Kerstin wälzte sich schon seit Stunden von der einen Seite des altmodischen Holzbettes zur anderen. Bei jeder Bewegung knarrte und quietschte es so fürchterlich, dass allein das schon ein Grund gewesen wäre, um sie wachzuhalten. Entnervt setzte sie sich auf und schaltete die Nachttischlampe ein. Mel hatte sie nicht in einem ihrer Ferienhäuser untergebracht, sondern in der Pension Dietersen.
»Tut mir leid, aber die Ferienhäuser haben wir schon winterfest gemacht«, hatte Mel gesagt, als sie auf einem Parkplatz vor dem alten Fachwerkhaus angehalten hatten. »Ich habe dir hier ein Zimmer reserviert. Die sind sehr gemütlich und außerdem auch bezahlbar.«
»Aber ich dachte …«, stotterte Kerstin, während Mel betont fröhlich aus dem Wagen stieg. Ja, was hatte sie eigentlich gedacht? Dass Mel sie mit offenen Armen bei sich zu Hause willkommen heißen würde? Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie selbst auf eine so plötzlich auftauchende Freundin reagiert hätte. Etwas enttäuschend war es natürlich schon.
Kerstin musste die Tür des VW-Busses mit Gewalt aufstemmen. Der Wind war noch weiter aufgefrischt. Mel hatte schon ihre Reisetasche aus dem Kofferraum geholt und ging auf den Eingang der Pension zu.
»Frau Dietersen hat noch ein kleines Abendessen für dich vorbereitet. Ich komme morgen zum Frühstück vorbei, dann können wir so richtig schön zusammen quatschen.« Sie umarmte Kerstin ein weiteres Mal, bevor sie wieder zu ihrem Wagen lief. Im Einsteigen rief sie ihr noch zu: »Du musst unbedingt die Mail von Izzy lesen!«
Kerstin krabbelte aus dem Bett und inspizierte die Reste ihres Abendessens. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Butterbrote mit Leberwurst geschmiert bekommen hatte. Frau Dietersen hatte sich Mühe gegeben. Eine Klappstulle mit Wurst, eine mit Käse. Um die Brote herum waren kleine Gurken und Radieschen dekoriert. Dazu hatte die Wirtin zwei Flaschen Bier gereicht.
Kerstin öffnete die zweite Flasche und machte sich über die Leberwurststulle her. Mit den Gürkchen schmeckte es köstlich. Gleichzeitig schaltete sie ihr iPad an und las ein weiteres Mal die Mail von Izzy.
Hawaii. Kerstin hatte mehr als zwei Jahre in Chicago in einem Sternerestaurant gearbeitet, Amerika lag ihr. Dort hatte sie leider auch Friedrich kennengelernt, der sie dann nach München gelockt hatte. Nein, das stimmte nicht ganz, sie hatte sich damals Hals über Kopf verliebt.
Konnte sie das annehmen? Bei dem Wort Hawaii sah sie tanzende Hula-Schönheiten vor sich und grandiose Bergmassive, in denen Dinosaurier wie im Blockbuster Jurassic Park durch die Gegend liefen. Und die Jungs von Hawaii Five-O kamen ihr in den Sinn, eine Fernsehserie mit zwei ziemlich attraktiven Polizisten, die vor der spektakulären Kulisse der Inselkette die unglaublichsten Verbrechen aufklärten. Izzy hatte auch ein paar Fotos angehängt. Es sah dort aus wie im Paradies.
Sie goss sich etwas mehr Bier in ihr Glas und lehnte sich zurück. So schräg, wie das erste Treffen mit Mel gelaufen war, so merkwürdig konnte es auch in diesem Urlaub werden. War sie stark genug dafür? Außerdem konnte sie ihren Freundinnen nicht weiter etwas vormachen: Sie war grandios gescheitert. Kein Job, kein Mann, kein Garnichts.
Abermals blickte sie auf das iPad. Am Ende der Mail, unter dem Anhang, stand noch etwas.
