Elli hatte Fiona in den letzten Tagen öfter gesehen. Das Mädchen lief im Park herum und starrte auf ihr Handy wie auf ihren Lebenskompass. Meistens hatte sie ein riesiges Tuch um den Hals und eine Mütze auf, sodass man ihr Gesicht kaum sah, aber Elli konnte an der ganzen Haltung des Mädchens erkennen, dass sie irgendwie Probleme hatte. Sie schien dauernd auf jemanden zu warten. Auf den Typen, der ihr neulich den Laufpass gegeben hatte?
»Lass ihn ziehen«, hätte Elli ihr am liebsten zugerufen. »Der ist es nicht wert. Du bist so hübsch und jung, es gibt so viele nette Jungs für dich.« Aber natürlich tat sie nichts dergleichen und außerdem kamen manche Frauen und Mädchen ja bei Ablehnung erst so richtig in Fahrt. Bei Fiona schien jedenfalls kein Ende des Leidens in Sicht zu sein. Jetzt kam sie schon wieder aus dem Haus gestürmt.
Elli hatte sich gerade bei Jenny noch ein bisschen ausgeruht, bevor Jörg am Horizont aufgetaucht war und sie wieder in die kalte Nacht hinausziehen musste. Ihr Hals tat mittlerweile richtig weh, besonders beim Schlucken. Der Schmerz zog sich bis zu den Ohren hoch. Jeder Schritt war doppelt so anstrengend wie sonst, und eine Art tauber Nebel hing in ihrem Kopf. Ganz zu schweigen von dem rasselnden Husten, der sie anfallsartig überkam. Die heiße Zitrone von Jenny hatte Elli kurz von innen gewärmt, aber jetzt drang die nasse Kälte durch ihre nutzlose Windjacke und Elli fror bis in die Zehenspitzen. Sie musste unbedingt morgen im Tageszentrum fragen, ob sie ihr was gegen die Erkältung geben konnten. Oder zum Arzt gehen, es gab in der Bahnhofsmission einmal in der Woche jemanden, der die Leute kostenlos untersuchte, aber ob der ausgerechnet morgen dort war?
Ein Geräusch wehte zu ihr hinüber. Es klang wie ein Schluchzen. Das kam von Fiona. Elli blieb stehen. Das Mädchen war ein paar Meter die Straße entlanggelaufen und stand jetzt unter einer Lampe an der Bushaltestelle. Natürlich zog sie sofort ihr Handy heraus und wischte darauf herum, schrieb Nachrichten, zerquetschte es fast. Dann rief sie jemanden an.
»… ist im Joker. Du weißt schon, diese amerikanische Sportbar. Kati hat ihn reingehen sehen. Ich geh da jetzt hin.« Einen Augenblick schwieg das Mädchen. Offenbar fand ihre unbekannte Gesprächspartnerin, dass das keine gute Idee war, aber Fiona schnitt ihr das Wort ab.
»Das ist mir egal. Ich lass mich doch nicht so einfach von ihm …« Der Rest ging im Verkehrslärm unter.
Elli seufzte. Das Mädchen tat ihr leid, aber Elli wollte nur in ihre Gartenlaube, von der sie hoffte, dass sie heute wieder einigermaßen warm war. Sie musste dringend ihr Handy aufladen, wenigstens ein bisschen. Das hier ging sie nichts an. Außerdem öffnete sich jetzt die Haustür und die Mutter der Mädchen kam heraus. Noch im Laufen zog sie sich einen Mantel über.
»Fiona!«, rief sie. Es klang besorgt. Dann entdeckte sie ihre Tochter und ihr Ton änderte sich. »Was soll das? Spinnst du? Du kommst sofort wieder rein. Du kannst doch nicht einfach so ohne Erklärung wegrennen!«
Elli drehte sich ein wenig zur Seite, damit Fionas Mutter sie nicht erkannte. Es war ihr peinlich, dass sie hier wie ein Stalker stand und die Familie beobachtete. Die Frau redete weiter auf Fiona ein, während sie das Mädchen mit sich zog. Fiona heulte und verteidigte sich lautstark. Egal. Elli beschloss, heute mal verschwenderisch zu sein und den Bus zu nehmen, damit sie nicht den langen Weg zum Bahnhof Lindenfels in der Kälte laufen und ihre Tasche ziehen musste. Die Leuchtanzeige an der Haltestelle verkündete, dass der nächste Bus in zehn Minuten kam, und Elli nahm Fionas Platz dort ein. Ein plötzlicher Hustenanfall zerriss ihr fast die Brust.
