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Mel

Der Wecker klingelte. Mel schreckte hoch und blinzelte in die Dunkelheit. Kurz musste sie sich orientieren, aber die Erinnerung kam schnell zurück. Oahu und ihr Vorhaben, die verbotenen Stairways to Heaven zu erklimmen. Sie aktivierte ihr Telefon. Zwei Uhr. Ob Sarah und Kerstin von allein aufstehen würden? Auf Zehenspitzen schlich sie ins Bad und versuchte, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Warum eigentlich, fragte sie sich plötzlich. Sie sollte lauthals singen, um die Freundinnen zu wecken. In Sarahs Zimmer klingelte ein Wecker, bei Kerstin rührte sich noch nichts.

Sie duschte kurz, putzte sich die Zähne, zog sich an und ging nach unten.

Ganz automatisch machte sie Kaffee und begann Eier in einer Schüssel zu verquirlen.

Sven hasste Eier zum Frühstück. Jahrelang hatte sie das nur für die Gäste gemacht, aber bei ihren Freundinnen – das wusste sie – kam Rührei gut an.

»Ich liebe dich«, rief Kerstin, als sie die Treppen herunterkam. Sie trug eine weite Jeans und ein Sweatshirt. Ein völlig untypisches Outfit für sie.

Auch Sarah strahlte sie an, als sie in die offene Küche trat. »Großartig. Genau das Richtige für unsere Tour.« Ihre Shorts waren etwas länger als die knappen Dinger, die sie sonst trug. Das schwarze Tanktop war eng und stand im Kontrast zu Kerstins warmer Kleidung.

Mel selbst trug Shorts, die fast bis zum Knie reichten, und ein weites T-Shirt. Das letzte Mal Klettern war Jahrzehnte her. Ihr trat schon der Schweiß auf die Stirn, wenn sie nur daran dachte, was ihnen bevorstand.

Schweigend aßen sie ihr Frühstück und tranken Kaffee.

»Okay, lasst uns gehen.« Kerstin stand auf, steckte mehrere Wasserflaschen in ihren Rucksack und ging nach draußen.

»Reicht das für uns alle oder soll ich auch noch Wasser mitnehmen?«, fragte Sarah.

»Hier«, Mel reichte ihr ein paar Sandwiches und etwas Obst. »Nimm du das und ich packe noch Wasser ein. Hast du die Sonnencreme und einen Hut?« Sie kam sich ein bisschen so vor, als würde sie mit ihren Kindern einen Ausflug machen.

Sarah nickte leicht genervt und steckte die Sachen in ihren Rucksack.

»Wer will fahren?«, fragte Mel, als sie vor dem Mini standen.

»Du natürlich«, entgegnete Sarah. »Ich fahre nur, wenn du out of order bist.«

Lachend stiegen sie ein, aber wirklich fröhlich klang es nicht. Kerstin kroch nach hinten und Sarah setzte sich auf den Beifahrersitz. Die übliche Besetzung für den Mini.

»Okay«, Sarah starrte auf ihr Handy. »Ich lotse dich zu dem Platz, von dem aus wir relativ unproblematisch auf die Treppen kommen.«

»Aber das ist nicht der normale Weg?« Kerstin steckte ihren Kopf zwischen die Vordersitze.

»Da kann man nicht mehr durch«, sagte Sarah mit leichtem Bedauern in der Stimme. »Die Leute, die dort Grundstücke haben, sind total entnervt. Was ich auch verstehen kann. Früher sind Horden von Menschen durch ihre privaten Gärten gezogen.«

»Und wie machen wir es jetzt stattdessen?«, fragte Kerstin erstaunt.

»Ich habe einen Weg gefunden, wo wir erst viel später auf den Trail stoßen.«

Mel blickte kurz zu Sarah hinüber. Ihre Freundin wirkte so klar und entschlossen.

»Habt ihr den Umschlag?«, fragte sie, bevor sie den Wagen anließ.

»Natürlich«, erwiderte Kerstin.

Schweigend fuhren sie durch die Nacht. Mel kam es so vor, als wären sie die einzigen Menschen, die unterwegs waren. Nach einer Stunde Fahrt erreichten sie eine schmale Straße, der sie bis zu einer Kehre folgten.

»Hier müssen wir parken«, sagte Sarah und befragte wieder ihr Handy. Der bläuliche Schein des Bildschirms gab ihrem Gesicht etwas Unwirkliches.

Mel stellte den Wagen am Rand ab, und sie stiegen aus.

»Und jetzt?«, fragte Mel. Sie fing an zu zweifeln, ob dieser Ausflug wirklich eine so gute Idee war. Es war stockdunkel, man konnte fast nichts erkennen. Unheimliche Geräusche um sie herum machten ihr Angst. »Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?«, wisperte sie.

