch seltene Doubledates, wenn sie gerade beide gleichzeitig mit jemandem ausgingen, oder mit dem etwas unangenehmeren Fünftes-Rad-am-Wagen-Szenario, als er mit Elizabeth oder sie mit Brayden zusammen gewesen war.

Aber niemals hatten sie intime Details der physischen oder emotionalen Art miteinander ausgetauscht. Sie beschränkten das auf die Highlights – den gruseligen Randy und seinen verspiegelten Raum oder Clarkes Erfahrung mit einer Frau, die sage und schreibe zwölf Vögel in Käfigen in ihrem Schlafzimmer hielt. Aber das alles blieb an der Oberfläche – waren nur die unterhaltsamen Kleinigkeiten.

Das Emotionale? Nicht so sehr. Clarke wusste natürlich, dass Braydens Tod und Betrug Audrey schwer zu schaffen gemacht hatten, aber ihre Freundschaft zu Claire und Naomi war ihr Fels in diesem Gefühlschaos gewesen. Was ihn betraf, war seine einzige ernsthafte Beziehung die zu Elizabeth gewesen, und er hatte Audrey so gut wie nichts über ihre Trennung erzählt. Nicht von der Unterhaltung im Vorfeld und nichts von der Tatsache, dass es ihn getroffen hatte.

Sie streckte die Hand aus und berührte mit dem Zeigefinger sanft die Stelle zwischen seinen Augenbrauen. »Was ist das? Du runzelst die Stirn. Das machst du sonst nie.«

Instinktiv umfing er ihre Finger mit der Hand. Und ließ nicht los. »Sorry. War ein harter Tag.«

»Na, da hast du ja die richtige Methode gewählt, damit er besser wird. Diese Konditorei ist absolut exklusiv, und die Torten selbst sind sagenhaft lecker. Sie haben diese Whiskey-Pecannuss-Torte für Diana Colliers Hochzeit gemacht, und die war einfach …«

»Dree«, unterbrach er sie und packte ihre Hand fester. »Wie lange machen wir damit noch weiter?«

»Mit dem Tasting? Das dauert sicher nicht länger als eine Stunde oder so …«

»Nicht mit den Torten. Damit.« Er deutete zwischen ihnen hin und her. »Wie lange machen wir mit dieser Charade noch weiter?«

Audrey atmete langsam aus. »Keine Ahnung. Fängt an, sich ein bisschen real anzufühlen, stimmt’s?«

Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Sagen wir einfach, dass ich am Anfang unseres kleinen Spielchens immer zehn Sekunden gebraucht habe, um mich daran zu erinnern, warum mir die Leute gratulieren. Wenn sie mir jetzt gratulieren, höre ich sogar schon beinahe hin, wenn sie mir Ratschläge für die Ehe geben. Jetzt brauche ich ganze zehn Sekunden, um mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich eigentlich nicht heirate.«

Sie lachte. »Ich weiß, was du meinst. Ich habe heute Morgen eine geschlagene Stunde mit der Hochzeitsplanerin telefoniert. Ich hatte ein richtig schlechtes Gewissen, bis ich mir noch mal ihren Vertrag angesehen habe und mich davon überzeugt habe, dass sie ihr Geld in jedem Fall bekommen wird. Und zwar ein hübsches Sümmchen.«

»Vertrag? Du hast einen Vertrag mit Wedding Belles unterzeichnet?«

Audrey stöhnte und entzog ihm die Finger und vergrub das Gesicht in beiden Händen. »Ich weiß. Ich weiß! Ich habe jetzt offiziell jeglichen Sinn für die Wirklichkeit verloren, und die Situation ist außer Kontrolle geraten.«

Geht mir genauso. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. Es störte ihn eigentlich nicht, dass sie so viel Zeit, Energie und Geld auf ihre Scheinverlobung verwandt hatten. Aber etwas anderes machte ihm umso mehr Sorgen: Je weiter sie dieses Täuschungsmanöver trieben, umso klarere Konturen nahm diese Hochzeit an, und er sah sogar klar und deutlich vor sich, wie es nach der Hochzeit sein konnte.

Es fiel ihm immer leichter, sich ein Leben mit Audrey vorzustellen.

»Hey«, sagte Clarke und wartete, bis sie die Hände wieder vom Gesicht nahm. »Hast du das neulich abends beim Essen ernst gemeint? Dass du nie heiraten willst?«

»Ja«, antwortete sie automatisch. »Wenn die letzten anderthalb Jahre mir eines vor Augen geführt haben, dann, dass die Vorstellung eines Prince Charming und eines glücklichen Zusammenlebens bis ans Lebensende zwar verlockend, aber auch mit beträchtlichem Risiko verbunden ist. Wenn so etwas schiefgeht, dann geht es auch richtig schief. Die Erregung der Verliebtheit ist das Risiko nicht wert, hinterher auf der falschen Seite der Scheidungsstatistiken zu landen – oder noch schlimmer: ein gebrochenes Herz zu haben.«

Clarkes Hirn surrte vor Protest. Was wenn die Ehe eine erheblich stabilere Basis als romantische Liebe hat? Was, wenn sie auf lebenslanger Freundschaft basiert?

Clarke spürte, wie sich in seinem Innern eine Idee formte, eine der besten Ideen seines Lebens.

Er machte den Mund auf. »Audrey …«

»Da ist ja das glückliche Paar!«

Audrey und Clarke wandten sich dem Eingang zu, in dem ein großer, drahtiger Mann mit mintgrüner Krawatte aufgetaucht war. Er kam tänzelnd und mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

»Es tut mir ja so leid, dass Sie warten mussten«, rief er, schüttelte ihnen beiden die Hand und setzte sich neben sie an den Tisch. »Wir hatten eine Art Frosting-Notfall. Passiert nicht allzu häufig, aber wenn doch, dann heißt es ›Alle Mann an Deck!‹. Also«, fügte er hinzu und öffnete eine dicke Mappe. »Ich habe hier Ihr Profil vor mir, demzufolge Sie noch keine Geschmacksrichtungen eingegrenzt haben. Eine gute Nachricht für mich, das bedeutet nämlich, dass wir Ihnen heute Nachmittag von sämtlichen Kuchen eine Kostprobe vorsetzen werden …«

Aufgeregt beugte sich Audrey vor, während Clarke sich leicht zurücksinken ließ und den überschwänglichen Angestellten ausblendete, der über Ganache und Himbeer-Coulis vor sich hin schwadronierte.

Clarke hätte beim besten Willen nicht sagen können, ob er erleichtert oder enttäuscht war, dass der Mann ihn bei dem Antrag unterbrochen hatte, den er seiner besten Freundin hatte machen wollen.