»Ich muss ein Foto machen.« Mel sprang auf und verschwand im Haus.
Kerstin blickte Sarah fragend an.
»Will Mel jetzt ernsthaft den Sonnenuntergang fotografieren?« Sarah nippte an ihrem Drink. »So was kann man doch nicht einfangen.«
Kerstin blickte auf das violett schimmernde Meer. Der Himmel leuchtete purpurrot und die zerfranste Wolkenschicht erstrahlte in allen Nuancen von Rosa, die man sich nur vorstellen konnte. Ihr kam es auch etwas seltsam vor, dass Mel das jetzt wie eine Touristin knipsen wollte.
Doch ihre Freundin hatte anderes im Sinn. Sie legte ihren Fotoapparat auf das neue Geländer, richtete das Objektiv auf die Reihe der Sessel und fummelte an den Einstellungen. Dann sauste sie wie der Blitz auf ihren Platz.
»Los, jetzt alle in die Kamera lächeln.«
Perplex tat Kerstin, wie ihr geheißen. Das Klicken war kaum zu hören. Mit einem Seitenblick sah sie, dass auch Sarah brav Richtung Kamera schaute.
»Ist das deine Art, Selfies zu machen?«
Mel sprang wieder auf und betrachtete das Display. Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Wir sehen so lustig aus.«
Sie reichte den Fotoapparat an die Freundinnen weiter und beide brachen unmittelbar in Gelächter aus. Das Foto war einfach zum Schießen. Wie sie da in einer Reihe vor dem Geländer saßen – alle drei mit ziemlich dämlichem Gesichtsausdruck –, sahen sie eher wie ein paar alte, schrullige Ladys vor ihrem Altersruhesitz aus als wie drei Frauen in ihren besten Jahren.
Mel nahm ihr die Kamera aus der Hand. »Das müssen wir unbedingt wiederholen.«
»Aber lösch das andere Bild auf keinen Fall«, bat Kerstin.
Diesmal lachten sie um die Wette in die Linse.
»Stell die beiden Bilder doch in unseren Chat«, schlug Sarah vor. »Wenn wir schlecht drauf sind, dann können wir sie uns anschauen. Außerdem wird Izzy sich sicher darüber freuen. Apropos, sie hat sich noch gar nicht wieder gemeldet.«
»Wahrscheinlich jagt ein Termin den nächsten«, mutmaßte Mel.
»Nachdem du vorhin beschlossen hast, dass wir eine Party geben, habe ich eben übrigens mit Mary telefoniert.«
»Seid ihr immer noch sauer?«
»Nein, aber du hättest vielleicht erst mal mit uns reden sollen«, sagte Sarah.
»Es war eine spontane Idee.« Mel klang so kleinlaut, dass sie Kerstin fast schon wieder leidtat.
»Mary und ihre Familie haben angeboten, uns zu unterstützen. Mary findet die Idee mit der Party nämlich auch klasse. Keanu und Mike kommen schon am Nachmittag, bauen Grills auf und helfen uns, den Garten ein bisschen zu schmücken. Die Nachbarn sind dann so gegen sieben geladen. Mary kümmert sich um die Einladungen. Zum Sonnenuntergang gibt es Cocktails …«
»Wie immer«, unterbrach Sarah sie und hielt ihr Glas in die Luft. Sie stießen an, bevor Kerstin fortfuhr.
»Für Essen und Trinken ist auch gesorgt, das organisiert alles Mary.«
»Wahnsinn, wenn wir sie nicht hätten!« Mel trank einen Schluck von ihrem Cocktail und fuhr sich durch die blonden Locken.
»Die Sonne ist weg. Stuhlkreis? Ich hole noch schnell etwas zu trinken.« Sarah stand auf und ging ins Haus. Kerstin folgte ihr.
»Ich komme mir total doof vor, übermorgen mit leeren Händen vor Izzy zu stehen.«
Sarah nahm den Krug mit der Limonade aus dem Kühlschrank und roch daran. »Wir haben uns doch noch nie etwas geschenkt. Das neue Verandageländer ist unser Geschenk.«
Mel hatte die Stühle wieder um den Tisch herum gruppiert.
