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Samstag, 28. März

Wenn Audrey zum Lächeln überhaupt fähig gewesen wäre, hätte sie es getan. Allerdings wäre es in keinem Fall ein fröhliches Lächeln gewesen – die waren ihr gerade ausgegangen –, sondern ein Lächeln über die grausame Ironie des Schicksals.

Vor beinahe zwei Jahren war sie die Stufen zu einer Kirche emporgestiegen, um sich von einem Mann zu verabschieden, von dem sie geglaubt hatte, dass sie ihn liebte, und war stattdessen hier gelandet.

Heute war sie die Stufen zu einer Kirche hinaufgestiegen, um Ja zu dem Mann zu sagen, den sie tatsächlich liebte. Doch irgendwie war sie jetzt wieder auf einer Bank im Central Park gelandet. Der gleichen Parkbank.

Audrey blickte zum Himmel empor und wünschte, die Sonne möge die Kälte in ihrem Körper vertreiben. Aber ihr Hochzeitstag war bewölkt. Es gab keine Sonne, die den Schmerz lindern konnte.

Sie schaffte es einfach nicht. Sie hatte geglaubt, es hinkriegen zu können, und irgendwann inmitten der schlaflosen Nacht hatte sie sich sogar eingeredet, dass es durchaus vertretbar war, einen Mann aus Gründen zu heiraten, die nichts mit Liebe zu tun hatten. Sie hatte es sich eingeredet, während sie das Kleid angezogen hatte, während sie sie Highlighter und falsche Wimpern angelegt hatte, während sie dagesessen und zugesehen hatte, wie die Maniküre ihr den Tip an ihrem Zeigefingernagel befestigt hatte. Es würde genug sein. Und mit einem Mann verheiratet zu sein, den sie liebte, der ihre Liebe aber nicht erwiderte, war sogar mehr, als sie verdient hatte.

Aber als sie aus dieser Limo gestiegen war, hatte sie es erkannt. Sie konnte nicht heiraten.

Nicht, weil sie keine Ehe verdient hatte. Sondern, weil sie mehr verdient hatte, als diese Ehe ihr bot. Audrey hatte sich dermaßen auf den Schaden konzentriert, den sie Claires und Braydens Beziehung zugefügt hatte und – in geringerem Ausmaß – auch der zwischen Naomi und Brayden, dass ihr bis zum heutigen Tag nicht klar geworden war, dass es in den vergangenen beiden Jahren definitiv nicht um Brayden gegangen war.

Vielleicht war es ihre schwelende Wut und beinahe Hass auf Brayden gewesen, die Naomi, Claire und Audrey zusammengeführt hatte, aber es war etwas anderes, das sie zusammenhielt.

Das war Liebe. Liebe hielt sie zusammen. Nicht die Liebe zu Brayden, sondern zueinander. Drei Frauen, die wie Schwestern füreinander geworden waren.

Und obwohl Audrey die Liebe, die sie mit ihren Freundinnen verband, zu schätzen wusste, wünschte sie sich für ihre Zukunft wirkliche Liebe, die Liebe aus dem Märchen. Sie war es wert. Und sie würde darauf warten.

Audrey atmete aus und öffnete die Augen, betrachtete die zarten Frühlingsblüten, die Erde, die vom Regen der Nacht noch feucht war, sogar die unverhohlen neugierigen Blicke der Menschen, die sich fragten, warum eine Frau in einem üppigen weißen Hochzeitskleid allein auf einer Parkbank saß, ohne zu weinen. Dazu fühlte sich ihr Inneres zu taub an.

Sie wusste, dass Claire und Naomi sich denken konnten, wohin sie gegangen war und ihr irgendwann folgen würden, aber vorerst war sie froh, dass sie sie noch in Ruhe ließen, sodass sie in Ruhe nachdenken konnte. Beziehungsweise jeglichen Gedanken daran verdrängen konnte, was Clarke jetzt wohl von ihr hielt. Ob er Angst hatte, dass sein Vater sich aus dem Deal zurückzog oder ob er sich fragte …

Audrey hatte die Menschen, die so zu tun versuchten, als würden sie sie nicht anstarren, so gewissenhaft ignoriert, dass sie einen Augenblick brauchte, um zu bemerken, dass eine Person sich absolut keine Mühe gab, den Blick von ihr abzuwenden. Er sah sie direkt an und ging zielstrebig auf sie zu, bevor er hochaufgerichtet vor ihr stehenblieb. Sie bewegte sich nicht, nicht einmal, als er sich langsam auf die Bank neben sie setzte.

Audrey wandte den Kopf und sah ihrem besten Freund in die Augen. »Wo ist deine Fliege?«

Er stieß ein heiseres Lachen aus. »Hab ich verloren. Nur eine von vielen Dingen, die ich heute verloren habe.«

»Ach ja?«, fragte sie beiläufig, stolz darauf, wie cool ihre Stimme klang und dass sie nicht ein einziges Mal zitterte.

