Mel erwachte durch das Klappern der Fensterläden. Also doch, war das Erste, was sie dachte. Gestern Abend hatte niemand so richtig an die Sturmwarnung glauben können. Kerstin hatte auf ihrem iPad eine Wetter-App installiert, die einen heftigen Sturm für heute vorausgesagt hatte. Sie hatte ihnen zwar versichert, dass die App ziemlich verlässlich war, aber angesichts des lauen Abends und der sternklaren Nacht war es ihnen allen schwergefallen, dem Ganzen Glauben zu schenken.
Mel stieg aus dem Bett und sah hinaus. Schwarze Wolken zogen vom Meer übers Land und die Palmen vor dem Fenster bogen sich leicht im Wind. Sie öffnete das Fenster und hakte den klappernden Fensterladen wieder ein. Seltsamerweise war es immer noch warm, der Wind hatte etwas von einem Föhn, den man nur auf Stufe eins gestellt hatte. Ganz anders als zu Hause, ging ihr durch den Kopf. Wenn es an der Ostsee stürmte, dann fielen auch gleich immer die Temperaturen um mehrere Grad. Apropos zu Hause: Überrascht stellte sie fest, dass sie seit ihrem Telefongespräch mit Sven keinen einzigen Gedanken mehr an ihn verschwendet hatte.
Nach einem kleinen gemeinsamen Frühstück beratschlagten die Freundinnen, was nun zu tun war.
»Wir müssen das Haus sturmfest machen. Wie es aussieht, kommt das eigentliche Unwetter erst heute Abend. Morgen früh soll dann, laut Wetterbericht, schon alles wieder vorbei sein«, sagte Kerstin.
Ihre Telefone piepsten mal wieder zur gleichen Zeit.
44ever
Izzy
Ich habe gerade gesehen, dass ein Sturm auf den Norden von Oahu zukommt. Entweder ihr nehmt euch eine Auszeit und übernachtet in Honolulu, oder ihr bleibt da. Dann müsst ihr allerdings einiges tun, um das Haus und euch zu sichern.
Mel
Quatsch, wir bleiben hier. So schlimm wird es schon nicht werden.
Sie hielt den anderen die Nachricht hin und schickte sie erst nach einem zustimmenden Kopfnicken von Kerstin und Sarah ab.
»Hoffentlich gibt es keine Sturmflut.« Mel erinnerte sich an das schreckliche Unwetter vor ein paar Jahren, als die liebliche Ostsee zu einem grauen, brüllenden Ungeheuer mutiert war. Das Wasser hatte den kompletten Strand gefressen und war an einigen Stellen sogar über die Düne bis zu den Ferienhäusern gekommen.
Sarah machte ein sorgenvolles Gesicht, während sich Kerstin die Anweisungen von Izzy durchlas, die im Minutentakt im Chat eintrafen.
»Puh, da haben wir ja ganz schön viel zu tun«, war ihr einziger Kommentar.
Die nächsten Stunden verbrachten die drei damit, Gartenmöbel und kleinere Blumentöpfe in den Stauraum unter der Villa zu bringen. Mel sicherte alle Fenster, entweder mit den Läden oder mit dafür bereitliegenden Spanplatten, die auf die Größe der Rahmen zugeschnitten waren. Kerstin und Sarah wuchteten die größeren Blumenkübel auf die vom Meer und Wind abgewandte Seite des Hauses. Außerdem banden sie die größeren Pflanzen an der Veranda fest, während Mel ihre Freundinnen immer wieder ermahnte, den Palmen nicht zu nahe zu kommen.
»Seht ihr die Kokosnüsse? Wenn die herabfallen, dann …«
Mel versuchte, einige Platten für die Verandatür und die danebenliegenden Fenster aus dem Stauraum zu heben.
»Warte, ich helfe dir.« Sarah kam herbeigeeilt. Mit hochrotem Kopf und vereinten Kräften schafften sie es, die schweren Spanplatten auf die Veranda zu tragen. Sarah hielt sie fest, während Mel sie mit einem Hammer und Nägeln befestigte.
»Meinst du nicht, dass das alles ein wenig übertrieben ist?«, fragte sie.
Mel zuckte zusammen, weil sie mit dem Hammer leider nicht den Nagel, sondern ihren Daumen getroffen hatte. »Wenn ich an unseren letzten Herbststurm denke, dann nein. Bei uns sind mehrere Fenster kaputtgegangen, weil ich vergessen hatte, an einem Ferienhaus die Fensterläden zu schließen.«
»Aber wir sitzen doch nachher komplett im Dunkeln.«
»Besonders hell ist es jetzt ja auch nicht.«
In diesem Augenblick spürte Mel die ersten dicken Tropfen auf der Haut. »Wir sollten uns beeilen, ich glaube, es geht langsam los.«
Als sie endlich alle Fenster der Veranda gesichert hatten, goss es bereits in Strömen. Der Wind hatte einen Gang höher geschaltet und der Regen peitschte ihnen ins Gesicht.