Einen Moment blieb Kerstins Blick an dem Silberstreif auf dem Meer hängen. Der Mond war fast voll und schickte einen dramatischen Lichtschein an den Horizont, bevor er wieder hinter den Wolken verschwand.
Auf dem Tisch standen zwei Windlichter und beleuchteten sanft die Gesichter der Freundinnen. Der Wind hatte gedreht, und Kerstin spürte den leichten Hauch, der über ihre nackten Arme strich. Sie setzte sich zu den anderen und nippte an ihrem Drink.
Es war ein nahezu perfekter Abend. Kerstin unterdrückte ihren verbliebenen Ärger über Sarahs Verhalten und auch Mel schien das für den Moment ausblenden zu können. Ihre Gespräche bewegten sich fließend von einem Thema zum nächsten, und ihr Gelächter hallte durch den dunklen Garten bis an den Strand. Auf eine unerklärliche Weise spürte Kerstin, dass diese Leichtigkeit nicht von Dauer sein würde. Zu gerne hätte sie auf eine Pausentaste gedrückt, um diesen Moment anzuhalten. Einzig Izzy fehlte, um das Ganze perfekt zu machen.
»Seit sehr langer Zeit fühle ich mich endlich mal wieder richtig gut«, sagte Sarah und lehnte sich zurück. »Denn ich muss euch was gestehen: Ich hasse London. Ich habe keine Freunde, mein Job ist scheiße und ich wohne in einem Loch, das den Namen Appartement nicht verdient.«
Kerstin horchte erstaunt auf. Sarah hatte immer nur positiv von London berichtet. Auf ihrem Facebook-Profil postete sie regelmäßig stylische Fotos von der englischen Metropole und in ihrem Chat hatte sie sich zwar über die Größe ihrer Wohnung beschwert, aber Kerstin hätte nie gedacht, dass sie ein so trostloses Leben führte.
»Aber du musst doch Freunde haben, schließlich hast du dort studiert. Und es war immer deine Traumstadt.« Mel klang genauso fassungslos wie Kerstin.
»Meine Studienkollegen sind inzwischen fast alle weggezogen, und die Leute in meinem Job stecken in dem gleichen Hamsterrad wie ich. Außerdem ist da noch etwas: Ich bin gar keine Anwältin, ich habe nie fertig studiert. Ich arbeite als unterbezahlte Schreibkraft in der Kanzlei. Im Grunde habe ich außer meinem Vater nur euch.«
Einen Augenblick sahen sich Mel und Kerstin fassungslos an. Arme Sarah, dachte Kerstin. Wobei – bei Licht betrachtet, ging es ihr eigentlich nicht viel besser. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie bis auf ihr Kleeblatt auch keine Freundinnen. Gut, es gab ein paar Kolleginnen, mit denen sie auch mal abends weggegangen war, aber durch ihr Verhältnis mit Friedrich hatte sie sich immer sehr bedeckt halten müssen.
»Wir haben uns.«
Mel hatte das so leise gesagt, dass Kerstin es noch mal bekräftigen musste. »Ja, wir haben uns und wir werden immer füreinander da sein.«
»Nur das eine Mal, als ich euch so sehr gebraucht habe, da seid ihr nicht für mich da gewesen.« Sarah stürzte ihren Drink herunter und stand auf.
»Nein!« Mels Stimme war schneidend. »Renn jetzt nicht wieder weg. Das hast du damals auch gemacht.«
»Ich kann nicht«, flüsterte Sarah. Tränen liefen ihr über das Gesicht.
»Wieso können wir nicht endlich einmal über diesen unsäglichen Abend sprechen?«, fragte Mel.
Sarah hatte sich noch immer nicht vom Fleck gerührt. Mit hängenden Schultern und tränenüberströmtem Gesicht stand sie in genau der Position, in der Mel sie aufgehalten hatte.
Mel stand nun ebenfalls auf und schob Sarah sanft in ihren Sessel zurück.
