22
Kerstin

Endlich. Sie hatten einen Parkplatz gefunden. Kerstin schlängelte sich vom Rücksitz und rieb sich die Beine. Auf der Rückfahrt würde sie darauf bestehen, wieder vorne zu sitzen.

»Und jetzt?«, fragte Mel.

»Queen Kapiolani Beach, so wie Izzy angeordnet hat.« Sarah hob ihr Handy in die Höhe.

Kerstin unterdrückte ein Augenrollen. Manchmal ging ihr Sarah ganz schön auf den Wecker. Mel hatte recht, es war alles andere als eindeutig, wo sie jetzt hinsollten. Der Strandabschnitt war zwar richtig, aber wie sollten sie Izzys Freund Sam finden, der hier angeblich Stand-up-Paddeln unterrichtete?

Immerhin war es hier wieder viel schöner. Die Hochhäuser waren nur noch in der Ferne zu sehen und das Einzige, was hier noch vor ihnen aufragte, war der erloschene Vulkan.

»Toll, oder?« Mel stieß sie an. »Der Diamond Head. Ich habe in einem Reiseführer gelesen, dass die Menschen früher geglaubt haben, dass es in seinem Inneren Diamanten gibt.«

Vor ihnen erstreckte sich eine große Wiese mit vielen Bäumen; den Strand dahinter konnte man nur erahnen. Alles war wieder viel weitläufiger und nicht mehr so eng und bedrückend wie noch vor ein paar Minuten. Sie nahmen ihre Tüten mit der neu erstandenen Badebekleidung und liefen los.

»Ha!«, rief Mel plötzlich. »Hier bekomme ich auch mein Eis.« Sie deutete auf einen kleinen Stand, an dem ein junges Mädchen in Shorts und bauchfreiem Shirt seltsame bunte Gebilde verkaufte.

Jetzt erinnerte Kerstin sich wieder: Hawaii war berühmt für das sagenhafte Shave Ice. »Willst du das wirklich probieren?«

»Klar, warum denn nicht?« Mel schüttelte verständnislos den Kopf und machte sich auf den Weg zu dem Mädchen.

»Du auch?«, fragte Kerstin Sarah, die unschlüssig neben ihr stand.

»Ich steh nicht so auf Süßes.«

Kerstin gab sich einen Ruck. Sie sah, wie Mel mit dem Mädchen redete und wie glücklich sie aussah.

»Komm, wir versuchen es auch. Wir sind auf Hawaii, Shave Ice ist hier eine Spezialität.«

Sarah ließ sich von ihr mitziehen. Zehn Minuten später standen sie alle mit einem knallbunten Wassereis am Strand.

»Was für ein unglaubliches Geschäftsmodell«, sagte Sarah, während sie mit Todesverachtung ihr Eis schleckte. »Ein Block gefrorenes Wasser, ein bisschen bunter Sirup, und dafür verlangen sie dann sechs Dollar.«

»Aber es schmeckt«, sagte Mel trocken.

»Und es sieht gut aus«, ergänzte Kerstin. Allerdings musste sie Sarah recht geben, es war wirklich ziemlich teuer. Vielleicht sollte sie einen Eisstand in Waikiki aufmachen.

»Aloha, seid ihr die Freundinnen von Izzy?« Ein riesiger Kerl stand plötzlich vor ihnen.

»Ich bin Sam.«

Er trug schwarze Shorts und ein schwarzes Muskelshirt. Seine dunklen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, und seine gebräunte Haut war mit unzähligen Tätowierungen verziert.

Kerstin hätte sich am liebsten vor den Kopf geschlagen. Sie standen direkt vor einem Schild, auf dem »Sams School« stand. Zugegeben, es war klein und steckte neben einem Sonnenschirm, der die Farben ihres Eises abzubilden schien, aber trotzdem.

Unter dem Schirm stand ein roter Strandstuhl, daneben steckten ein paar Surfboards im Sand.

Mel fand als Erste ihre Stimme wieder. »Hallo, ich bin Mel«, sagte sie mit ihrem lustigen Englisch.

Er grinste sie an und zeigte dabei ein paar perlweiße Zähne. »Ich muss euch enttäuschen, Ladys. Izzy hatte mir aufgetragen, euch in die Geheimnisse des Stand-up-Paddelns einzuführen, aber das wird heute nichts.« Er legte seine Stirn in Falten. »Da draußen braut sich was zusammen.«

Erleichtert atmete Kerstin auf. Das Meer sah tatsächlich etwas rau aus, aber vielleicht hatte Sam auch nur keine Lust, drei etwas ungelenke Frauen im Wasser zu beaufsichtigen.

Sarah ließ sich in den Sand plumpsen, Mel folgte ihr. »Zumindest haben wir das berühmte Eis gegessen.«

Sam lachte schallend auf. »Das hätte auch Izzy sagen können. Wo ist sie eigentlich?«

»Leider noch in Los Angeles«, erwiderte Kerstin. »Aber sie kommt bald wieder.«

»Ihr müsst mich unbedingt zusammen besuchen.«

»Woher kennst du sie überhaupt?«, fragte Kerstin neugierig und setzte sich zu ihren Freundinnen.

»Ich habe für einen von Logans Filmen als Fachberater gearbeitet. Da habe ich dann auch Izzy kennengelernt.« Seine Miene hatte sich verdüstert. »Auf der Hochzeit von den beiden war ich auch.«

»Wie war sie denn?«, fragte Sarah.

»Unglaublich.« Sam schloss die Augen. »Ein Meer in Weiß. Sie haben bei sich zu Hause gefeiert, es waren nur sehr wenige Gäste geladen. Ich hatte das Gefühl, sie sind auf einer Welle von Aloha dahingesegelt. Scheiße.« Er begrub sein Gesicht mit den Händen. »Ich vermisse Logan so sehr.«

Sams Reaktion ließ Kerstin noch mal deutlich empfinden, was für einen schweren Verlust Izzy zu verkraften hatte. Verdammt noch mal, warum hatte sie sich nicht an ihre Freundinnen gewandt? Wieso mussten sie das alles erst jetzt herausfinden? Sie kapierte einfach nicht, was in Izzy vorging. Und es schmerzte. Hatte sie sie nicht gut genug dafür befunden, um ihren Schmerz zu teilen?

»Wollen wir zurückfahren?«, fragte sie etwas barsch und stand auf.

Sarah und Mel sahen sie verdutzt an. Aber entgegen ihrer Erwartung verabschiedeten sie sich ohne zu zögern von Sam und folgten ihr zum Wagen.

»Du bist pissed, oder?«, fragte Sarah.

»Ja, Scheiße. Jeder hier auf Oahu weiß mehr über Izzy als wir. Ich dachte, wir wären gute Freundinnen. Ich fühle mich verarscht. Geht euch das nicht auch so?« Ihr Ausbruch überraschte sie selbst, so heftig reagierte sie sonst selten. Vielleicht lag es daran, dass sie zurzeit so dünnhäutig war.

Mel und Sarah blieben stumm und sahen vor sich hin. War das das Problem?

»Verdammt, sagt doch auch mal was!« Kerstin wusste nicht, woher auf einmal die Wut kam, aber sie war da.

Mel setzte sich auf die kleine Mauer, die den Strand von der Straße trennte. »Du hast recht, Kerstin. Ich bin genauso frustriert wie du. Es tut weh zu hören, dass Izzy ihr Leben ohne uns gelebt hat.« Sie hob die Hand, um Kerstin zu stoppen. »Warte. Aber in Wahrheit sind wir doch auch nicht anders. Ich habe euch doch auch nicht mehr an meinen Sorgen teilnehmen lassen.«

Kerstin nickte, Mel hatte recht. Schließlich hatte sie den anderen ja auch nichts von Friedrich und ihrer ganzen Situation erzählt. Sie sah zu Sarah hin. Die war inzwischen ein paar Schritte weitergegangen und betrachtete fasziniert eine kleine Statue. »Dich interessiert das alles nicht, oder?«, fragte sie ihre Freundin in leicht vorwurfsvollem Ton.

»Doch, schon. Aber ich kann Izzy verstehen. Wir waren in den letzten Jahren ja alle sehr mit uns selbst beschäftigt. Vielleicht fiel es ihr auch schwer, uns zu erzählen, dass sie eine Frau liebt.«

»Aber das ist ja nun wirklich egal«, sagte Mel und stand wieder auf. »Spießig waren wir doch noch nie. Was ist das?«, fragte sie und deutete auf den Mann in Bronze.

»Das ist der Duke. Ein Surflehrer, der am Waikiki Beach früher das gemacht hat, was Sam heute macht. Er war berühmt, als Surfer und als Schwimmer.« Sarah sah ihn sehnsüchtig an.

»Er sieht glücklich aus, wie er da so auf seiner Welle surft.« Auch Kerstin war näher an die kleine Statue herangetreten. »Entschuldigt bitte meinen Ausbruch. Ich war plötzlich so verletzt.«

Sarah und Mel legten ihr jede einen Arm um die Schulter.

»Wollen wir fahren?« Mel hielt den Autoschlüssel hoch.

»Aber nur, wenn ich vorne sitzen darf«, sagte Kerstin.