»Ja. Ihr könnt mir vertrauen.« Auch Sarah flüsterte, warum auch immer.

Kerstin schnallte sich ihren Rucksack um. »Gut, dann lasst uns aufbrechen.«

»Hier entlang.« Sarah deutete rechts von sich in die Dunkelheit.

Eine halbe Stunde lang stolperten sie durch einen Bambuswald mit sehr rutschigem Untergrund. Ab und an tauchten wie aus dem Nichts feuchte Blätter auf und strichen ihnen übers Gesicht. Sie erschreckten sich jedes Mal fast zu Tode. Gott sei Dank gab es auf den hawaiianischen Inseln keine Schlangen oder andere giftige Tiere. Zumindest darüber mussten sie sich keine Gedanken machen. Die Steigung machte Mel jetzt schon zu schaffen. Es war stickig, und sie spürte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren trat. Ein bisschen kam sie sich vor, als ob sie plötzlich die Protagonistin in einem seltsamen Film war. Was hatte sie hier verloren? Ihr Herz hämmerte bis zum Hals. Ihre letzte Nachtwanderung hatte sie in der Schulzeit gemacht. Einzig die Anwesenheit ihrer Freundinnen beruhigte sie ein wenig.

Plötzlich blieb Sarah stehen. »Wartet«, flüsterte sie. »Dort vorne ist irgendwo der Wachposten.«

»Woher weißt du das?«, fragte Kerstin kaum hörbar.

»Und was sollen wir machen?« Mel stellte sich einen riesigen Kerl mit einem Gewehr vor, der sie von ihrem Auftrag abhalten wollte.

»Wir können versuchen, uns an ihm vorbeizuschleichen, oder wir bequatschen ihn.«

»Bist du sicher, dass er überhaupt da ist?« Kerstin klang skeptisch. »Um diese Zeit?«

Sarah schlich geduckt etwas weiter. Schon nach ein paar Metern konnte Mel sie nicht mehr sehen.

»Seit wann ist Sarah zu einer Geheimagentin mutiert?«

Kerstin kicherte. »Lass sie doch.«

Nach ein paar Minuten hörten sie ein Knacken und Rascheln. So viel zur Megaspionin.

»Alles klar, der Weg ist frei.« Sarah klang euphorisch. »Da hinten ist der Einstieg zu den Treppen.«

Wieder folgten sie ihr, erst Kerstin, dann Mel. Plötzlich versperrte ein riesiger Zaun ihnen den Weg. Schilder warnten, dass es verboten sei, den Weg zu beschreiten.

Kerstin ließ ihre Taschenlampe etwas herumwandern. Da war ein ganzer Wald von Schildern zu erkennen. »Klingt so, als sei es nicht besonders empfehlenswert, hier weiterzugehen. Guckt mal, es kostet 1200 Dollar, wenn wir erwischt werden.«

Mel schluckte. Natürlich wusste sie, dass die Treppen gesperrt waren. Man hatte sie geschlossen, weil sie einfach in einem zu schlechten Zustand waren. Es hatte unzählige Vorfälle hier gegeben, das hatte sie gehört, aber so schwierig hatte sie es sich dann doch nicht vorgestellt. Was hatte Izzy sich nur dabei gedacht? Und was zum Teufel steckte in diesem Umschlag?

»Kommt«, forderte Sarah sie auf.

Lange schlichen sie am Zaun entlang und suchten nach einer Lücke. Da, endlich fanden sie eine. Die erste Treppe ragte vor ihnen auf. 3922 Stufen würden sie hochsteigen müssen. Das war selbst für sportlichere Menschen, als sie drei es waren, kein Pappenstiel.

Mel schloss einen Moment die Augen und sah das schmale Gesicht ihrer Freundin vor sich. Ihre Worte hatten sie alle drei sehr berührt. »Ich habe noch eine letzte Bitte an euch. Bringt diesen Umschlag die Stairways to Heaven hinauf. Ich wollte diese Wanderung eigentlich immer mit Logan machen, aber es hat, wie so vieles andere, nicht sollen sein. Wenn ihr den Gipfel nicht erreicht, dann ist das auch okay. Passt auf euch auf. Ich liebe euch.«

»Träumst du?« Kerstin stupste sie an. »Wir müssen uns ranhalten, sonst ist uns Sarah in Nullkommanix davongelaufen.«

Verwirrt folgte Mel Kerstins Blick. Tatsächlich hatte Sarah schon die ersten Stufen erklommen, ohne sich auch nur einmal umzusehen.