Mike stand vor ihr. »Guten Morgen! Ich möchte euch von den Grills erlösen. Eigentlich hatte ich das schon gestern vor, aber ich wollte euch an Izzys Geburtstag nicht stören.«
»Danke, das ist nett«, antwortete Sarah wie ein Sprachcomputer.
»Alles in Ordnung?« Mike sah sie mit seinen warmen Augen an, aber er drang nicht zu ihr durch.
»Ja, danke«, erwiderte sie, drehte sich um und ging in die Villa zurück.
Gestern hatte sie der aufregende Sprung abgelenkt, aber heute konnte sie wieder an nichts anderes denken als an Izzys Krankheit. Izzy würde sterben und zwar sehr bald. Daneben war nichts anderes mehr wichtig.
»Hey, wenn du mich brauchst, dann melde dich. Ich bin für dich da«, rief Mike ihr hinterher.
Mit einem fast unmerklichen Nicken schloss sie die Tür und ging in die Küche. Mel stand vor dem Kühlschrank, aber auch sie wirkte ziemlich orientierungslos.
»Hallo.«
Ihre Freundin drehte sich um, sie hatte Tränen in den Augen. »Ich fühle mich so beschissen, weil ich nicht weiß, wie wir ihr helfen können.« Mel wischte sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich bin so unfassbar hilflos!«
»Ihr könnt mir noch ein paar Wünsche erfüllen«, kam es von der Treppe.
Izzy trat in die Küche, gekleidet in einen Morgenmantel. Heute hatte sie eine blonde Kurzhaarperücke auf dem Kopf. Hinter ihr kam Kerstin dazu.
»Wie meinst du das?«, fragte Mel leise.
»Ich möchte übermorgen einen kleinen Ausflug mit euch machen.«
»Glaubst du, das ist gut in deinem …« Sarah stoppte sich. Wie grässlich hörte sich das denn an?
»Wenn nicht jetzt, wann dann?«, erwiderte Izzy trocken.
»Kaffee?«
»Sehr gern.«
Nachdem die Tassen verteilt waren, ergriff Izzy wieder das Wort. »Ich brauche jetzt ein paar Stunden für mich und wäre euch dankbar, wenn ihr euch allein beschäftigen könntet. Für die nächsten Tage habe ich große Pläne. Wenn ihr einverstanden seid, würde ich gern eine Art Ausflug mit euch machen. Ich will endlich die Dinge tun, die mir Spaß machen oder von denen ich denke, dass sie es könnten. Wie zum Beispiel mit euch beim Sonnenuntergang zusammenzusitzen.«
»Gut. Wir haben ein Date. Heute Abend um fünf«, sagte Mel.
Izzy nahm ihre Tasse und verschwand nach oben.
Die anderen drei sahen ihr schweigend hinterher und standen dann einen Augenblick lang ratlos herum. Sarah spürte genau, dass ihre Freundinnen auch nicht mit der Situation umgehen konnten. Aber niemand machte den Anfang, darüber zu sprechen. Vielleicht brauchte jede erst mal etwas Zeit für sich? Ja, sie würde sich, genauso wie Izzy, diese Zeit nehmen.
»Ich gehe an den Strand«, verkündete sie, stellte ihre Tasse ab und verließ die Küche.
Es entsetzte sie, dass sie noch nicht mal mit Mel und Kerstin reden konnte. Wie schrecklich mussten all diese fehlgeschlagenen Therapien gewesen sein? Wie fühlte sich diese Ausweglosigkeit an? Und warum war diese Frau immer noch so positiv? Mein Gott, wenn sie daran dachte, über welchen Scheiß sie sich in den letzten Tagen gestritten hatten … Selbst das Trauma wegen Herrn Umbach war so nichtig angesichts von Izzys Tod.
Kaum war sie am Strand angelangt, stand plötzlich Tom vor ihr. Schon wieder. Der alte Mann blickte sie mit seinen grauen Augen an, nahm sie dann, ohne ein Wort zu sagen, bei der Hand und führte sie zum Meer.
»Wir gehen jetzt surfen.«
Sarah blieb stehen. »Erstens habe ich gar kein Brett und zweitens glaube ich nicht, dass das jetzt der richtige Zeitpunkt ist und drittens kann ich es ja gar nicht.«
»Du bekommst jetzt deine erste Stunde, deine Augen sagen, dass du das jetzt brauchst. Warte kurz, ich hole dir ein Board.«
Sarah setzte sich lethargisch in den Sand. Sie fasste in das helle Etwas und ließ es zwischen ihren Fingern hindurchrinnen, winzige Muscheln, feine Körnchen.
