Kapitel 12 - Theo
»Rack? Was meinst du damit?« Ich drückte den Knopf erneut, als keine Antwort kam. »Was meinst du?«, schrie ich in das Mikrophon.
»Oh, ich glaube, mir geht es nicht gut.« Lady C’s Stimme klang flatterig, wie ein Vogeljunges, das das erste Mal zu fliegen versuchte, aber nur aus dem Nest fiel.
»Schnell, helft mir mal. Sie wird ohnmächtig.« Rack redete, auch wenn es nicht das war, was ich hören wollte.
»Wieso fallen Frauen eigentlich ständig um?«, fragte einer der Wachmänner. Seine Stimme drang nur schwach durch das Mikrophon.
Dafür hörte ich immer deutlicher Schritte. Zumindest ein Teil der Wachen befand sich auf dem Weg zu Rack.
Weitere Explosionen. Diesmal jedoch nicht durch meine Vorrichtung ausgelöst, sondern aus dem Mikrophon. Die Minibomben in den Glaskästen. Rack hatte sie zu früh gezündet. Es verlief nichts nach Plan. Verdammt. Ich knüllte die Liste, auf der meine Punkte zum Abhaken standen und warf sie hinter mich.
»Jean, du kannst loslegen!« Der Befehl war vermutlich überflüssig, da sie einen besseren Überblick über das Geschehen hatte als ich.
Schreie ertönten, ich hörte jede Menge Befehle. Und auf einmal fielen Schüsse.
»Rack!«, schrie ich und richtete mich kerzengerade in dem Velocar auf.
»Schnauze!«, brüllte Rack. Etwas knackte und im nächsten Moment verstummte mein Ätherkommunikator. Weder hörte ich Jean, noch Lady Leonora, noch Rack. Nicht einmal das leichte Knacken und Rauschen war mehr zu hören.
Ich saß hier draußen fest, während da drinnen die anderen um ihr Leben kämpften.
Marcus sprang zu mir ins Velocar. Er hatte es vom Dach nach unten geschafft und war wie vereinbart zu mir ins Fahrzeug gesprungen. In der Hand hielt er den Kasten, den ich kurz zuvor unter einer Kutsche angebracht hatte. Mit dem Einstieg wickelte er den letzten Rest Kabel um die Holzverkleidung des Apparats. Wenigstens ein Teil des Plans, der nicht völlig in die Hose gegangen war.
»Wie sieht es aus?«, fragte er und sank in eines der Kissen.
»Keine Ahnung. Die Maschine ist ausgefallen. Es läuft alles schief. Marcus, wir müssen ihnen helfen.«
Ich stand auf und ging zur Tür, um Rack und Jean zu Hilfe zu eilen. Marcus hielt mich jedoch fest. »Jedes Mal das gleiche mit dir. Diesmal lasse ich dich nicht gehen. Rack weiß, was er tut. Vertraue ihm und den anderen. Wir warten.«
Meine Finger kribbelten, während sich die Aufregung durch meinen Körper fraß. Wie ein nimmersattes Monster verschlang es all meine Hoffnung und schied immer mehr Angst aus.
Minuten vergingen und ich konnte nichts tun, als durch den Vorhang nach ihren Gesichtern Ausschau zu halten. Ich knetete meine Handflächen, während Marcus einfach nur dasaß.
»Wie kannst du so ruhig bleiben?«, fragte ich ihn schließlich.
»Übungssache. Wenn du genau weißt, dass du nichts an dem ändern kannst, was da drinnen vorgeht, gibt dir das eine gewisse innere Ruhe. Du musst es nur zulassen.«
»Dir vielleicht, aber mir nicht.« Ich schüttelte den Kopf. Auch wenn General Marcus James mein großes Vorbild gewesen war: Ihn in einer wirklich gefährlichen Situation an meiner Seite zu haben, ließ mich meine Angst nicht vergessen.
Er summte vor sich hin und trieb mich damit weiter in den Wahnsinn.