PS: Da ich annehme, dass du nicht weißt, wo du die Weihnachtstage verbringen sollst, habe ich dir schon am 24.12. einen Flug gebucht. Und noch eines: Du musst kommen, es gibt keine Ausrede!
Nach einer sehr kurzen Restnacht wachte Kerstin um halb sieben auf. Draußen dämmerte es und das Wetter sah alles andere als einladend aus. Gegen das Fenster ihres Zimmers peitschte der Schneeregen, und es war eisig im Raum, da sie die Heizung abgestellt und das Fenster auf Kipp gestellt hatte. Fröstelnd lief sie in das kleine Badezimmer. Gott sei Dank hatte die Pension für jedes Zimmer ein eigenes Bad. Für welche Uhrzeit hatten sie sich zum Frühstück verabredet? Es wollte ihr einfach nicht einfallen, aber womöglich hatten sie auch gar nichts Konkretes ausgemacht.
»Guten Morgen.« Frau Dietersen stand in der Küche und lächelte sie warm an. »Haben Sie gut geschlafen?«
Kerstin nickte.
»Ich mache gerade Rühreier mit Krabben. Möchten Sie das auch?«
»Sehr gerne«, erwiderte Kerstin und setzte sich an den gedeckten Tisch. Wirklich gemütlich war es hier.
»Da Sie der einzige Gast sind, habe ich hier in der Küche gedeckt«, sagte die Wirtin.
»Das ist genau richtig«, sagte Kerstin und lehnte sich angenehm entspannt zurück.
Nach einem schweigsamen Frühstück, das sie sehr genoss, platzte Mel in die Küche.
Sie wechselte ein paar Worte mit Frau Dietersen und flüsterte dann Kerstin ins Ohr: »Lass uns zum Strand fahren, da können wir in Ruhe reden.«
»Gerne, ich hole meinen Mantel.«
In ihrem Zimmer haderte Kerstin wieder mit sich selbst. Es war eine Schnapsidee gewesen, hierherzufahren. Sie waren nicht mehr die unbeschwerten jungen Frauen, die gemeinsam durch dick und dünn gingen und etwas rocken wollten. Jede führte ihr eigenes Leben, hatte ihre eigenen Probleme. Sie zog sich ihren Mantel über und stieg wieder die Treppe hinunter.
Im Auto fragte Mel als Erstes nach der Mail von Izzy. »Und, was sagst du? Wirst du hinfliegen?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.« Kerstin sah aus dem Fenster. Die Landschaft war so trostlos. Graubraune Felder, ein grauer Himmel. Grau bis zum Horizont. So wie Kerstins Leben.
»Kim und Arne fliegen nach Weihnachten zu ihren Großeltern nach Mallorca«, sagte Mel.
»Und dein Mann hält zu Hause die Stellung, während du dich auf Hawaii rumtreibst?« Kerstin versuchte es mit einem Scherz, aber er kam nicht an.
»Ich möchte schon. Ich fände es sehr schön, wenn wir uns alle mal wiedersehen würden. Aber …«
»Weißt du noch, das Jahrgangstreffen? Ich glaube, das war das letzte Mal, dass wir alle vier zusammen waren«, sagte Kerstin.
»O Gott, ja. Sarah musste schon nach einer Stunde wieder abreisen, weil ihr Flug einfach verschoben worden war.«
»Und den Aufriss, den die alle um Izzy gemacht haben. Da habe ich erst verstanden, wie anstrengend es ist, ein Star zu sein.«
»Mir hat sie richtig leidgetan. Außerdem hat es unser Zusammentreffen gestört, wir hatten überhaupt keine Zeit für uns«, sagte Mel.
Einen Augenblick hingen sie beide ihren Gedanken nach. Vielleicht war ja Hawaii ein wirklich guter Ort für ein Wiedersehen. Nur sie vier, endlich wieder vereint.