»Ja.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Lass mich raten. Du vermisst eine Braut?«

»Nein«, widersprach er und hielt ihren Blick fest. »Ich vermisse meine beste Freundin. Meine Seelenverwandte. Die Frau, die ich so unbedingt zu meiner Frau machen will.«

Bei diesen Worten zog sich ihr Herz verräterisch in ihrer Brust zusammen, denn ein Teil von ihr freute sich immer noch darüber, sie zu hören.

Sie wandte den Blick ab. »Klar. Damit du deine Firma bekommst?«

Clarke streckte die Hand aus und umfing sanft mit einem Finger ihr Kinn, drehte ihr Gesicht zu sich herum.

»Nein«, sagte er in zärtlichem Ton. »Weil ich sie liebe.«

Audrey atmete leise aus.

Nicht genug, erinnerte sie sich selbst. Clarke hatte sie immer mit der unwandelbaren, starken Liebe eines lebenslangen Freundes geliebt. Sie hatte nie daran gezweifelt, und das tat sie auch jetzt nicht. Aber sie wollte mehr. Sie wollte die wilde Liebe, die alles riskierte und einem den Atem raubte.

Sie wusste, wie sie für ihn empfand, und sie wusste, dass sie nichts weniger auch für sich verdient hatte.

»Ich habe gestern Abend auf der Party nach dir gesucht«, sagte sie leise. »Du hast dich mit deinem Dad unterhalten.«

Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, bat er sie mit seinem Blick stumm um Verständnis. »Ich weiß, was du gehört hast, Dree. Und ich werde nicht versuchen, dir weiszumachen, dass mein Vater mir die Firma nicht angeboten hat, wenn ich dich heirate. Ich werde nicht so tun, als seien meine Eltern nicht vollkommen gestört oder als hätte meine Mutter nicht stets noch ein Ass im Ärmel, aber das spielt im Augenblick keine Rolle. Wichtig ist nur eines: Diese verdammte Firma hatte nichts mit dem Antrag zu tun, den ich dir im Plaza gemacht habe. Und er hat nichts mit den Gründen zu tun, warum ich dir gerade jetzt schon wieder einen Antrag mache.«

Audrey öffnete erschrocken die Lippen, als Clarke sich langsam auf ein Knie niederließ und ihre Hände umfing.

»Heirate mich, Audrey. Heirate mich heute, heirate mich nächste Woche, in einem Jahr, in zehn Jahren. Es ist mir egal, versprich mir nur, dass du es irgendwann tust. Ich brauche dich, Dree. Ich brauche dich mit jeder Faser meines Seins. Ich brauche dich seit dem ersten Tag auf dem Schulhof. Ich weiß, du erzählst immer, dass ich dich vor einem Typen gerettet habe, der dir das Leben schwer machte, aber die Wahrheit ist, dass du mich an jedem verdammten Tag vor mir selbst rettest. Heirate mich, weil ich dich liebe, nicht so wie ein Junge ein Mädchen liebt, nicht wie ein Freund den anderen liebt, sondern so wie ein Mann eine Frau liebt. Für immer. Heirate mich, weil ich gerade gekündigt habe, und jetzt brauche ich eine wunderschöne Instagram-Influencerin, die einen arbeitslosen Nichtsnutz durchbringt …«

Das war eine gute Rede. Wie aus dem Märchen. Zu blöd, dass sie ihm das Wort mit einem märchenhaften Kuss abschneiden musste.

Clarkes Finger vergruben sich in ihrem Haar, kaum dass ihre Lippen die seinen berührten, und er küsste sie, wie er sie noch nie geküsst hatte. Sie erwiderte den Kuss, ließ nicht Stunden, nicht Tage, sondern Jahre der Liebe zu diesem Mann hineinfließen, der die ganze verdammte Zeit über ihr Märchenprinz gewesen war.

Als sie sich von ihm löste, stellte sie überrascht fest, dass ihre Wangen ganz feucht waren, und unwillkürlich lachte sie auf, als sie den Beweis abwischte, dass ihr Inneres absolut nicht vollkommen taub war.

»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie für den Fall, dass ihr Kuss noch einen Zweifel daran gelassen hatte.

Erleichtert stieß er den Atem aus.

»Heirate mich«, bat er und küsste sie wieder. »Heiratest du mich, Audrey?«

»Ja«, flüsterte sie an seinen Lippen. »Und wenn du nichts gegen eine tränenverschmierte Braut hast, habe ich da einen idealen Ort im Kopf, genau um die Ecke.«

Er schenkte ihr sein vertrautes Lächeln und stand auf. Sie nahm seine Hand, ließ sich von ihm aufhelfen. Es war ihr vollkommen gleichgültig, dass ihr Traumkleid zerknittert und fleckig war.

Es zählte nur noch eines: dass sie ihren Traummann gefunden hatte.