Ich stieß mit dem Kopf beinahe gegen die Decke, als ich Lady Leonoras Kleid in der Menschenmenge entdeckte. Direkt dahinter eine der Wachen. Erst glaubte ich, dass sie erwischt worden war, aber ihre Hand hielt die des Wachmanns. Rack! Sie waren in Sicherheit. Die Menge vor dem Museum machte sich auf den Weg nach innen, seitdem die Geräusche aufgehört hatten. Nur Rack und Lady Leonora kamen auf mich zu. Ich öffnete die Tür und ließ Rack ein, als niemand auf ihn achtete.
»Was ist passiert?«, fragte ich und zog die Tür wieder zu. »Wo ist Jean?«
Rack verwandelte sich vor unseren Augen zurück in sein eigenes Ich und warf die Jacke durch die Tür auf der anderen Seite auf die Straße. »Fahr los. Jean weiß, wo wir hinmüssen. Sie haben den Diebstahl bemerkt. Und die Bobbys werden jeden Moment die Besucher durchsuchen. Fahr los!«
Ich zögerte.
»Oi! Fahr los!«, rief Rack und stieß mich an.
Ich fuhr los. Mein Fokus lag auf der Straße, denn zwei weitere Kutschen standen quer. Die Pferde hatten wegen der lauten Geräuschen gescheut und auszubrechen versucht.
»Verschwindet von der Fahrbahn«, brüllte ich die Kutscher an, während ich ihnen abfällige Handzeichen zuwarf.
Die Kutscher antworteten mit nicht minder unflätigen Handzeichen, doch sie schafften es, die Gespanne von der Straße zu bringen.
Vier Straßen weiter erreichten wir ein neues Stadtviertel und wir konnten endlich einigermaßen sicher sein, dass uns niemand folgte. Ich fuhr bis zum Treffpunkt mit Mr. Delong und stellte das Fahrzeug am Straßenrand ab. Wir trafen weit vor unserer vereinbarten Zeit ein, so dass uns noch Gelegenheit blieb, ehe Mr. Delong auftauchen würde.
»Raus mit der Sprache, was ist passiert?«
Rack seufzte und lehnte sich vor. In der breiten Kabine des Velocars gab es zwar genügend Platz für vier Personen, aber durch Lady Leonoras Kleid war dieser extrem eingeschränkt.
»Wir mussten improvisieren.«
»Das letzte Mal, als ich das von dir gehört habe, landeten wir beide in einem Keller und hatten für zwei Tage kein Essen und kein Trinken, ehe wir uns befreien konnten.« Ich hob eine Augenbraue und wartete auf eine Erklärung. »Hat es geklappt?«
Rack drehte sich zu Lady Leonora, die mit angelehntem Kopf und geschlossenen Augen an der Holzleiste über den Kissen lehnte. Auch Marcus beugte sich neugierig vor.
Lady Leonoras Lider blieben geschlossen, aber ihre Mundwinkel hoben sich.
Erleichterung strömte durch meinen Körper und spülte die Angst samt dem nimmersatten Monster aus mir heraus.
»Wie habt ihr das geschafft? Ich meine, ich habe Schüsse gehört.«
»Es war verdammt knapp. Die Schüsse wurden auf Jean und ihre beiden anderen Diebe abgefeuert.« Ich öffnete meinen Mund, doch Rack hob seine Hand. »Ihr ist nichts passiert. Einen der Diebe haben sie jedoch erwischt. Der wird wohl von den Bobbys verhört werden.«
»Und der Plan? Sind die Smaragde in die Kiste gefallen?«, fragte ich. Meine Finger lagen auf dem harten Holz des Fahrersitzes und pressten sich hinein.
Rack schmunzelte. »In der Tat. Die kontrollierte Sprengung in den Boden und die Pfeile, die das Glas haben splittern lassen, ließen es so wirken, als ob die Diebe von oben eindrangen. Lady Leonora hat eine wundervolle Ohnmacht nachgestellt, so dass die Wachen glaubten, die Diebe hätten die Smaragde gestohlen und wären übers Dach eingedrungen.«
»Mein edler Retter hat sich erbarmt, auf mich aufzupassen, während die anderen Wachen den Dieben nachgestürmt sind«, mischte sich Lady Leonora ein und öffnete die Augen.
