Kapitel 6 - Das Konzert
Rohan sah wütend auf die Uhr. Kurz nach neun und Josh war immer noch nicht da. In der Praxis hatte er bereits angerufen, da war niemand mehr, und über seine Handynummer war nur die Mailbox zu erreichen, die immer dann anging, wenn sein Telefon ausgeschaltet war.
›Der hat garantiert seinen Akku nicht aufgeladen‹
, dachte er grimmig. Das war wieder typisch Josh! In der Praxis stellte er immer den Ton aus, und nachdem seine Arbeit erledigt war, riss sein alter Akku die Hufe hoch. Rohan sagte ihm jedes Mal, dass er den Ladestecker tagsüber einfach eingesteckt lassen sollte, und trotzdem vergaß Josh es immer wieder. Allerdings war es auch nicht seine Art, dermaßen zu spät zu kommen, und wenn, dann rief er vorher wenigstens an.
Bei jeder Sirene, die er hörte, bekam er ein mulmiges Gefühl. Auf den Straßen war heute zum ersten Mal in diesem Jahr Glatteis, aber er beruhigte sich schnell damit, dass Josh ein ausgezeichneter Autofahrer war und mit Sicherheit keinen Unfall bauen würde. Dazu fuhr er viel zu umsichtig. Gleichwohl war da ein penetranter, nerviger Gedanke, den Rohan nicht so einfach loswerden konnte. Es gab genug andere Leute auf der Straße, die wie die Henker fuhren, und dann würde Josh seine besonnene Fahrweise auch nichts nützen.
Rohan schüttelte den Kopf, als ob er den Gedanken damit loswerden könnte. »Mit Sicherheit ist er nur irgendwo rangefahren und kauft noch was zum Essen, weil er keinen Bock mehr auf die Kocherei mit mir hat«, versuchte Rohan sich selbst zu beruhigen. »Und bei dem Wetter kommt er ja auch nicht schnell voran.«
Nach Ablauf einer weiteren Stunde konnte er sich mit diesen Gedanken jedoch nicht mehr beruhigen. Seine Angst erreichte ihren Gipfel, als er zum gefühlt hundertsten Mal auf Joshs Telefon anrief, in der vagen Hoffnung, er würde es doch noch anschalten, und schon wieder die automatische Mailboxansage zu hören bekam: »Dies ist der Anschluss von Joshua Winter. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton.«
»Halt die Klappe, du Schlampe!!!!« Wütend und verzweifelt knallte er sein Handy auf den Küchentisch und starrte zum tausendsten Mal ungläubig auf die Uhr. Ein unangenehmes Ziehen machte sich in seiner Brust breit und er wusste kaum noch wohin mit sich selbst. Am liebsten wäre er hinausgestürzt und hätte seinen Geliebten gesucht, aber er konnte den kleinen Noah nicht einfach so allein im Haus lassen. Zwar schlief der oben in seinem Bettchen, aber es könnte ja trotzdem irgendetwas mit ihm sein, und wenn er dann nicht zur Stelle wäre …
Plötzlich klingelte es Sturm an der Haustür. Erleichtert, aber auch unglaublich wütend rannte Rohan zum Eingang und riss die Tür auf. Doch nicht Josh stand vor ihm, sondern René und Paula, beide furchtbar blass.
»Was ... was ist los?«, fragte er überrumpelt, doch da drängten die zwei schon in den Flur.
Renè, der selbst wie der Tod auf Latschen aussah, legte ihm eine Hand auf die Schulter und nahm seinen Mantel von der Garderobe, die Frage ignorierend. »Es geht um Josh. Zieh dir bitte deine Schuhe an und komm dann mit mir mit!«
»Schläft Noah oben?«, erkundigte sich Paula und sah ihren ehemaligen Schwarm verlegen an. Seit ihrer nächtlichen Begegnung
und dem Morgen danach hatten sich die zwei nämlich noch nicht wieder gesehen. »Ich passe heute Nacht auf ihn auf. Ist das Babyphon in der Küche?«
»Ähm ja. Wieso? Was ist passiert?« Nun wurde Rohan wirklich panisch. Wenn sogar Paula ihre Auseinandersetzung vergaß und so spät vorbeikam, um auf Noah aufzupassen, musste etwas Schlimmes geschehen sein.
»Tut mir übrigens leid ... wegen letztens«, sagte sie noch, dann nahm sie sich das Babyphon von der Theke und ging zielsicher ins Haus.
»Was ist denn los, verdammt???« Jetzt wurde Rohan aus Angst richtig wütend. »Rückt endlich mit der Sprache raus, verfluchte Scheiße!
«
»Josh hatte einen Unfall«, platzte es schließlich aus Renè heraus und seine Augen wurden abermals feucht. »Er liegt jetzt im Krankenhaus. Ich weiß nichts Genaues, aber ihm soll einer in die
Seite gefahren sein, als er über die Kreuzung an der Goethestraße wollte. Er hat gerade mit mir telefoniert, als es passierte ...«
Rohan war augenblicklich wie gelähmt und völlig unfähig, auf diese Information zu reagieren. René zerrte ihn kurzentschlossen mit sich und brabbelte irgendetwas davon, dass sie jetzt losfahren müssten. Obwohl Rohan nicht einmal seinen Mantel geschlossen hatte, spürte er die Kälte kaum. Er hatte immer noch große Mühe, die Wortkonstellation Josh
und Unfall
zu begreifen. Hätte Renè ihn nicht am Arm ins Auto gezogen, wäre er wohl zu keinem Schritt fähig gewesen. Alle möglichen Fragen kamen ihm in den Sinn, und grausame Bilder eines Begräbnisses spukten ihm durch den Kopf.
***
Die ganze Fahrt über sagten beide nichts. Rohans Herzschlag wurde immer schneller, je näher sie dem Krankenhaus kamen. Er hoffte so sehr, dass Josh nicht schlimm verletzt war.
Nach ihrer Ankunft hasteten sie sofort zur Notaufnahme und fragten nach ihm. Die Schwester versorgte sie mit der dürftigen Information, dass Joshua Winter noch im OP liegen würde und sie über alles Weitere mit dem Arzt sprechen sollten. Dann schickte sie die beiden in den Wartesaal und versicherte, dass sie Bescheid geben würde, sobald ein Arzt verfügbar wäre.
Rohan rutschte auf seinem Platz hin und her. Mal stand er auf, mal ging er eine Runde. Renè sah ihm an, dass er völlig fertig war. Hätten sie beide gewusst, dass sie noch warten mussten, hätte Renè Rohan gebeten, etwas Konventionelleres anzuziehen. In seiner schwarzen Lederhose und dem Netzhemd unter dem Mantel, durch das man seine gepiercten Nippel sehen konnte, wurde er vor allem von den älteren Damen misstrauisch beäugt und selbst die Krankenschwestern schienen es nicht sonderlich gutzuheißen.
Renè mochte das auch nicht mehr sehen, allerdings aus anderen Gründen als seine Mitmenschen. Er zog Rohan am Ärmel wieder auf seinen Stuhl. »Knöpf bitte deinen Mantel zu und reiß dich zusammen! Es bringt nichts, wenn du hier die ganze Zeit herumtigerst. Du weißt doch, Josh hat einen wachsamen Schutzengel, es wird schon alles gut gehen!«
»Wenn ich an Engel
glauben würde, säße ich jetzt betend in der Kirche, also spar dir die Sprüche!«, motzte Rohan verzweifelt und
plötzlich musste Renè kurz auflachen, wobei ihm sofort wieder die Tränen kamen.
»Der Spruch hätte von ihm sein können ...«
»Häh? Von Josh?« Rohan war irritiert.
»Nein, von ...« Renè brach ab, rieb sich über die Stirn und sah dem verzweifelten jungen Mann ins Gesicht, der seinem alten Freund so unglaublich ähnlich war.
›Vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt, ihm von Goh zu erzählen?‹
, kam ihm in den Sinn, aber dann sah er sich um und ließ von diesem Vorhaben ab, denn es waren definitiv zu viele Mithörende anwesend, für so ein sensibles Thema. Dementsprechend änderte er die Thematik: »Weißt du, was das Letzte war, das Josh zu mir sagte?«
»Dass du deinen Arsch zurück in die Praxis schwingen sollst, weil ihn deine Patienten ankotzen?« Rohan wollte die Situation mit seinem speziellen Humor aufheitern.
»Nein.« Renè schüttelte traurig lächelnd den Kopf. »Er zitierte Santos Kalwar mit den Worten: Väterliches Vertrauen beginnt und endet mit Wahrheit! .
.. Welch ein Zufall, oder?«
»Hm ...« Rohan dachte nach und versuchte, einen Zusammenhang zum Geschehen herzustellen. »Wäre Hals- und Beinbruch
nicht passender gewesen? Was haben denn Vertrauen und Wahrheit
mit seinem Unfall zu tun?«
Renè wiegte den Kopf hin und her. »So gesehen nicht viel, aber ... die ganze Sache hat mich dazu gebracht, einen voreiligen Entschluss zu revidieren.« Er legte seine Hand auf Rohans, der ihn verwirrt ansah. »Ich möchte dir gerne die 1958er Les Paul Double Cut Reissue Gitarre schenken ... und dir ein bisschen was über ihren Besitzer erzählen.«
»Was???!
« Rohan wusste nicht, ob er sich in einem so bizarren Moment überhaupt freuen durfte. »Ist das dein Ernst?«
»Ja. Aber meine Erzählungen dazu dauern ein bisschen ... Egal, wie die OP ausgeht, Joshua wird sicher über Nacht hierbleiben müssen. Wenn es für dich okay ist, komme ich morgen zum Frühstück zu dir und bringe die Gitarre mit, bevor wir zusammen wieder hierher ins Krankenhaus fahren.«
»Ähm ... ja. Okay ... gern.«
***
Nach einer weiteren, quälend langen Stunde in völliger Ungewissheit kam endlich ein Weißkittel zu ihnen und wandte sich gleich an René. »Guten Abend, ich bin Doktor Bergmann, leitender Oberarzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. Sie sind der Vater? Herr Winter, nehme ich an?«
Renè räusperte sich. »Ja, das stimmt.« Er stand auf. »Wie geht es meinem Sohn?« Etwas leiser fügte er noch hinzu, weil er sah, dass der Arzt seinen Begleiter musterte: »Der junge Mann hier neben mir ist sein ... Lebensgefährte.«
Der Mediziner stutzte, nickte Rohan dann aber freundlich zu und berichtete in über Jahren hinweg perfektioniertem Fachchinesisch von Joshs Zustand. Rohan machte das alles nur noch nervöser, zumal der Arzt immer kompliziertere Begriffe nutzte, als er merkte, dass sein Gegenüber ebenfalls vom Fach war. Im Anschluss wurden sie in den Aufwachraum geführt. Auf dem Weg dahin überschüttete Rohan etwas aufgedreht Joshs Vater mit Fragen.
»Was genau hat der Typ denn jetzt gesagt? Wie geht es ihm? Ich habe kein verdammtes Wort
verstanden!«
»Oh, tut mir leid. Ich habe ganz vergessen, dass du mit den Fachbegriffen nichts anfangen kannst. Also, Josh geht es den Umständen entsprechend gut. Sein linkes Bein, sein linker Arm und drei Rippen sind aber gebrochen. Zum Glück sind es alles glatte Brüche, Gott sei Dank! Wenn die Knochen splittern, ist die Wahrscheinlichkeit nämlich groß, dass sich einige Fragmente durch den Körper bewegen und weitere Verletzungen verursachen. Aber die Röntgenbilder haben gezeigt, dass das nicht der Fall ist. Außer den Knochenbrüchen hat er noch eine leichte Gehirnerschütterung, die ist aber nicht so schwerwiegend. Wenn er aufwacht, wird er einen ziemlichen Brummschädel haben und es kann sein, dass er sich übergeben muss, aber das ist dann auch schon alles.« Er atmete durch, wie um sich selbst zu beruhigen. »Er hat großes Glück gehabt! Hätte er innere Blutungen, wäre seine Situation kritisch.«
Rohan wurde bei jedem Wort immer blasser. Einerseits besänftigte es ihn, dass Josh nicht in Lebensgefahr schwebte, andererseits bekam er Angst bei der Vorstellung, dass er durch die Knochenbrüche so stark verletzt war, dass es ihn in Zukunft einschränken könnte.
»Und wird er wieder gesund?«, fragte er deshalb mit einer fast kindlichen Naivität, die ganz und gar nicht zu seinem Äußeren passte.
René sah ihn jedoch beruhigend an und klopfte ihm liebevoll auf die Schulter. »Keine Sorge. Er wird schon wieder. Der Chirurg meinte zu mir, dass wohl keine bleibenden Schäden zu erwarten sind, wenn die Reha gut verläuft.«
»Okay.« Ein erleichterter Seufzer schlüpfte über Rohans Lippen. Er hatte bereits das Schlimmste befürchtet.
Obwohl die Diagnose denkbar gut ausgefallen war, schockierte Rohan der Anblick seines verletzten Bruders dennoch sehr, als sie den Aufwachraum betraten. Er war furchtbar blass und sein geschwollenes Gesicht war übersät mit Schnitten und Kratzern, die von den Splittern der Autoscheiben stammten. Arm, Brustkorb und Bein waren eingegipst, seine Gliedmaßen hingen erhöht in Schlaufen. Josh war nach der Operation noch nicht bei Bewusstsein und es zerriss Rohan fast das Herz, seinen geliebten Bruder so zu sehen.
Mit einem Mal packte ihn eine riesige Wut. Er wollte wissen, welches Arschloch für diesen Unfall und Joshs Verletzungen verantwortlich war. Als er René danach fragte, schüttelte dieser aber nur den Kopf.
»Der Verursacher hat Fahrerflucht begangen. Die Polizei fahndet noch nach ihm.«
Frustriert setzte sich Rohan an Joshs Bett und griff nach dessen rechter Hand. Es war seltsam, diese so schwach und kraftlos zu erleben. Selbst im Schlaf hatte Josh ihm seine meist sanft gedrückt, aber diesmal zeigte er keinerlei Reaktion. Es tat furchtbar weh, ihn so zu sehen.
René und Rohan blieben bei ihm, bis er von der Intensivstation auf eine Normalstation verlegt wurde. Renè war als bevollmächtigter Familienangehöriger in den Unterlagen der Krankenkasse eingetragen und erledigte deshalb auch den ganzen Papierkram für ihn. Auf Stühlen setzten sie sich links und rechts an sein Bett und warteten darauf, dass er aufwachte.
***
Drei Stunden später.
Beinahe wollten die beiden schon für diese Nacht aufgeben und
zurück nach Hause fahren, da öffnete Josh endlich die Augen. Rohan war fast schon eingeschlafen, doch als er ein leises Stöhnen hörte und spürte, wie sich etwas in seiner Hand ganz zaghaft bewegte, war er sofort hellwach. Er sah, dass Josh sich regte, und stieß umgehend René an, der bis eben auf seinem Handy ein Fachbuch über die Behandlung von Rippenbrüchen gelesen hatte. »Hm? Wacht er doch noch auf?«
»Ich glaube schon.«
Besorgt sah Rohan auf seinen Geliebten. Noch immer hielt er dessen Hand fest und drückte sie ein wenig bestimmter. Als er merkte, wie Joshs Fingerspitzen sich kurz bewegten, sich bemühten, diese Berührung zu erwidern, war Rohan überglücklich. Josh kam wirklich wieder zu sich!
»Bin gleich zurück!« René machte sich auf die Suche nach einem Arzt, der sich um seinen Sohn kümmern sollte, und ließ die beiden alleine.
Rohan begann zu zittern. »Josh? Hey… wie fühlst du dich?« Im selben Moment hätte er sich für diese blöde Frage ohrfeigen können, doch ihm war nichts Besseres eingefallen. Ohne dass er was dagegen machen konnte, stiegen ihm Tränen in die Augen.
Josh, der vor Schmerzen das Gesicht verzog, bemühte sich, seine Umgebung zu erkennen. Es dauerte eine Weile, bis er sich annähernd unter Kontrolle hatte, und für einen Moment wusste er den hübschen, jungen Mann, der seine Hand hielt, gar nicht einzuordnen. Sein ganzer Körper schmerzte höllisch und ihm war kotzübel.
»Roi? Ooooh
… mein Schädel … warum … tut mir … alles so weh?«
Jetzt war es vorbei mit Rohans Selbstbeherrschung. Weinend umarmte er seinen Halbbruder, welcher daraufhin einen leisen Schrei ausstieß. Josh wusste immer noch nicht, wo er eigentlich war, warum ihm alles so wehtat und wieso Rohan wie ein Kleinkind heulte. Was war denn nur passiert? Rohan wollte ihn gar nicht mehr loslassen, so sehr hatte er sich um ihn gesorgt.