»Klingt nicht gut«, bemerkte die ältere Frau, die neben ihr wartete.
Ein wenig Mitleid an einem nasskalten Novemberabend, es geschahen noch Zeichen und Wunder. »Fühlt sich auch nicht gut an«, erwiderte Elli schwach.
»Meiner hat’s ja auch mit den Bronchien«, erklärte die Frau, ohne näher darauf einzugehen, wen sie damit meinte, und dann erging sie sich in einer langwierigen Schilderung überfüllter Wartezimmer, in denen der Ihrige ganze Stunden verbrachte, und regte sich über die seltsamen Abrechnungsverfahren der Krankenkassen auf. Elli hörte zu und hustete hin und wieder ihre Zustimmung in die Nacht hinaus.
Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung schräg über sich wahr. Es kam vom Dach des Hauses, in dem Leonie wohnte. Besser gesagt, vom Zimmer auf der rechten Seite. Dort ging jetzt das Licht aus und das Fenster wurde weit geöffnet. Eine Gestalt beugte sich heraus und schien die Umgebung abzuchecken. Rasch schwang sie ein Bein heraus, dann noch eins. Es war Fiona, die das Fenster hinter sich anlehnte und mit einem Hopser auf das Garagendach hinuntersprang. Ein dumpfes Geräusch erklang, das Mädchen hielt kurz inne. Elli sah ihr fassungslos zu. Die Frau neben ihr hatte nichts mitgekriegt und plapperte unverdrossen weiter.
Fiona lief über das Garagendach, legte sich am anderen Ende auf den Bauch und ließ sich hinuntergleiten. Kurz war sie verschwunden, dann tauchte sie wieder auf und lief eilig in Richtung Haltestelle. Elli hielt die Luft an. Im Haus regte sich nichts, keiner schien etwas gemerkt zu haben. Fiona kam auf Elli zu, sah durch sie hindurch, ging weiter und zog im Laufen ihr Handy heraus. Wo wollte sie hin? Sollte Elli irgendwas sagen? Irgendwas machen? Etwa bei Leonies Eltern klingeln? Sie fing an zu schwitzen, obwohl ihr so kalt war. Oder bekam sie Fieber?
»… dann habe ich mich beschwert, denn wenn ich schon pro Quartal zwanzig Euro für die Augentropfen dazuzahle, dann sehe ich nicht ein, dass ich …«
»Entschuldigung«, unterbrach Elli den Redefluss der Frau. »Ich bin an der falschen Haltestelle.« Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie sich in Bewegung und folgte Fiona. Zum Glück lief das Mädchen jetzt langsamer, weil sie beim Laufen eine Nachricht nach der anderen tippte, sodass Elli problemlos mit ihrem Tempo mithielt.
Manchmal waren die ewigen Smartphones doch zu etwas gut.
Fiona hatte sich die Kapuze übergezogen und glitt wie eine kleine Katze durch den abendlichen Fußgängerverkehr.
Elli wusste selbst nicht so richtig, warum sie ihr hinterherlief. Sobald das Mädchen in einen Bus oder in eine Straßenbahn stieg, war es mit der Verfolgung sowieso vorbei, denn für eine Fahrkarte konnte und wollte sie kein Geld ausgeben. Jetzt wurde Fiona langsamer und blieb in einer kleinen Seitenstraße vor einem chinesischen Imbiss stehen. Beinahe wäre Elli in sie hineingelaufen, und so blieb ihr nichts weiter übrig, als mit ihrer Tasche im Schlepptau vorbeizuziehen und so zu tun, als sei sie eine Reisende auf dem Weg zum Bahnhof. Was ja auch beinahe stimmte.
»Er ist nicht mehr im Joker«, hörte sie Fiona hinter sich leise in ihr Handy sprechen. »Ich kann ihn noch auf Snapchat orten, das hat er ganz vergessen. Er ist in so einem Asia-Dings und …« Sie verstummte.
Elli blieb vor dem Schaufenster des nächsten Ladens stehen und betrachtete betont interessiert die Wollknäuel und Stricknadeln in der Auslage. Günstigerweise hatte sie von hier aus gleichzeitig das Fenster des Asia-Imbisses im Blick und da sah sie es. Fionas Exfreund saß dort mit einem Mädchen, dessen gestylte Augenbrauen sich wie schwarze Raupen über ihren Augen breitmachten.