»Hier ist das Meer besonders schön.« Mel lenkte den Bus auf einen Parkplatz.
Sie stiegen aus. Der Wind war so stark, dass der Graupel im Gesicht regelrecht stach. Trotzdem fühlte Kerstin sich das erste Mal seit Langem wieder lebendig.
»Komm«, Mel fasste ihre Hand und zog sie Richtung Meer. Der Wind versuchte sie mit aller Macht davon abzubringen, an den Strand zu gelangen. Gemeinsam stemmten sie sich ihm entgegen. Das Wasser war aufgewühlt und sah so gar nicht wie die friedliche Ostsee aus.
»Ich fühle mich wie auf einer Zeitreise. Geht es dir genauso?«
»Ja. Ich hätte dich schon viel früher besuchen sollen.« Kerstin blickte ihre Freundin an. »Was ist los mit dir?«
»Ich habe gerade viel um die Ohren. Meine Kinder haben keine Schule mehr, übermorgen kommt meine schreckliche Schwiegermutter und meine Angestellte hat gekündigt. Alles ein bisschen stressig im Moment. Aber das wird schon.«
»Und, was denkst du über Hawaii?«, fragte Kerstin.
»Ich finde, wir sollten es machen«, sagte Mel nach einer Pause. »Izzy hat recht, wir haben es uns versprochen. Außerdem war unser letztes gemeinsames Treffen ja nicht besonders prickelnd.«
»Aber ein bisschen verrückt ist es trotzdem«, lachte Kerstin, während sie sich an ihr Versprechen erinnerte. Es war schon so lange her, sie hatte in den letzten Jahren gar nicht mehr daran gedacht. Damals, auf der Frankreichreise, gleich nach dem Abitur, da hatten sie den Schwur getan. Herr Umbach hatte ihnen die Reise vorgeschlagen. »Ihr werdet mir noch dankbar sein. Die letzte halbwegs unbeschwerte Zeit, bevor der Ernst des Lebens für euch anfängt.«
Und er hatte recht behalten. Es war eine seltsame Zeit, man schwebte zwischen allem; in der Schule hatte man keinen Platz mehr, die Ausbildung oder die Uni starteten aber in den meisten Fällen erst nach dem Sommer.
Es war nur eine kleine Gruppe geworden, die in dem etwas schäbigen Hostel am Rande von Paris abgestiegen war. Natürlich hatte das Kleeblatt ein Vierbettzimmer bekommen. Mel und Kerstin teilten sich das Stockbett auf der einen Seite, das andere belegten Sarah und Izzy.
»Was auch immer passiert, wir treffen uns an meinem vierzigsten Geburtstag wieder.« Kerstin hatte Izzys Satz immer noch im Ohr.
Ihre roten Haare flatterten wie verrückt um ihren Kopf, und der Sturm zerrte an ihrem Mantel. Das Wetter holte sie in die Gegenwart zurück.
»Komm, lass uns zurückgehen«, rief Mel gegen den Wind und das Brausen der Ostsee an.
Je näher sie dem VW-Bus kamen, desto schneller wurden sie. Kaum hatte Mel den Wagen geöffnet, sprangen sie fast gleichzeitig hinein.
»Ist das kalt«, sagte Kerstin und pustete sich warme Luft in ihre Fäuste. Die Haut ihrer Hände war ganz rau und rissig.
»Stehst du immer noch selbst in der Küche? Ich dachte, als Chefin delegierst du nur noch?«, fragte Mel mit einem Blick auf ihre Hände neugierig. Schnell ließ Kerstin sie in den Schoß sinken, bevor sie antwortete. »Ich muss doch die Rezepte, die ich mir ausdenke, ausprobieren.«
Es herrschte ein kurzes Schweigen, während Mel über die Erklärung nachzudenken schien. Hoffentlich bohrte sie nicht weiter nach.