»So«, der alte Mann legte ein Surfboard neben sie. »Wir machen jetzt erst mal ein paar Trockenübungen.«
Sarah blickte überrascht auf. Meinte er das ernst? Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel zu.
Sie trainierten, wie man auf das Brett aufsteigt. Immer wieder musste Sarah auf das kratzige Ding springen. Endlich war Tom so weit zufrieden, dass er mit ihr aufs Meer hinauspaddelte.
»Mach dir keine Sorgen, heute sind die Wellen nicht hoch. Optimal zum Üben.«
Er hatte bunte Shorts an. Sein Rücken war verwittert wie ein alter Baum, Sonne und Wetter hatten ihn gezeichnet. Trotz seines Alters strahlte er eine Kraft aus, die Sarah imponierte.
Die ersten Wellen waren das totale Fiasko. Sarah wurde von ihrem Brett gespült und unter die schäumende Gischt gedrückt. Als sie nach unendlich vielen Versuchen wieder mal im Wasser trieb und versuchte, auf ihr Board zurückzukommen, fragte sie sich genervt, was sie hier eigentlich tat. Warum lag sie nicht lieber am Strand oder las ein Buch?
»Du musst dich mit Haut und Haar darauf einlassen«, sagte Tom, der wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht war. »Lass all deine Gedanken los. Nur du und das Meer. Wenn du das nicht zulässt, dann funktioniert es nicht.«
Er hatte gut reden, aber okay. Sarah versuchte, sich auf die Wellen zu konzentrieren. Hinter einer moderat großen Welle sah sie eine, die ihr zuzurufen schien: »Los, versuche es!« Sie brachte sich in Position, kraulte, um mit dem Wellenkamm mitzukommen und plötzlich sauste das Brett mit der Welle. Ein Adrenalinstoß ging durch ihren Körper. Sie fuhr diese Welle, liegend auf dem Brett. Mit einem Ruck, so wie sie es am Strand geübt hatte, hüpfte sie auf das Board … und landete kopfüber im Meer, wo sie in der sich überschlagenden Welle nach unten gespült wurde. Sie fühlte sich wie im Inneren einer Waschmaschine. Nach einer Weile kam sie nach Luft japsend wieder nach oben. Das Salzwasser war überall, in ihrer Nase, in ihrem Mund und in den Ohren.
»Fast«, rief Tom ihr zu. »Los, probier es noch mal.«
Jetzt war Sarahs Ehrgeiz geweckt. Sie konnte es schaffen. Sie scannte die Wellen. Dort war sie. Ihre Welle. Wieder versuchte sie, sich in die richtige Position zu navigieren. Die Welle war längst nicht so groß wie die zuvor, aber sie wurde wieder mitgetragen. Etwas vorsichtiger als beim ersten Mal sprang sie auf das Brett und diesmal gelang es. Einen kurzen Moment stand sie tatsächlich auf dem Surfboard, bevor sie abgeworfen wurde wie von einem buckelnden Pferd beim Rodeo.
Sie lachte, es war verrückt. Schon rollten die nächsten Ungetüme heran. Wieder erwischte sie die Welle, aber schon nach kurzer Zeit spürte sie, dass diese zu groß für sie war. Waschmaschine, diesmal länger, mit einem extra Spülgang. Als sie wieder auftauchte, spuckte sie Salzwasser.
»Genug für heute«, rief Tom ihr zu. »Komm zurück an den Strand.«
Sarah konnte sich nicht losreißen. Sie blickte auf das Meer und sah erneut eine Welle, die einfach zu ihr sprach. Sie paddelte in Position, wurde angehoben und rauschte durch das Wasser. Jetzt! Aufstehen! Sie zog ihre Beine an, setzte ihre Füße in der richtigen Position auf das Brett und dann rauschte sie in das Wellental. Die Welle schlug über ihr zusammen und begrub sie. Wieder die Waschmaschine, wieder im Schleudergang.
Sie kam erst nach einigen Sekunden wieder an die Oberfläche. Das Adrenalin pumpte durch ihren ganzen Körper. Gleichzeitig war sie so erschöpft, dass sie kaum in der Lage war, zurück an den Strand zu paddeln.
»Du übertreibst es aber ganz schön.« Tom schwamm neben ihr.
»Es war gut«, sagte Sarah. Immer noch hatte sie dieses irre Gefühl im Körper. Alles prickelte, sie fühlte sich lebendig.
»Das freut mich. Morgen gibt es die nächste Stunde. Du bist begabt. Es gibt Menschen, die das Meer verstehen. Ich glaube, du gehörst dazu.«
Als Sarah am Strand ankam, zitterten ihre Beine so stark, dass sie kaum stehen konnte. Sie betrachtete das Surfboard zu ihren Füßen. War sie tatsächlich gerade damit durchs Wasser gerauscht?