»Ich … ihr wart …« Sie schluchzte und schluchzte. Irgendwann beruhigte sie sich ein wenig, hob den Blick und sah Mel und Kerstin lange in die Augen. »Paul Umbach hat mit mir geschlafen, aber ich wollte es nicht. Er hat … er hat mich …«
In Kerstin zog sich alles zusammen. Damals, in der Jugendherberge in Paris, hatte Sarah mitten in der Nacht plötzlich in der Tür ihres Viererzimmers gestanden. Klar, sie war etwas seltsam gewesen, aber Kerstin hatte es auf den Alkohol geschoben.
»Hat er dich vergewaltigt?«, fragte sie fassungslos.
Sarah wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich weiß es nicht. Ich wollte es nicht, und das habe ich ihm auch gesagt, aber er hat es trotzdem gemacht.«
Mel reichte ihr ein Taschentuch und sie putzte sich lautstark die Nase.
»Mein Gott! Warum hast du uns das nicht erzählt?«, fragte Kerstin. »All die Jahre … wir hatten doch keine Ahnung.«
»Ich habe gedacht, ich sei selbst schuld. Schließlich hatte ich an dem Abend mit ihm geflirtet …«
»Und das hast du die ganze Zeit für dich behalten?« Kerstin war platt. Ihre arme Freundin, sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich das für Sarah gewesen sein musste.
»Wisst ihr, ich dachte, ihr hättet es mitbekommen, oder irgendwie gespürt. Ich weiß auch nicht, warum.« Sarahs Schultern zuckten, so als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde, aber sie riss sich zusammen. »Euer Verhalten hat mich damals sehr verletzt. Ich habe nicht verstanden, warum ihr nicht gemerkt habt, was mit mir los war. Keine Ahnung, wieso ich mir so sicher war, dass ihr Bescheid wüsstet.«
»Wir waren dumme junge Dinger«, murmelte Mel.
»Bist du deshalb nach London gegangen?«
Sarah nickte. »Ich hatte die Hoffnung, dort neu anfangen zu können. Leider habe ich diese Sache nie vergessen können. Und ich habe euch so vermisst.« Wieder liefen ihr Tränen über die Wangen.
Kerstin brach es das Herz. Was für eine schreckliche Freundin war sie gewesen! Damals, an diesem Abend, hatte sie Sarah im Stillen verurteilt. Sie hatte es furchtbar gefunden, wie sich Sarah bei Herrn Umbach angebiedert hatte. Aber als ihre Freundin dann mitten in der Nacht zurück ins Zimmer gekommen war, da hatte sie den Schmerz in ihrem Blick nicht wahrgenommen. Oder hatte sie ihn nicht wahrnehmen wollen, weil das alles viel zu kompliziert gewesen wäre?
»Ich bin in London in Behandlung gewesen, aber viel hat das auch nicht geholfen. Meine Beziehung zu Männern ist seitdem ziemlich seltsam.«
Kerstin nahm Sarah in den Arm. »O Gott, wir waren pubertäre Idioten! Es tut mir unendlich leid, dass wir nicht für dich da waren!«
Auch ihr liefen jetzt Tränen über die Wangen. »Unglaublich, oder? Das war derselbe Abend, an dem wir uns geschworen haben, Izzys vierzigsten Geburtstag zusammen zu verbringen. Sarah, ich hasse mich so, dass ich damals nicht auf dich eingegangen bin. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
Kerstin spürte die Schuld, die auf ihnen allen lastete. Schon an diesem Abend hatten sie gespürt, dass etwas nicht stimmte, aber keine von ihnen hatte nachgehakt.
»Bin ich selbst schuld daran?«
Ehe Kerstin das vehement verneinen konnte, sprach Sarah weiter.
»Ich fühlte mich so geschmeichelt, dass er mich attraktiv fand. Aber als er mir dann an die Wäsche ging, da habe ich Nein gesagt. Er hat das einfach ignoriert. Es war schrecklich.« Sarah brach zum dritten Mal in Tränen aus.
Kerstin und Mel saßen geschockt da. Es gab keinen Trost. Warum waren sie so unsensibel gewesen? Vielleicht, weil jede von ihnen viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war, um ihren eigenen Weg ins Leben zu finden?