Die war auch nicht viel älter als Fiona, stellte Elli fest. So viel zu seiner Behauptung, Fiona wäre ihm zu jung. Die beiden küssten sich jetzt hingebungsvoll. Es hörte gar nicht mehr auf. Elli schielte nach links. Fionas Anblick war herzzerreißend. Tränen liefen ihr über das Gesicht, während sie mit glasigen Augen in den Laden starrte. Jetzt schoss das Mädchen ein Foto des verliebten Paares, für wen auch immer. Jeden Moment würden die beiden sie bemerken.
»Geh weg«, wollte Elli rufen. »Wenn sie dich sehen, machst du alles nur schlimmer.« Sie setzte zu einer Bemerkung an, aber ausgerechnet in diesem Moment schüttelte sie ein Hustenanfall mit der Heftigkeit eines Vulkanausbruchs. Fiona zuckte zusammen. Dann setzte sie sich in Bewegung, lief schneller und schneller, wahrscheinlich von Wut angetrieben. Elli konnte ihr kaum folgen. Zum Glück blieb Fiona immer wieder stehen, um mit ihrem Handy herumzufummeln, sodass Elli kurz nach Luft schnappen konnte. Wenigstens bewegten sie sich in die Richtung, in die Elli sowieso musste. Sie hoffte wirklich, dass Fiona nun wieder nach Hause ging, nachdem sie gesehen hatte, was sie sehen musste. Der Bahnhof Lindenfels war nicht mehr weit, Elli erkannte die Graffiti-Rohre und die ewig geschlossene Karaoke-Bar. Sie war fast zu Hause und die Sehnsucht nach der klammen Couch in der Laube wurde geradezu körperlich.
Es hatte allerdings nicht den Anschein, als ob Fiona nach Hause wollte, dazu hätte sie umdrehen müssen. Seltsam. Fiona lief weiter, in Richtung Bahnhof Lindenfels. Wollte sie irgendwohin fahren?
Nein, sie schlug zu Ellis Verblüffung den Weg zu den Gartenanlagen ein, fast, als wollte sie Elli nach Hause führen. Auf der Brücke über den Gleisen blieb das Mädchen stehen und hämmerte hastig Nachricht um Nachricht in ihr Handy. Sie schluchzte und wischte sich über das Gesicht. Dann schoss sie ein Selfie von sich auf der Brücke.
Elli sah sich verunsichert um. Es war niemand anderes hier. Sollte sie einfach vorbeigehen? Sie war fast zu Hause, die Couch in der Laube nur noch einen halben Kilometer entfernt. In dem Moment stützte Fiona sich auf das hohe Brückengeländer, sah hinunter auf die Gleise und schwang dann ein Bein über die Brüstung, sodass sie rittlings auf dem Geländer saß. Sie schoss ein weiteres Selfie, diesmal von oben. Damit man den Abgrund unter ihr sehen konnte? Elli blieb fast das Herz stehen. Gingen Teenies heutzutage so weit, um coole Fotos zu schießen? Nein, dazu passte Fionas verheultes Gesicht nicht. Eine kalte Vorahnung überkam Elli, kälter als der Wind, der ihr um die Ohren pfiff.
»Mein Gott, Mädchen, du wirst doch nicht …« Elli ließ ihre Tasche fallen. Sie musste Fiona da runterbekommen. Aus den Augenwinkeln nahm sie von unten einen Lichtschein wahr. Ein Flackern, wie von einem Feuer. Das kam von unter der Brücke! Dort unten, in dem Grasstück neben den Gleisen, lagerten oft obdachlose Männer, unter Umständen kannte Elli sogar einen von ihnen. Sie verspürte zwar nicht die geringste Lust, sich mit ihrem kratzenden Hals und müden Gliedern irgendwelchen angetrunkenen Typen zu nähern, die bei ihrem Anblick ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und Angeboten loslassen und sie anschließend beklauen würden. Aber das hier war ein Notfall, und sie konnte nicht mal jemanden anrufen, weil ihr Handy keinen Saft mehr hatte.
Sie schob ihre Tasche mit dem Fuß in ein Gebüsch, lief zurück zum Anfang der Brücke und beugte sich über das Geländer. In der Tat – da unten brannte ein kleines Feuer und davor saß jemand, dick in eine Decke eingemummelt.
»Micha«, rief Elli erleichtert. Noch nie war sie so froh gewesen, seine abgerissene Gestalt zu sehen.
Er sah hoch. »Elvis? Bist du das? Kommst du mich besuchen?«
»Komm schnell, bitte. Da vorn ist ein Mädchen, das kenne ich. Also eigentlich nicht sie, ihre Familie, ihre Schwester, ach, egal. Die klettert auf dem Brückengeländer herum und ich weiß nicht …«
Micha sah sie fragend an.