»Und wir konnten in Ruhe die Smaragde aus dem vorbereiteten Loch holen.«
»Nun, in Ruhe würde ich das nicht nennen, aber wir konnten sie herausholen.« Lady Leonora griff in die Aussparung ihres Kleids, raschelte ein wenig mit dem Stoff, ehe sie einen Samtbeutel hervorzog. Es klimperte darin leise, da sie ihn hin und her schwang.
»Und niemand hat euch aufgehalten?«, fragte ich. »Niemand wurde misstrauisch, als ein Wachmann und eine Lady gemeinsam nach draußen gingen?«
»Adonia war dort.«
Ich hielt den Atem an.
»Nichts passiert. Alles lief wie geplant.« Rack nahm Lady Leonora den Beutel ab und steckte ihn in seine Tasche.
Ich schüttelte den Kopf. »Unglaublich!«, rief ich und schlug gegen das Lenkrad. Mehrmals. »Unglaublich, dass das geklappt hat!«
»Oi, mach den Wagen nicht kaputt!«, fuhr Rack mich an.
Statt weiter auf das Lenkrad einzuschlagen, hüpfte ich auf meinem Sitz auf und ab und tanzte. »Wir haben es wirklich geschafft. Jean wird nicht sterben. Das sind die besten Nachrichten, die ich in den letzten paar Tagen gehört habe.«
Auch Marcus grinste breit. In mir wuchs das freudige Gefühl, das sogar meine Restsorge um Jean vertrieb. Sie würde jeden Augenblick auftauchen und dann konnten wir alle endlich nach Hause gehen, um weiter gegen The Stick vorzugehen.
Es klopfte und Jean und ihre beiden Kumpanen öffneten die Tür. Ich stieg ebenfalls aus und umarmte Jean freudig.
»Du hast es geschafft.«
»Ja, aber Mitch nicht«, sagte das kleine Mädchen, das zusammen mit Jean von der Galerie gesprungen war, um so zu tun, als ob sie die Diebe wären.
»Er kannte das Risiko«, ertönte die Stimme eines Mannes hinter uns. Ich fuhr herum und entdeckte einen großen Kerl, der mit seinem Gehstock langsam auf mich zukam. Um ihn herum standen vier Männer, die mich an Bullen erinnerten. »Wie ich höre, sind Sie erfolgreich gewesen?«, fragte er und trat weitere Schritte vor.
Hinter uns stiegen Rack und Marcus aus. Lady Leonora blieb im Wagen. Vermutlich wollte sie nicht erkannt werden.
Jean knurrte leise und ich stellte mich vor sie. Nicht, weil ich Angst hatte, dass sie verletzt werden könnte, sondern dass sie jemanden verletzte.
»Haben Sie die Fernbedienung dabei?« Rack übergab Jean den Beutel. Sie steckte ihn in ihre Jackentasche.
Mr. Delong griff in seinen Mantel und ging soweit auf uns zu, dass er unter einer Laterne stand. In seiner Hand hielt er ein quadratisches, schwarzes Holzbrett, auf dem sich zwei kleine Schalter befanden. »Mit diesem Schalter könnt ihr die Sprengfalle stoppen.« Er deutete auf den Rechten der beiden. »Haben Sie meine Ware, Rack?«
Jean trat vor und zog den Samtbeutel heraus. Ich konnte den Inhalt nicht ausmachen, aber anscheinend schien es Mr. Delong glücklich zu machen, denn er nickte einem seiner Schlägertypen zu und reichte ihm die Fernbedienung.
»Er wird ihr die Fernbedienung und sie wird ihm die Steine geben. Danach gehen wir unserer Wege.«
»Woher wissen wir, dass es die richtige Fernbedienung ist?«, rief ich durch den aufkommenden Nebel. Meine Stimme war so kalt und abweisend wie die Dunstschwaden vor meinem Gesicht.
»Ah, schlauer Bursche. Ich verstehe, warum sie mit ihm arbeiten, Rack.« Mr. Delong forderte die Fernbedienung zurück. »Mal sehen, ob ich recht habe und es wirklich der rechte Schalter ist.« Damit drückte er auf das Holzbrett.
Nichts passierte. Jean hob ihr Handgelenk. »Es hat aufgehört zu blinken. Das ist ein gutes Zeichen.« Sie dreht sich zu Rack. »Ist das ein gutes Zeichen?«
Rack nickte kurz angebunden. »Gut und jetzt her mit der Fernbedienung. Ich will hier verschwinden.«
Einer der Bullen kam auf uns zu. Jede Sekunde erwartete ich, dass uns Mr. Delong hinterging. Dass noch mehr von seinen Leuten auftauchten und uns einfach erschossen. Doch nichts geschah.
Im Gegenteil. Jean erhielt die Fernbedienung, kam zu uns zurück. Der Bullige nahm den Samtbeutel und ging zu Mr. Delong. Dieser griff in den Beutel hinein und holte einen der Steine heraus. »Ausgezeichnet. Ich arbeite gerne wieder mit Ihnen zusammen«, sagte er und grinste schmierig.
Ich wollte etwas erwidern, als Rack mich an der Schulter packte und in Richtung Velocar drückte.
»Willst du ihn einfach so davonkommen lassen?«, fragte Marcus. Auch ich blieb stehen.
»Steig ein, Theodore.«
Mein voller Name? Rack nannte mich nie bei meinem vollen Namen. Es sei denn, höchstens wenn ich im Begriff war, etwas Dummes zu tun.
Ich nickte Marcus zu und stieg ins Innere. Lady Leonora saß bereits auf dem Fahrersitz und fuhr los, kaum dass wir alle eingestiegen waren.
Wir rasten um die Ecke der Gasse, als ich die Hörner der Bobbys hörte. Überrascht drehte ich mich zu Rack.
»Wann hast du …?« Ich dachte nach. Dann fiel mir seine Bemerkung ein. »Adonia. Es lief alles nach Plan, hast du gesagt.«
Rack grinste und lugte aus dem Fenster, ehe wir ganz um die Ecke verschwunden waren.
»Wir haben ihr von dem Treffpunkt erzählt, als wir sie vor dem Museum getroffen haben.« Lady C drehte sich zu mir um. »Also, genauer gesagt habe ich ihr davon erzählt. Rack war ja nicht er selbst.«
»Wann habt ihr das denn noch besprochen?«, fragte Marcus. »Davon wussten wir nichts.«
Rack schaute nach vorne zu Lady C. »Das war eine eher spontane Entscheidung, als wir im Hafen waren und die Seile geholt haben. Ich wollte nicht, dass diese Kerle ungeschoren davonkommen.«
»Ihr hattet fast vierundzwanzig Stunden, um uns davon zu berichten.« Marcus verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir hatten gesagt: keine Geheimnisse.«
Rack legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Such jetzt bitte nicht etwas Negatives. Jetzt sollten wir feiern, Marcus.«
Jean schob ihren Hemdärmel hoch, so dass die winzige Erhebung unter ihrer Haut auftauchte. »Feiern können wir, wenn das Ding aus meinem Körper raus ist.«
Ich strich mit der Hand darüber, doch Jean zuckte zurück. »Fass mich nicht an, solange es explodieren kann.«
»Das kann es nicht mehr«, sagte Rack und lehnte sich in die Kissen. »Entspannt euch. Obwohl wir unseren Plan nicht umsetzen konnten, ist es uns gelungen, Jean zu retten. Einmal, nur einmal will ich keinen Streit hinterher hören.«
Lady Leonora drehte sich erneut um. »Jetzt können wir uns auf das wirkliche Ziel konzentrieren.«
»Du meinst, The Stick endlich besiegen und getrennter Wege gehen?«, fragte ich. Das war schließlich die erste Vereinbarung, auf die sich diese Gruppe überhaupt geeinigt hatte. Dabei wollte ich nicht, dass Jean unsere Bande verlässt.
»Genau das.« Rack legte die Hände hinter den Kopf und grinste. »Und ich denke, wir gehen in die Offensive.« Rack schloss die Augen. »Wir werden ihn öffentlich seiner Verbrechen beschuldigen.«