Kapitel 2 - Plastikbaum und Feiertage
Der warme Herbst wich langsam den klirrend kalten Tagen des Winters, der erste Schnee fiel bereits Anfang Dezember und endlich, kurz vor Weihnachten, begann die vorlesungsfreie Zeit.
»Was denkst du?«
»Hm?«
Rohan und Josh hatten es sich in dicken Rollkragenpullovern mit einem großen Teller selbstgebackener Kekse auf ihrer Couch gemütlich gemacht. Der eine mit einem fetten Wälzer, der andere mit seiner Gitarre, um einen seiner neuen Songs zu üben, den er leise auf den Saiten zupfte.
»Wo möchtest du dieses Jahr eigentlich Weihnachten verbringen?«, fragte Josh aus heiterem Himmel. »Fährst du zu Riedell?«
»Quatsch. Der feiert mit seiner Frau. Die haben sich mal wieder vertragen.«
»Hm. Na ja, Dana ist bereits bei ihren Verwandten in der Schweiz und kommt erst am Sechsundzwanzigsten wieder, bis dahin bin ich auch allein. Also ... wollen wir wie immer mit unserer Rabenmutter feiern?«
Karin war damals mehr als erfreut gewesen, ihre kleine Wohnung wieder für sich zu haben, und entspannt, weil ihre beiden Söhne studierten, was sie natürlich ihrer guten Erziehung
zuschrieb. Sie musste sich um nichts kümmern, so wie immer, und so war es ihr auch am liebsten. Dann zog ihr aktueller Freund bei ihr ein, in Joshs altes Zimmer, und sie ließ nichts mehr von sich hören, was bedeutete, dass die Beziehung gut lief. Anfang des Monats ließ er sie jedoch für eine andere sitzen und wechselte seinen Lebensmittelpunkt, weshalb sie allein dastand. Seitdem suchte sie wieder Kontakt zu ihren zwei Söhnen, von denen sie schon so lange nichts mehr gehört hatte. Sie war es ja gewohnt, sich auf ihren Ältesten verlassen zu können, deshalb wunderte sie sich auch nicht, als Josh nur salopp meinte, dass alles in Ordnung sei, als sie ihn kürzlich anrief, um die beiden zu Weihnachten einzuladen.
»Haben wir denn eine Wahl?«, fragte Rohan etwas brummig, denn
auch wenn er sie trotz allem irgendwie liebte, konnte er sich deutlich Besseres vorstellen, als den Weihnachtsabend in der verqualmten Dreckbude ihrer Mutter zu verbringen.
»Na ja«, sagte Josh mit Hoffnung erweckendem Unterton. »Du weißt ja, wie es bei ihr immer abläuft. Sie kauft Dosenfutter, gibt uns ein paar Werbegeschenke und dann sitzen wir die ganze Zeit vor dem Fernseher und hören bei ihren Schimpftiraden zu.«
»Aber wir können sie doch auch nicht völlig alleine sitzen lassen, oder? Außerdem ist es immer noch besser bei ihr, als wenn wir hier in der Bude hocken. Ich hätte gerne wenigstens einmal im Jahr so ein bisschen das Gefühl, eine intakte Familie zu haben.« Rohan konnte ein Seufzen nicht unterdrücken, denn dieses Thema setzte ihm zu. Auch wenn man es ihm nicht ansah, so war er tief im Inneren doch ein Familienmensch, aber dann fiel ihm etwas ein und er schaute betrübt zu Boden. »Ach stimmt, ich vergaß! Du kannst ja jetzt sicher auch bei Renè und seiner Familie feiern. Da gibt es bestimmt einen richtigen
Gänsebraten, vernünftige
Geschenke und einen echten
Weihnachtsbaum. Nicht so ein zwanzig Jahre altes, ausgefranstes Plastikteil wie bei Mama, das nach Keller und Rattenpisse stinkt. Aber hey, wenn wir Glück haben, kauft sie dieses Jahr vielleicht mal Ravioli mit Geflügel.«
Josh wusste, dass dieses Thema nicht einfach werden würde, aber Rohan hatte recht. Er besaß nun tatsächlich so etwas wie eine richtige und vor allem kultivierte Familie, sein Bruder hatte jedoch nach wie vor niemanden, außer ihrer Mutter und ihm.
Just in diesem Moment klingelte Joshs Handy.
»Oh, da ist wieder einer wichtig«, brummte Rohan noch immer etwas knurrig.
»Hallöchen«, meldete sich Josh fröhlich, als er die Nummer seines Vaters auf dem Display sah. Wie abgesprochen begann dieser auch direkt mit dem richtigen Thema.
»Hallo Josh, na wie gehts? Bella und ich wollten dich fragen, ob du nicht Weihnachten zu uns kommen möchtest? Paula und Anna haben schon ganz fleißig Geschenke für dich gebastelt und würden sich sehr freuen, wenn du mit uns feierst.«
Durch die Lautstärke des Telefons bekam Rohan sofort mit, worum es ging. Er stand auf, drückte Josh einen zarten Kuss auf die Wange
und flüsterte ihm »Geh ruhig hin!« ins freie Ohr. Dabei lächelte er tapfer, doch man sah ihm an, dass er den Tränen nahe war, bevor er das Zimmer verließ.
»Joshua? Bist du noch dran? Josh ...!?«
»Äh ... ja?!«
»Super, da freu ich mich aber! Ich hole dich dann am Heiligabend so gegen zwölf Uhr vom Wohnheim ab! Nimm dir doch deine Zahnbürste und was zum Schlafen mit, damit du bis zum ersten Feiertag hierbleiben kannst. Wird immer alles recht spät bei uns und abends fahren ja auch keine Züge mehr! Also, bis übermorgen!«
Bevor Josh irgendeine Antwort geben oder Widerworte einlegen konnte, hatte sein Vater bereits aufgelegt. Er fühlte sich echt mies. Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt zuzusagen, und nun würde er zum ersten Mal seit seiner Geburt ein richtiges Weihnachtsfest erleben, aber an diesem besonderen Tag ohne Rohan sein. Betrübt ging er in dessen Zimmer. »Hey!?«, machte er sich mit leiser Stimme bemerkbar. Rohan lag auf dem Bett und spielte mit seiner Konsole. Das tat er in letzter Zeit nur noch, wenn er Probleme hatte und sich ablenken wollte. Josh setzte sich zu ihm. »Willst du nicht mitkommen? Ich kann Renè noch einmal zurückrufen und fragen, ob du nicht auch hinkommen kannst?«
Rohan stoppte sein Geballere, legte den Controller zur Seite und setzte sich auf. »Wie stellst du dir das denn vor? Bella hat mit dir schon fünf Mäuler zu stopfen und ich esse für drei, wie du weißt. Ich weiß, dass Renè allein aus Höflichkeit zustimmen würde, aber seien wir mal realistisch. Es ist deine
Familie, nicht meine. Ich hab mit denen überhaupt nichts zu tun und bin auch nicht im Entferntesten mit einem von ihnen verwandt. Außerdem kann ich Mama nicht alleine lassen.« Er seufzte, doch dann klopfte er Josh aufmunternd auf den Rücken, um ihm nicht die Vorfreude zu versauen. »Mach dir mal keinen Kopf! Ich geh für ein paar Stunden zu ihr, und wenns mir zu blöd wird, fahr ich ins Silence. Dort steigt in der Nacht die Fuck the Christ’s –
Party mit den heiligen drei Bläsern. Die will ich mir nicht entgehen lassen.«
Josh rollte mit den Augen, schnaufte ein betrübtes »Okay« und umarmte ihn. Es würde wohl für beide ein interessantes Fest werden.
***
Am Heiligabend stand René überpünktlich um halb zwölf vor der Tür.
»Du bist zu früh, Papa!«, motzte Josh und hüpfte auf einem Bein durch die Wohnung, weil er sich gerade in seine einzige Anzughose zu quetschen versuchte. »Ich hab noch ’ne halbe Stunde!«
»Oh, kein Ding! Lass dir Zeit, ich schau mich inzwischen mal in eurem Stübchen hier um.«
Fröhlich pfeifend schlenderte René über den Flur und sah sich den herumstehenden Nippes an, als plötzlich neben ihm die Badtür aufging. Rohan kam gerade aus der Dusche und hatte noch gar nicht mitbekommen, dass Renè bereits da war. Wie immer hatte er sich nur abgetrocknet und das Handtuch dann über seine Schultern gelegt, damit seine nassen Haare darauf lufttrocknen konnten. Etwas perplex stand er daher nackt vor dem Vater seines Halbbruders, welcher ihn trotzdem freundlich anlächelte.
»Hallo, hübscher Mann. Frohe Weihnachten!«, wurde er in einem überschwänglichen Ton begrüßt.
»Äh ... ja.« Rohan ignorierte den peinlichen Umstand seiner Nacktheit, ließ sich von dem Doc kurz umarmen, rieb dann seine Haare weiter mit dem Handtuch trocken und erwiderte im Vorbeigehen nur beiläufig: »Ebenfalls.«
Josh, der endlich seine Hose geschlossen hatte, kam ihm im Wohnzimmer entgegen und sah ihn geschockt an. »Ey! Lauf doch hier nicht so rum! Mein Vater ist hier! Wenn der dich so sieht, dann -«
»Hat er schon!« In seinem Zimmer zog sich Rohan seelenruhig an. Im Gegensatz zu Josh besaß er immer noch keinen Anzug und trug deshalb nur eine schwarze Stoffhose mit Bootcut und einen eng anliegenden, dunkelroten Rollkragenpullover, der so dünn war, dass man seine harten Nippel durchscheinen sah. Seine Haare ließ er offen.
Josh klopfte an seiner Tür und reichte ihm eine Tüte. »Hier drin ist mein Geschenk für dich, aber mach es erst auf, wenn Bescherung bei Mama ist und du von ihr dein Hundefutter bekommen hast!« Josh grinste. »Außerdem ist ein Geschenk für Mum drin, das kannst du ihr von uns beiden geben. Eine Karte ist auch dabei.«
Rohan lächelte etwas traurig und nahm seinen Bruder in den Arm,
während er sich bei ihm bedankte. »Ich hab auch was für dich, aber ich trau mich nicht, es dir zu geben, es wirkt sicher schäbig gegen die Geschenke deines Vaters.«
Josh pikste Rohan aufmunternd in die Seite. »Her damit! Deine Geschenke waren für mich bisher immer die schönsten und das werden sie auch bleiben!«
Rohan schloss kurz seine Tür, damit Renè nichts mitbekam, dann zog er Josh in seine Arme und küsste ihn innig. Joshua bemerkte dabei dessen hart werdenden Schwanz, was ihm ein prustendes Lachen entlockte. »Ist es das? Wie um Himmelswillen soll ich den
denn unter dem Weihnachtsbaum hervorholen und auspacken?«
Grinsend schüttelte Rohan den Kopf. »Den kriegst du, wenn du zurück bist! Aber vorher ...« Er hockte sich hin und zog unter dem Bett ein Paket hervor, welches ungefähr so groß wie ein Schuhkarton war. In geprägtes, schwarzes Geschenkpapier eingepackt und mit einem silbernen Seidenband versehen, dessen Schleife sogar versiegelt war, wirkte es richtig edel. »Hier.«
Josh nahm strahlend sein Geschenk entgegen und fiel seinem Bruder dann in die Arme. »Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch auf Erden, der Weihnachtsgeschenke in Schwarz
verpackt! Du bist ein Schatz! Dankeschön! Würde es am liebsten jetzt schon aufmachen ...«
Renè saß derweil im Wohnzimmer und wartete, bis Josh herauskam, hastig seine Tasche schnappte und zum Gehen bereit schien. Als sie beide auf der Türschwelle standen, verabschiedete Josh sich etwas unbeholfen von seinem Bruder.
»Ich ... ich weiß gar nicht, was ich jetzt sagen soll. Also ich wünsch dir und Mama einen schönen Abend ... und ... wenn irgendwas
sein sollte, dann ruf mich einfach an, ja? Auch wenn es mitten in der Nacht ist!«
Rohan nickte nur und nahm ihn in den Arm. Ein dicker Kloß steckte ihm im Hals. Er hasste diese Momente. »Wird schon, mach dir keine Sorgen! Ist doch nur ein popeliger Abend.« Trotzdem fühlte es sich an, als würden sie sich ewig nicht wiedersehen. Am liebsten hätte er Josh gar nicht mehr losgelassen, doch da klopfte ihm Renè bereits auf die Schulter.
»Grüß Karin von mir, ja?« Vater und Sohn gingen und das Klacken
des zufallenden Türschlosses halte dumpf durch den Flur.
Rohan war allein. Vollkommen allein.
Er wischte sich eine Träne aus dem Auge und lehnte sich tief durchatmend gegen die Wand.
»Reiß dich zusammen, du bist keine zehn mehr! Du kannst dich nicht immer an ihn hängen!«
***
Nach einer Stunde fuhr Rohan zu seiner Mutter in die alte, kleine Neubauwohnung. Das Treppenhaus stank nach Bohnensuppe und kitschige Weihnachtsmusik schallte durch die Gänge. Karin stand bereits an der Tür, als er die Treppe heraufkam. Ihre Haare waren inzwischen rot gefärbt, sie hatte eines ihrer aufreizenden Minikleider an, für das sie schon vor zehn Jahren zu alt war, und sie trug geschätzte drei Kilo Make-up. Also alles wie immer.
»Hallo Schätzchen!«, rief sie mit ihrer kratzigen Raucherstimme. »Na, du siehst ja wieder aus wie der Tod auf Latschen! Wann bist du nur endlich aus dieser schwarzen Phase raus? Geh mal ins Sonnenstudio! Wo ist Josh?«
Rohan seufzte und beantwortete alle Fragen der Reihe nach. »Hallo. Danke, ist Absicht! Niemals! Vergiss es! Bei seinem Vater! «
»Ach?« Karin sah ihn entsetzt an. »Joshua hat ja erzählt, dass Renè wieder Kontakt zu ihm aufgenommen hat, aber deswegen
zu Weihnachten seine Mutter zu versetzen, die sich sein Leben lang
um ihn gekümmert
hat, ist ja wirklich ein ganz schön hartes Stück!
Na ja, wenn er sich bei ihm und seiner Schlampe mit den Gören lieber aufhält, bitte! Dann machen wir zwei Hübschen uns halt allein einen schönen Abend, nicht wahr?«
Rohan biss die Zähne zusammen, sagte nichts und grummelte nur, was seiner Mutter aber nicht weiter auffiel. Er fragte sich bis heute, warum sie Renè damals Joshs Nummer gegeben hatte, doch vermutlich war es eine Kurzschlussreaktion, über die sie selbst gar nicht nachgedacht hatte. Sie hatte ja nichts mehr zu verlieren, denn sobald ihre Söhne raus waren, bekam sie weder Unterhalt noch Kindergeld, demnach wollte sie vermutlich einfach nochmal gut dastehen.
In dem kleinen, rot beleuchteten Wohnzimmer stand der altbekannte, bunt behangene Krüppel-Weihnachtsbaum aus Plastik,
welcher überraschend nach chinesischem Essen roch, so wie der Rest der Wohnung. Eine Etage über ihnen brüllten ein paar betrunkene Männer herum, offensichtlich verfolgten sie die Aufzeichnung eines Fußballspiels. Nebenan protestierte ein Kind lautstark gegen seine neuen Strumpfhosen und unter ihnen kläffte ein Hund in Dauerschleife. Der Gestank nach abgestandenem Zigarettenqualm hing in der Luft, doch Rohan nahm ihn kaum noch wahr, als er seinen Mantel und seine Stiefel auszog.
Plötzlich glotzte ihm seine Mutter schockiert auf die durchscheinenden Nippel und lupfte dann auch noch seinen Pullover. Sie starrte auf seinen muskulösen Bauch und pfiff anerkennend.
»Meine Güte, Roi! Du bist ja ein richtiger Mann geworden! Hast eine wirklich tolle Figur gekriegt!« Rohan sah sie nur leicht unbeholfen an, doch bevor er etwas sagen konnte, gaffte ihm Karin auch noch völlig schamlos auf den Schritt. »Mensch ... und ein stattliches Teil hast du auch.« Dabei grinste sie anzüglich, als würde sie darüber nachdenken, was sie damit anstellen könnte.
Rohan räusperte sich peinlich berührt und zupfte dann beherzt ihre Hände von seinem Körper. »Wir haben ein Geschenk für dich«, sagte er schnell, um die Thematik in eine andere Richtung zu lenken. Karin freute sich wie ein Kind und vergaß alles andere, als sie das Mitbringsel entgegennahm. In der bunten Weihnachtstüte befand sich ein wunderschöner, gestreifter Rock mit gedrehtem Y-Schnitt. Josh wusste genau, dass seine Mutter solche Röcke liebte, nur leider war die Marke sehr teuer.
»Ui! Der ist ja hübsch!«, quietschte sie, doch Rohan nickte nur und war froh, sich bei solchen Sachen auf seinen Bruder verlassen zu können. Er hatte sein Geschenk von Josh bei sich in der Wohnung gelassen, um es in Ruhe alleine aufmachen zu können, falls es etwas Privates war.
»Hier, das ist für euch beide!« Sie reichte ihrem Sohn eine blaue Tasche, auf der mit weißer Schrift Nivea
stand. Es waren Kosmetikpröbchen drin. »Es gab leider nur eine pro Person, aber ihr wohnt ja eh zusammen!« Dabei nahm sie schon ihre Jacke und schob ihren Sohn beiseite. »Ich geh mal schnell zum Imbiss runter und hol uns ’ne schöne, frische Weihnachtspizza! Hab extra eine bei Luigi
vorbestellt.«
So verbrachte Rohan den weiteren Abend mit einer fettigen Mahlzeit, lärmenden Nachbarn und einer Mutter, die ihn nicht mehr beachtete, sobald sie den Fernseher mit den Weihnachtsrevuen eingeschaltet hatte. Deshalb ging er schon bald wieder los, setzte sich in die Bahn und fuhr nach Hause. Auf das Silence hatte er die Lust verloren.
***
Zur gleichen Zeit, nach einem deftigen Gänsebraten, Kartoffeln, Rotkohl und allem, was sonst noch dazu gehört, machten sich auch Renè und Bella bereit, die Bescherung zu eröffnen, nach der die beiden kleinen Mädchen schon die ganze Zeit quengelten.
Der prachtvolle, große Weihnachtsbaum beeindruckte mit seinen perfekt abgestimmten blau-silbernen Kugeln, weiterer farblich passender Dekoration und Lichtern an seinen Ästen. Josh kam sich vor wie in einer dieser amerikanischen Familien-Fernsehserien.
Paula und Anna, beide in niedlichen, weißen Kleidchen, mussten ein Weihnachtslied singen und ein Gedicht aufsagen, bevor sie sich über die Geschenke hermachen durften. Emil saß in einem kleinen Matrosenanzug da und spielte bereits mit seinem neuen Baby-Xylophon.
Als Arzt verdiente Renè natürlich nicht schlecht und konnte daher so gut wie jeden Wunsch seiner Kinder erfüllen. Aber auch seine Frau, die in einem roten Samtkleid neben ihrem Anzug tragenden Mann saß, bekam in Elternzeit zumindest um die siebzig Prozent ihres vorherigen Gehalts und konnte so auch nochmal einen guten Teil beisteuern. Ihr schenkte Renè eine wunderschöne Kette, Paula bekam neue Modepuppen mit Sprachsensor und für Anna gab es das große Schaukelpferd, was sie sich so sehr gewünscht hatte. Darüber hinaus wurden die beiden noch mit jeder Menge Kleinkram beschenkt.
Dann kam Josh an die Reihe. Paula und Anna hielten ihm ihre selbst gemalten Bilder unter die Nase, für die er sich eifrig bedankte, obwohl er nicht wirklich etwas damit anzufangen wusste. Auf Annas waren farbenfrohe Kleckse mit enthusiastischen Strichen zu sehen, bei Paula konnte man eine Familie erkennen.
»Ah, lass mich raten! Das hier ist deine Mama, das ist dein Papa,
die süßen Mäuse in der Mitte sind Anna und du und der Klops da ist Emil. Ah und das hier bin ich?«
»Jaaaaa!«, bestätigte sie strahlend. »Und weißt du auch, wer das ist?« Dabei zeigte sie auf die letzte Person auf dem Bild, die Josh wegen der schwarzen Klamotten und langen Haaren einfach zu erraten schien.
»Na aber klar, das ist Rohan, stimmts?«
»Falsch!«, verkündete sie schadenfroh und erklärte nachdrücklich: »Das ist Goh! Der ist immer nur schwarz angezogen, den kann man doch gar nicht verwechseln!«
»Na ja, die beiden sind sich aber schon ziemlich ähnlich«, warf Bella ein. Versteckt hinter ihrem Weinglas legte sie sogar noch nach: »Die könnten fast Vater und Sohn sein.«
Josh sah nicht, wie Renè seiner Frau einen strafenden Blick zuwarf, und er selbst kam gar nicht dazu, darüber nachzudenken, denn schon schob ihm sein Dad ein riesiges Geschenk rüber, das ziemlich schwer zu sein schien.
»Hier, das ist von Bella und mir. Wir hoffen, es gefällt dir, auch wenn wir ja leider noch nicht so genau wissen, was du magst.«
Josh bedankte sich überschwänglich. Das Paket war mindestens sechzig Zentimeter hoch und mit blauem Glanzpapier umwickelt. Eilig öffnete er es und fühlte sich dabei wie ein kleines Kind, doch als er erkannte, was es war, blieb ihm die Spucke weg. Vor ihm stand ein nagelneuer Komplett-PC! So ein richtig schickes Teil mit durchsichtigem Gehäuse, Wasserkühlung und Neonröhrenbeleuchtung! Dazu gab es die passende Maus, einen zwanzig Zoll Bildschirm und eine Tastatur!
»Das ist der Neue aus der IT-3000 Serie. Du hast mir ja erzählt, dass du mit dem Lernen manchmal nicht hinterherkommst, und ich hoffe, diese Mühle hilft dir vielleicht. Sie ist mein Anteil, um dir in deinem Studium unter die Arme zu greifen. Ach ja, ein W-Lan-Stick mit bereits bezahlter Dreijahresflatrate ist auch dabei, damit du nicht mehr in die Bibliothek rennen brauchst, wenn du mal was recherchieren willst!«
Josh war komplett von den Socken! Dieses Teil musste ein Vermögen gekostet haben. Er stotterte seinem Vater alle Dankesworte entgegen, die ihm einfielen, während er ihn umarmte,
und auch Bella nahm er in den Arm. Niemals hätte er gedacht, dass er jemals ein so teures Geschenk bekommen würde.
Auf einmal hämmerte es so laut an der Haustür, dass Josh fast das Herz stehenblieb.
»Wenn das mal nicht der Grinch
ist«, mutmaßte Renè lächelnd, erhob sich und öffnete bedächtig die Tür.
»Tachchen!« Goh stand in seiner schneebeflockten Lederkombi vor der Tür und hielt eine große Tasche in der Hand. »Was denn hier los? Habt ihr etwa ohne mich angefangen?«
Renè lachte und umarmte seinen besten Freund zur Begrüßung. »Fröhliche Weihnachten, du Bummeltrine! Ja, wir sind schon fast fertig!«
Bella, Anna und Paula begrüßten den Angst einflößend aussehenden Mann herzlich. Die Ältere der beiden Mädchen sprang ihm sogar auf den Arm, doch er behielt seine Schuhe an und blieb im Flur stehen. »Na, meine große Dame, willst du dein Geschenk als Erste haben?« Sie jauchzte vor Freude und bejahte natürlich. »Dann gib mir ein Küsschen und zieh schnell deinen Mantel an, dafür müssen wir nämlich raus!«
Er setzte das jubelnde Mädchen ab und die zog flugs ihre Sachen an, genau wie Renè, der sich das lieber mit ansehen wollte. Dann ließ sie sich wieder hochnehmen und von Goh nach draußen durch den Schnee tragen, begleitet von den Blicken ihres skeptischen Vaters. Die anderen blieben drinnen und sahen durch das große Wohnzimmerfenster zu. Mitten im Garten stand etwas: verborgen unter einem roten Tuch und ungefähr einen halben Meter hoch und genauso lang.
»Na, dann lauf mal hin und schau es dir an«, raunte Goh, als er Paula absetzte.
Diese linste unter das Tuch und begann sofort zu jubeln, noch ehe sie es herunterriss und allen ihr Geschenk präsentierte: ein metallicrotes Pocket-Bike mit angehängtem Helm!
Sofort legte Renè Protest ein. »Ein Mini-Bike
? Goooh! Dafür ist sie viel zu jung!«
»Bin ich nicht!«, protestierte Paula und setzte sich schon mal probeweise den Helm auf.
»Wo hast du das Ding überhaupt her?«, motzte Renè weiter. »Die
sind doch wahnsinnig teuer!«
Goh blieb gelassen. »Keine Bange, wenn ich was für lau kriege, dann Motorräder. Es stammt von der Göre einer meiner Matratzen. Ich hab es runtergeschraubt auf 20 km/h und natürlich perfekt in Schuss gebracht. Außerdem sagt ja niemand, dass die Kleine damit auf der Straße fahren soll. Es ist ein offroad Modell
und auf ’nem brachliegenden Feld kann ihr nicht viel passieren, außer dass sie ein bisschen
dreckig wird!«
Auch wenn seine Worte bei dem besorgten Vater keine Begeisterung auslösten, so akzeptierte er dieses seltsame Geschenk nun zumindest ein wenig beruhigter. »Na schön. Los, lasst uns wieder reingehen. Paula, komm, du kannst es morgen ausprobieren. Heute ist es schon zu dunkel.«
Sie stellten das Miniaturmotorrad in die Garage und gingen dann zurück ins Haus. Erst nach seiner Rückkehr bemerkte Gosh, dass Josh ebenfalls anwesend war, doch er lächelte ihn an.
»Na, verschollener Sohn, du bist ja auch schon da! Gefällt dir der Rechner? Hab ich
rausgesucht! Renè hat ja von technischen Dingen nicht den blassesten Schimmer! Also, wenn du Fragen hast, immer an mich! Ach und ich hab mir mal erlaubt, auch gleich ein paar medizinische Lexika zu installieren. Hab ja gehört, dass du in die Quadratlatschen deines Vaters treten willst?!«
Danach drückte Goh der kleinen Anna übergangslos, und ohne Joshs »Vielen Dank« zu beachten, eine Spieluhr in die Hand, der man bereits ihr Alter ansah, die aber wirklich wunderschön antik und vor allem bruchsicher war. Anna freute sich besonders über die Ballerina im Inneren der Spieldose, die im Takt der Musik auf und ab schwang.
»Bella-Baby!« Er drückte Renès Frau und die lachte verlegen. »Das Beste, was ich dir schenken könnte, wäre eine Nacht mit mir ... aber das würde mir dein Mann übel nehmen, deswegen gebe ich dir das hier!«
Er reichte der etwas schockierten Bella ein winziges Päckchen, darin befanden sich zwei alte, aber sehr schöne Ohrringe mit blauen Steinen. »Die sind wunderschön, Goh ... danke. Wo kriegst du nur immer solches Zeug her?«
»Trödelmarkt«, antwortete er salopp und wandte sich zu guter
Letzt an Renè. »So, nun zu dir, mein Liebster!«
Dieser prustete lachend los. »Krieg ich
jetzt die Nacht mit dir?«
»Wenn du das willst, pack ich die obendrauf.« Goh sah ihn prüfend an. »Aber eigentlich hab ich deinen Chopper neu lackiert und ihn mit ’nem besseren Motor ausgerüstet, als du letztes Wochenende nicht da warst.«
Renè lachte. »Aahh, ich weiß genau, worauf du damit hinaus willst! Du alter Bock, du!« Er nahm Goh stürmisch in die Arme und kappelte sich freundschaftlich mit ihm.
Als Josh die beiden mit einem breiten Grinsen beobachtete, fiel ihm plötzlich Rohans Geschenk ein. Er holte es aus seinem Rucksack und hoffte nur, dass er ihm keinen Dildo oder sonst was Peinliches in der Art eingepackt hatte.
Beim Öffnen des schwarzen Pakets zitterten ihm die Hände und die anderen starrten ihn neugierig an.
Goh ließ einen Spruch los, der so klang wie »Könnte glatt von mir sein, das Päckchen«, aber keiner beachtete ihn weiter.
In dem Paket war eine Holzkiste, die einer Schatztruhe ähnelte. Sie hatte einen gerundeten Deckel, der mit silberfarbenen Scharnieren an dunkel gebeiztem Holz befestigt war, und Josh erinnerte sich, dass Rohan solche Kistchen eine Zeit lang selber gebastelt hatte, also war dieses sicher auch von ihm. Als er die kleine Truhe öffnete, entfuhr ihm ein überraschter Seufzer und Tränen schossen in seine Augen.
Im Inneren des Deckels befand sich eine Glaseinfassung und hinter dieser war ein Foto, auf dem Josh mit seiner alten, zerwuschelten Punkfrisur zu sehen war, der Rohan mit seinen damals filzigen Dreads im Arm hielt. Das Foto hatte mal irgendeiner seiner Kumpels auf dem Schulhof gemacht und Josh später geschenkt, aber dann war es mit all den Fotoalben verschwunden, die ihre Mutter in einem ihrer Wutanfälle weggeworfen hatte. Offensichtlich hatte Rohan es geschafft, trotzdem noch einmal einen Abzug davon zu bekommen. In den Boden der Truhe war etwas eingraviert, was Josh ins Licht halten musste, um es lesen zu können.
›Wie sehr du dich auch verändern magst, bitte denke immer daran: Ich werde dich auf ewig lieben!‹
Josh liefen sofort die Tränen über die Wangen und er ließ seinen
Vater ebenfalls einen Blick in das Kästchen werfen. Renè lächelte gerührt, als er die Inschrift in der liebevoll gefertigten Truhe lesen durfte, und reichte Josh sofort sein Handy.
»Hier. Ruf ihn doch mal an.« Josh tat es, aber Rohan nahm nicht ab. Renè sah, wie aufgeregt sein Sohn war, als er seinen Bruder auch mit dem achten Versuch nicht erreichte, und fragte schließlich: »Soll ich dich doch nach Hause fahren?«
»Nein, nein, er ist sicher schon in seinen Club gegangen.« Josh wusste genau, was diese Fahrerei für einen Umstand machte, außerdem wollte er seinen Vater nicht am Heiligabend von seiner Familie wegreißen. »Ich hätte mich nur gerne bei ihm bedankt.«
Goh stand auf und nahm Josh bei der Hand. »Na dann bring ich dich halt zu dem Schuppen! Ich will sowieso noch ein bisschen durch die Gegend fahren und ein paar Leuten meine weihnachtlichen Grüße auf die Schnauze drücken, also los!« Natürlich hörte man an Gohs Stimmlage die Ironie heraus, aber er wollte Josh wirklich helfen.
Renè protestierte: »Halt, halt, halt! Ihr Motorradmiezen haut nicht ab, ohne was vom Essen mitzunehmen! Und du, mein unverschämter Freund, kommst mal kurz mit hoch, ich hab auch noch was für dich!«
Bella packte inzwischen in der Küche den Rest der Gans für Josh ein, damit er sie zu Hause gemeinsam mit Rohan essen konnte. Renè zog Goh derweil nach oben ins Schlafzimmer, drückte ihn mit dem Rücken an die Wand und küsste ihn zärtlich.
»Womit hab ich denn das verdient?«, fragte der leicht irritiert lächelnd.
»Du fährst mitten am Heiligabend meinen Sohn durch die Gegend, nur weil der zu seinem Bruder will, und verzichtest deswegen auf unsere Nacht!? Das finde ich sehr lieb von dir.«
Goh lachte. »Nur weil ich zu Weihnachten immer auf eurer Couch schlafe und du dich irgendwann zu mir legst, ist das gleich unsere Nacht
? Aber nein, keine Bange, ich komme danach wieder her. Trotzdem darfst du mich gern nochmal küssen.«
***
Als sich Josh, mit vollgepacktem Rucksack, von Renè einen Helm geben ließ und sich dann hinter Goh auf dessen monströse Harley setzte, wurde ihm etwas bange.
Auch Renè verabschiedete sich besorgt. »Goh, fahr mir ja
ordentlich! Keine Spielchen, okay? Josh, ich bring dir deine Geschenke morgen mit dem Auto vorbei, falls du heute nicht wiederkommst, ja?«
»Ja, danke diraaaahh!
« Schon bretterte das Eisen los.
Josh umklammerte Halt suchend Gohs festen Bauch. Bei diesem Typen hinten zu sitzen, erschien ihm ziemlich riskant. In Windeseile fuhren sie Richtung Silence, dabei mussten sie allerdings am Wohnheim vorbei. Als Josh in ihrer Wohnung Licht brennen sah, schrie er Goh zu, dass er ihn doch bitte vor der Tür absetzen solle. Beim Absteigen zitterten ihm die Beine und Goh zeigte sich besorgt:
»Bist du sicher, dass ich schon abhauen soll? Vielleicht hat dein Bruder ja auch nur vergessen, das Licht auszumachen?«
Josh gab ihm Renès Helm. »Nein, nein! Ist schon in Ordnung. Er lässt nie das Licht an, das weiß ich! Vielen Dank fürs Fahren!«
»Kein Ding.« Goh tippte sich an die Stirn und ließ den Schnee um seine Räder verdampfen, als er mit laut dröhnendem Motor davonfuhr.
***
Josh pochte das Herz bis zum Hals, während er die Wohnungstür öffnete.
Das hell erleuchtete Wohnzimmer war leer. Hastig ging Josh in Rohans Zimmer, aber auch dort war niemand. Seine Bewegungen wurden immer hektischer, offenbar hatte er sich doch geirrt?!
»So ein Mist!«, fluchte er vor sich hin. Er wusste zwar, wo dieses Silence war, aber um dort hinzukommen, musste er fast fünfzehn Stationen mit der Bahn fahren und dann nochmal umsteigen.
Als er eilig das Licht in seinem Zimmer anschaltete, um sich dort umzuziehen, sah er Rohan jedoch in seinem Bett liegen: eingekuschelt in die Bettdecke. In den Armen hielt er sein Weihnachtsgeschenk: ein Kopfkissen, welches Josh hatte bedrucken lassen. Darauf stand, etwas ironisch gemeint: Schlaf mit niemandem außer mir!
Dazu hatte er ihm einen keltischen Ring geschenkt, den er aufgrund seines permanenten Geldmangels einem Jungen bei einem Pokerspiel hatte abzocken müssen.
Josh zog sich seinen Schlafanzug an und legte sich erleichtert zu seinem Bruder ins Bett. Beim Anheben der Decke bemerkte er, dass Rohan bis auf die Schuhe noch seine Klamotten anhatte, die er ihm
fürsorglich auszog, ohne ihn zu wecken. Irgendwie erinnerte ihn diese Situation an früher, als er ihn ständig, meist sternhagelvoll, irgendwo abholen musste und ihn zu Hause erst in die Wanne und dann ins Bett gesteckt hatte.
Wie friedlich war da hingegen ihr jetziges Leben ... doch wie würde es wohl in einigen Jahren sein?