»Komm einfach. Bitte!«
Micha brummte etwas, er klang wie ein genervter Familienvater, der gerade aus dem Büro gekommen war und sich gemütlich Fußball ansehen wollte und nun stattdessen bei den Hausaufgaben helfen und die Spülmaschine reparieren musste. Und vielleicht wäre er das in einem alternativen Universum auch geworden, dachte Elli mit einem winzigen Anflug von Wehmut, als sie zusah, wie er sich aus seiner wärmenden Decke schälte und den Weg zur Brücke hochstolperte. Er hatte ein gutes Herz, aber darauf nahm das Schicksal bekanntlich keine Rücksicht.
»Scheiße, will die etwa da runterspringen?« Micha rannte an Elli vorbei zu Fiona, die auf dem Brückengeländer saß und wie hypnotisiert in die Tiefe starrte. Lediglich ihre Hände krallten sich noch um das Geländer.
Elli rannte ihm hinterher. »Nicht!« Sie schnappte nach Luft, ihre Lungen standen in Flammen. »Fiona, mach das nicht! Denk an Leonie und an deine Mama und deinen Papa.«
»Mach das nicht«, rief nun auch Micha, der das Mädchen fast erreicht hatte.
Fiona hob wie in Zeitlupe ihren Kopf und blickte verwirrt zu Elli. Fragte sich vielleicht, woher die ihren Namen kannte. Sie löste eine Hand vom Geländer, aber da war Micha bereits bei ihr und hielt sie mit aller Kraft, die noch in ihm steckte, fest.
Elli rannte keuchend die letzten Meter und griff nach Fionas anderem Arm. Mit einem Ruck zogen sie das Mädchen vom Geländer. Fiona fiel auf die Straße, Micha auf sie drauf, Elli landete daneben.
»Lasst mich los«, schrie Fiona wie von Sinnen. »Hau ab, du stinkst! Lasst mich in Ruhe!«
»Du dumme Göre«, schimpfte Micha voller Wut. »Sollen wir zusehen, wie du runterfällst? Mitten in mein Wohnzimmer?«
»Was? Lass mich los!« Das Mädchen heulte und strampelte.
»Elli, halt sie fest«, keuchte Micha.
»Fiona, bitte«, versuchte es Elli, aber in diesem Moment quietschten die Bremsen eines Autos. Ein BMW hielt neben ihnen an und ein Mann sprang heraus.
»Aufhören!«, brüllte er Elli und Micha an. »Lasst das Mädchen los!« Er zog sein Handy heraus und wählte eine Nummer. »Polizei«, rief er hinein. »Zur Eisenbahnbrücke Lindenfels, zwei Penner haben hier gerade ein Mädchen überfallen und …«
Mehr musste Elli nicht hören. Sie ließ Fionas Arm los und schleppte sich, so schnell sie konnte, weg, über die Brücke in Richtung Gartenanlage. Meine Tasche, dachte sie beim Laufen, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Wieder hatte sie alles verloren, aber das war jetzt egal. Sie musste weg von hier. Jeder Atemzug tat weh und ihre Augen tränten. Kurz bevor sie in die Gartenanlage einbog, sah sie sich noch einmal um. Fiona saß auf der Straße, der Mann redete auf sie ein, sein Handy am Ohr. Micha war nicht zu sehen, der hatte sich ebenfalls aus dem Staub gemacht. Leuten wie ihnen glaubte sowieso nie jemand.
In der Laube war heute keine Heizung an, aber nach der eisigen Kälte draußen kam Elli der Raum trotzdem warm vor. Sie schwitzte richtig, gleichzeitig klapperten ihre Zähne. Ihr Husten klang viel zu laut in der abendlichen Stille der Gartenanlage, und sie hoffte, dass keiner sie hörte. Sie trank ein wenig von dem Wasser dort, obwohl es etwas abgestanden schmeckte, und legte sich in ihrer Jacke und mit Schuhen auf die Couch. Alles tat weh. Elli zog die Beine an und rollte sich zu einem Ball zusammen. Hauptsache, Fiona war nichts passiert. Ellis Tasche war garantiert morgen nicht mehr da und sie konnte sich nicht mehr im Park vor Leonies Haus sehen lassen. Die Vorstellung, dass Fiona sie erkennen und um Hilfe rufen würde, war zu demütigend.
Elli würde Leonie nicht mehr treffen können. Bei diesem Gedanken kamen ihr die Tränen. Was hatte sie nur verbrochen, dass ihr das Leben immer wieder solche Hürden in den Weg legte? Damals auf dem Bahnhof, neben dem Koffer mit ihrem einzigen Besitz, da hatte sie geglaubt, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte.