Das Haus fühlte sich schrecklich leer an ohne Izzy.
Alles erinnerte an sie und Logan. Das war zwar sehr schön, tat aber auch verdammt weh.
Mel war heute Morgen abgereist. Noch jemand, der fehlte.
Kerstin streifte durch die Villa. Sie ging an den Bücherregalen entlang, zog den einen oder anderen Roman heraus und blätterte darin. Bei Anne of Green Gables musste sie lächeln. Vor ein paar Tagen hatte sie das Buch auch in der Hand gehalten, als Izzy zu ihr getreten war.
»Kennst du das Buch?«
Kerstin hatte den Kopf geschüttelt.
»Das ist ein berühmtes kanadisches Kinderbuch. Es handelt von einem sehr vorwitzigen, rothaarigen Waisenmädchen, das an ein älteres Geschwisterpaar vermittelt wird. Logan hat die Geschichte geliebt. Und ich muss zugeben, ich auch. Sie gefällt mir sogar besser als Pippi Langstrumpf. Logan war mit daran beteiligt, als eine Fernsehserie aus dem Stoff adaptiert wurde.«
»Wow, das ist ja beeindruckend«, hatte Kerstin geantwortet.
»Du solltest es lesen. Es hat mich in meinem Glauben bestärkt, dass Rothaarige etwas ganz Besonderes sind.«
Kerstin seufzte. Izzy hatte eine genauso große Liebe zum Lesen gehabt wie sie selbst. Allerdings hatte sie in Logan auch eine Partnerin gehabt, die diese Liebe mit ihr teilte. Friedrich hatte nie gelesen. Komisch, es war das erste Mal seit Langem, dass sie an ihn dachte.
Es hupte. Kerstin trat auf den vorderen Teil der Veranda und sah Mike aus seinem Truck steigen.
»Hallo, Mike, du willst sicher zu Sarah, oder? Die hat gerade eine Surfstunde.«
»Nein. Eigentlich wollte ich zu dir.«
Verblüfft ließ Kerstin ihn herein.
Einen Augenblick sah es so aus, als wüsste er nicht, was er sagen sollte, doch dann straffte er sich. »Ich stehe mit meinem Poke-Truck noch ganz am Anfang. Und ich merke, ich brauche einen richtigen Koch. Ich muss etwas professioneller werden, vielleicht noch mehr Poke-Varianten oder andere Gerichte anbieten. Was würdest du davon halten, mich bei der ganzen Unternehmung zu beraten?«
»Du veräppelst mich, oder?« Kerstin schüttelte den Kopf. »Ich kann so was nicht.«
»Sarah hat mir erzählt, wo du schon überall gekocht hast. Du warst ja auf dem Weg, eine richtige Spitzenköchin zu werden. Ich habe bisher nur im kleinen Rahmen gekocht. Eigentlich hatte ich mal einen ganz anderen Beruf. Dein fachmännischer Rat wäre Gold wert für mich.«
Mikes Worte versetzten ihr einen Stich. Er hatte recht, damals war sie sehr weit oben gewesen – aber das war schon so lange her.
»Ich glaube, ich kann das nicht«, wiederholte sie sich selbst. »Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Izzy hat uns ja gebeten, bis zur Testamentseröffnung zu bleiben. Danach werde ich wieder nach Deutschland zurückkehren. Wahrscheinlich …«
»Dann hast du doch jetzt Zeit. Ich will ja nur ein bisschen von deinem Know-how profitieren. Mel hat mir auch von deinem Food-Blog erzählt.«
Das war doch nicht zu fassen! Waren die beiden verrückt geworden oder was sollte das?
»Ich könnte unterschiedliche Poke machen und du fotografierst sie dann. Das wäre eine gute Werbung für mich und du hättest einen interessanten Inhalt. Außerdem könntest du mir natürlich auch Tipps für ein erweitertes Angebot geben. Hättest du Lust, ein paar neue Soßen zu erfinden? Du weißt ja, dass die unterschiedlichen Fischsorten mit neuen Soßen ganz anders schmecken.«
»Was soll das werden? Ein Beschäftigungsprogramm für mich?«
»Nein.« Mike sah sie aufrichtig an. Der Blick aus seinen blauen Augen traf sie. Kerstin konnte verstehen, warum Sarah auf ihn stand, auch wenn sie es noch immer abstritt.
»Ich habe um Hilfe gebeten, das machen wir hier so.«
Beschämt brach Kerstin den Augenkontakt ab. Sie verhielt sich wirklich furchtbar. »Entschuldige. Ich …«
»Denk drüber nach, ich melde mich morgen noch mal.« Er nickte ihr zum Abschied zu und verließ das Haus.
Lange Zeit starrte Kerstin vor sich hin. Erst als Sarah ins Haus stürmte, wachte sie aus ihrer Erstarrung auf.
»Du glaubst es nicht«, kreischte ihre Freundin, »ich bin durch einen Wellentunnel gefahren. Okay, nur ein paar Sekunden, aber es hat geklappt!« Sarah hüpfte wie ein kleines Kind umher.
»Dusch dich erst mal draußen«, sagte Kerstin mit einem Blick auf den Sand, der überall auf dem Boden lag.
»Du bist schon genauso wie Mel.« Sarah schmollte, verzog sich aber nach draußen.
Kerstin lachte in sich hinein. Stimmt, eigentlich war das Mels Part, sie war die Mama. Aber gerade hatte es sie wirklich geärgert. Wobei – vielleicht lag der Ärger auch an der Einmischung ihrer Freundinnen in ihr Leben.
»So, da bin ich wieder«, verkündete Sarah, als sie, diesmal sauber und mit einem Handtuch umwickelt, ins Haus trat.
»Mike war gerade hier.«
»Und?«
»Du hast ihn auf mich gehetzt.«
Sarah hob abwehrend die Hände. »Wovon sprichst du? Ich habe seit Izzys Tod nicht mehr mit ihm geredet.«
»Ach, wirklich?« Kerstin war erstaunt, das hatte sie nicht erwartet.
»Ich habe ihm gesagt, dass ich Zeit für mich brauche, und seitdem haben wir keinen Kontakt mehr gehabt.« Sarah rubbelte sich ihre Haare mit einem Handtuch ab. »Vielleicht war das ein Fehler. Was hat er denn gewollt?«
»Er möchte mich als Beraterin für seinen Foodtruck. Außerdem will er mit mir einen Blog-Artikel über Poke machen.«
»Das ist doch toll. Warum bist du dann so schlecht drauf?«
»Ich weiß nicht.« Kerstin war plötzlich verunsichert. »Ich habe keine Ahnung, wie es mit mir weitergehen soll.«
»Da sind wir schon zu zweit«, antwortete Sarah trocken. »Ich zieh mich kurz um und dann treffen wir uns auf der Veranda.«
»Aber …«, wagte Kerstin einzuwenden. Sarah schnitt ihr das Wort ab.
»Ich möchte einen leckeren Cocktail und was zu knabbern.«
Kerstin schüttelte den Kopf und sah der Freundin nach, wie sie nach oben lief. Okay, sie würde heute etwas Antialkoholisches machen. Sie war gespannt, wie Sarah das finden würde.
Sarah kam auf die Veranda, als Kerstin gerade die zwei Sessel gen Sonnenuntergang ausrichtete. »Komisch, oder?«, fragte sie. »Jetzt sind nur noch wir zwei hier.«
»Ob Mel schon in Los Angeles ist?«
Genau in diesem Moment piepten gleichzeitig ihre Telefone.
»Mel«, sagten sie wie aus einem Mund.
44ever
Mel
Bin gelandet, vermisse euch jetzt schon unglaublich. Außerdem habe ich einen Horror vor dem Weiterflug. Wobei, eigentlich nicht davor, sondern vor dem, was mich zu Hause erwartet.
Kerstin
Heute gibt es mal einen alkoholfreien Cocktail. Ich glaube, er schmeckt Sarah, zumindest habe ich noch nichts Gegenteiliges von ihr gehört. Jedenfalls ist er besser als die Drinks, die Sarah uns gemixt hat.
Sarah
Ich habe es heute das erste Mal geschafft, in eine Tube einzutauchen. War zwar nicht lang, aber ich bin glücklich. Und was ihr da immer mit meinen Cocktails habt, ich verstehe das nicht.
Mel
Am liebsten würde ich sofort ins nächste Flugzeug zurück nach Hawaii steigen.
Sarah
Halte durch, du bist bald wieder da. Wir vermissen dich jetzt schon.
Kerstin
Ich drück dich, wir sehen uns bald. Du weißt ja, was Izzy gesagt hat – wir müssen das zusammen machen.
»Prost«, sagte Kerstin und erhob ihr Glas.
Sarah ergriff ebenfalls ihr Glas. »Prost, Izzy, Mel und dir.«
Sie stießen an und sahen auf das Farbspektakel, das gerade mal wieder zum Träumen schön war. Wieder piepten ihre Telefone.
44ever
Mel
Prost, ihr Lieben.
Kerstin machte ein Selfie von sich und Sarah und verschickte es.
44ever
Kerstin
Der Sonnenuntergang ist der Hammer, guten Weiterflug!
Mel
Oh Mann, ich bin so neidisch! Komisch, früher habt ihr mir nie so gefehlt wie jetzt.
Kerstin
Wir freuen uns schon auf deine Rückkehr.
»Also, warum findest du die Idee von Mike so blöd?« Sarah nippte an ihrem Drink. »Der schmeckt übrigens wirklich lecker.«
Kerstin kicherte. »Das sagst du? Dabei ist er wirklich ohne Alkohol.«
»Trotzdem schmeckt er gut.« Sarah trank und stellte ihr Glas auf den Tisch. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Was soll ich denn sagen?« Kerstin wurde ernst. »Ich habe keine Ahnung, wie es mit mir weitergeht. Ich will nicht wieder nach München zurück, aber ich habe sonst ja nichts.«
»Geht mir genauso.« Sarah sah auf das Meer. »Ich muss eigentlich wieder nach London. Dort ist mein Job, meine Wohnung – aber sonst … nichts.«
»Ich habe noch nicht mal mehr eine Arbeit.« Kerstin lehnte sich seufzend zurück.
»Dann fang doch jetzt an. Du hast Mels Fotoapparat. Mach einen ersten Blog-Artikel mit dem Poke-Truck von Mike. Leg los, das macht dir doch Spaß.«
Kerstin sah ihre Freundin irritiert an. Seit wann war sie so positiv?
»Apropos leg los – warum triffst du dich nicht endlich mal offiziell mit Mike?«, gab sie mit einem Grinsen zurück.
»Ich will es nicht kaputt machen. Außerdem weiß ich genauso wenig wie du, wo meine Reise hingeht. Wenn ich mir mein Bankkonto angucke, dann muss ich bald wieder nach London. Ich hasse es, immer pleite zu sein. Irgendwie sind wir dafür inzwischen zu alt.«
»Besuche Mike. Der Mann ist wirklich interessant.«
Sarah nickte. »Vielleicht mache ich das.«