Kerstin räusperte sich. »Ich fahre heute Abend wieder zurück. Es war eine blöde Idee, dich einfach so zu überfallen.«
»Es tut mir leid, dass ich nur so wenig Zeit für dich habe, aber …« Mels Zögerlichkeit wunderte Kerstin, sonst sagte die Freundin immer freiheraus, was ihr auf der Seele lag. In ihren Chats war sie diejenige, die Kerstin häufig ein bewunderndes Grinsen entlockte, weil sie so ehrlich ihre Meinung kundtat.
»Wir können zumindest heute noch so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen. Hast du dir schon einen Zug rausgesucht? Ich kann dich auch nach Kiel fahren.«
»Okay, dann holen wir meine Sachen.«
Eine halbe Stunde später checkte Kerstin bei Frau Dietersen aus, während Mel im Wagen blieb und auf ihrem Handy nach einem schönen Café in Kiel suchte.
Kerstin riss die Beifahrertür auf und kalte Luft drang in den Wagen.
Erschrocken sah Mel auf.
»Tut mir leid. Wie hältst du es hier oben nur aus? Dieser Wind macht mich fertig.«
»Verstehe ich. Manchmal geht er mir auch auf die Nerven. Ich habe uns ein wunderschönes Café herausgesucht. Da war ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr«, sagte Mel, ließ den Motor an und steuerte den Bus auf die Hauptstraße.
»Ich habe mich gerade entschlossen, nach Hawaii zu fliegen.« Es war einfach aus Kerstin herausgeplatzt.
»Ach, und wie bist du zu deiner Entscheidung gekommen?«
»Erstens hat mich das, was Izzy geschrieben hat, sehr berührt. Und zweitens habe ich heute mit dir am Strand gedacht, dass ich euch drei viel mehr brauche, als ich geahnt habe. Außerdem haben wir es uns doch geschworen.«
Für einen kurzen Moment sah Kerstin ein kleines Lächeln auf Mels Gesicht.
»Ging mir auch so«, antwortete Mel. »Wir hätten das schon viel früher machen sollen«, ergänzte sie leise.
Kerstin legte ihr eine Hand auf den Arm. Lange Zeit hingen sie beide ihren Gedanken nach, aber diesmal war es kein peinliches Schweigen, sondern Kerstin spürte endlich wieder die alte Verbundenheit.
»Ich werde auch kommen«, sagte Mel schließlich.
»Großartig. Jetzt können wir nur noch hoffen, dass Sarah sich auch für Hawaii entscheidet.« Spontan umarmte Kerstin ihre Freundin.
»Vorsicht! Ich kann nichts mehr sehen«, rief Mel. Sie schob sie mit einer Hand zur Seite, während sie mit der anderen den Wagen lenkte.
Stimmt, das hatte Kerstin in ihrer Freude kurz vergessen. Sie ließ von ihr ab und lehnte sich wieder zurück.
»Weißt du noch, Frankreich?«
»O mein Gott! Hattest du da nicht diesen süßen Franzosen?«, quiekte Mel.
»Bruno.« Kerstin rollte mit den Augen. »Dabei war ich gar nicht in ihn verliebt.«
»Hattest du je wieder Kontakt zu ihm?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.«
Kerstin machte kurz die Augen zu. Diese Fahrt nach Frankreich hatte damals gewissermaßen einen Abschluss gebildet. Danach war alles anders gewesen; sie waren in alle Winde verstreut worden. Sarah hatte es kaum abwarten können, nach London zu gehen, Mel hatte sich endlich zu ihrer Liebe zu Sven bekannt und sie selbst hatte einen Ausbildungsvertrag zur Köchin in einem renommierten Restaurant in Köln in der Tasche gehabt. Nur bei Izzy hatte es noch keine konkreten Ideen gegeben. Sie wollte damals die Welt bereisen und war sehr enttäuscht gewesen, dass sie alle schon andere Pläne hatten.
Würde sie mit Izzy und Sarah die gleiche Verbundenheit spüren, die sie gerade mit Mel erlebte?