»Komm, lass uns reingehen«, rief Mel gegen den Wind und das Brausen des Meeres an. Sie packte Sarah an der Hand und zog sie um die Villa herum zur Eingangstür.
Kerstin stand in der Diele und trocknete sich mit einem Handtuch ab. Sarah schüttelte wie ein junger Hund ihre langen braunen Haare.
»Hey, pass doch auf, du machst alles nass.« Kerstin warf ihr ein Handtuch zu, das sie elegant auffing.
»Ich geh kurz nach oben und ziehe mir trockene Sachen an.« Mel lief die Treppe hoch. Nachdem sie die nassen Sachen abgestreift hatte, entschied sie sich für ihre neue Hose, die sie mit der Tunika von Kerstin kombinierte. Zufrieden betrachtete sie sich im Spiegel. Es hatte gutgetan, etwas Handfestes zu machen. Ihre Wangen glühten und sie fühlte sich zufrieden.
Sarah und Kerstin hatten es sich im Wohnraum gemütlich gemacht. Mel setzte sich neben Kerstin, die mit angezogenen Beinen auf dem Sofa hockte.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Sarah in die Runde.
Kerstin sah auf ihr Handy. »Zeit für etwas zu essen, würde ich sagen. Worauf haben die Damen denn Appetit?«
Das vertraute Pling unterbrach sie.
44ever
Izzy
Geht es euch gut?
Mel
Das Haus ist sturmfest. Wir machen uns jetzt was zu essen.
Izzy
Im Gefrierfach ist noch ein Gumbo. Lasst es euch schmecken.
Kerstin
Ich wusste gar nicht, dass du kreolische Spezialitäten kochst.
Izzy
Logan hat eine Zeit lang in New Orleans gelebt. Das war ihr Lieblingsgericht.
Der Fischeintopf schmeckte allen hervorragend. Dazu gab es aufgebackenes Baguette und Kerstin hatte noch einen bunten Salat mit einem raffinierten Dressing gezaubert.
»Schade, dass Izzy jetzt nicht hier ist«, meinte Mel.
Die anderen nickten.
»Manchmal bin ich richtig sauer, dass sie noch in Kalifornien ihren Geschäften nachgeht.« Sarah schob sich einen weiteren Löffel Gumbo in den Mund.
»Hör auf«, sagte Kerstin unwirsch. »Wir haben doch schon darüber gesprochen, dass es nun mal ihr Job ist. Reichst du mir bitte noch etwas Brot?«
Der Sturm war heftiger geworden. Der Wind und der Regen peitschten und heulten um die Wette, überall in der Villa klapperte und ratterte es. Beängstigenderweise mischte sich in diese beunruhigenden Klänge auch noch das tiefe Grollen des Meeres. Und hinaussehen konnte man auch nicht, da alle Fenster verbarrikadiert waren.
Kerstin hatte während des Essens etwas über die Cajun-Küche gefachsimpelt, während Sarah immer wieder ängstliche Blicke Richtung Fenster geworfen hatte. Sie tat Mel leid.
Gemeinsam räumten sie den Tisch ab. »Das war wirklich gut«, sagte Kerstin und stellte die Teller in die Spülmaschine.
Mel schmunzelte. Ihre Freundin klang so ungläubig. »Das hättest du Izzy nicht zugetraut, stimmt’s?«
»Du etwa?«
Mel schüttelte den Kopf. Nein, sie konnte sich Izzy in der Tat nicht in der Küche vorstellen, was aber auch daran lag, dass sie sie seit einer Ewigkeit nicht mehr persönlich gesehen hatte.
»Was ist eigentlich mit unserer Cocktailstunde?«, fragte Sarah.
»Kein Sonnenuntergang, keine Drinks.« Kerstin verzog das Gesicht.
Auf einen Schlag wurde es stockdunkel. Alle Lichter verloschen, und selbst der ewig brummende Kühlschrank gab keinen Ton mehr von sich.
»So ein Mist«, murmelte Mel. »Vorhin wollte ich noch Kerzen und Streichhölzer heraussuchen.«
»Ich finde, das ist ein Zeichen. Unser heutiger Sonnenuntergang hat gerade stattgefunden, also gibt es jetzt auch Drinks.«
Manchmal war Sarah wirklich witzig. Aber sie hatte recht – man musste in jeder Situation einfach das Gute sehen.