»Na, na, na, junger Mann. Lassen Sie ihm doch die paar heilen Knochen, die er noch hat!« Doktor Bergmann kam lächelnd ins Krankenzimmer, René war direkt dahinter. Erschrocken ließ Rohan seinen Bruder los. Es war ihm peinlich, dass er sich so wenig unter Kontrolle hatte, und er wischte sich schniefend über die Augen.
Entschuldigend blickte er zu Josh, denn dem armen Kerl hatte er durch seine Umarmung noch zusätzliche Schmerzen bereitet. Dieser begriff nun langsam, was los war. Er erkannte seinen Vater und realisierte, dass er in einem Krankenhauszimmer lag. Der leitende Oberarzt trat zu ihm ans Bett, machte ein paar Checks und stellte ihm dann einige Fragen, um herauszufinden, ob sein Patient wieder bei vollem Bewusstsein war. »Also Herr Winter, Sie sind nach einem Autounfall hier in die Charitè eingeliefert worden. Können Sie sich erinnern, was passiert ist?«
Josh überlegte eine Weile. »Ich weiß … nur noch, dass ich plötzlich ein grelles Licht … gesehen habe. Dann … gab es einen Knall … und als Nächstes bin ich … hier aufgewacht.«
»Sie hatten einen Verkehrsunfall, Herr Winter. Jemand ist Ihnen in die Seite gefahren. Keine Angst, Ihre Verletzungen wurden operativ versorgt und werden sicher ohne größere Probleme heilen, aber das braucht Zeit. Ihr linker Arm, Ihr linkes Bein und drei Rippen sind gebrochen. Zudem haben Sie eine leichte Gehirnerschütterung. Ist Ihnen schlecht?«
»Soll das ein … Witz sein? Natürlich ist mir ... übel … kotzübel
, um genau … zu sein.«
»Das dachte ich mir.« Der Arzt nickte einer abseits stehenden Schwester zu, welche ihm direkt eine Metallschale zum Reinkübeln reichte, sollte es ihn überkommen. »Wie sieht es mit Schmerzen aus? Sie haben zwar bereits eine ordentliche Dröhnung bekommen, aber sollten Sie noch etwas spüren, können wir auch nochmal nachlegen.«
»Ich bitte drum ...«, keuchte Josh. »Sonst platzt mir gleich der Schädel!«
Rohan hatte sich wieder an Joshs Bett gesetzt und griff erneut mitfühlend nach seiner Hand. Und da war er wieder, der sanfte Druck, der ihm signalisierte, wie dankbar dieser für diese Berührung und seine Anwesenheit war.
»Gut, gut«, sagte der Chirurg und gab seiner Gehilfin erneut einen Wink, die gleich eine Spritze aufzog. »Sie bekommen nochmal eine Dosis Morphium, denn Sie sollten ruhig noch ein wenig schlafen, Herr Kollege
.«
»Was?«
»Ihr Vater hat mich vorgewarnt, dass Sie ebenfalls Arzt sind.«
Doktor Bergmann lächelte, doch seinem Gegenüber war nicht ganz klar, worauf er hinauswollte. Deshalb fragte er nach: »Wieso vorgewarnt?«
»Nun, Sie müssen wissen, Ärzte sind die schlimmsten Patienten überhaupt! Sie wissen grundsätzlich alles besser als der behandelnde Arzt, stellen Selbstdiagnosen und lassen sich meistens auch nur ungern behandeln, da ihnen klar ist, was auf sie zukommt. Wenn man so will, sind Ärzte die größten Angsthasen, wenn es um die Behandlungen ihres Körpers durch Kollegen geht. Dabei haben sie ihren eigenen Patienten in der Regel schon deutlich Schlimmeres angetan
.«
Nun grinste auch Rohan. Obwohl der Arzt nur im Allgemeinen sprach, hatte er einen Teil von Joshs Wesen haargenau beschrieben. Dieser war schon vor seinem Medizinstudium sehr skeptisch gegenüber anderen Ärzten. Er ließ sich zwar behandeln und zeigte auch keine Angst vor Spritzen oder Ähnlichem, aber er spielte sich ständig besserwisserisch auf und fuhr dem Arzt in die Parade, wenn es um Diagnosen ging. Das führte dazu, dass er schon wesentlich mehr Ärzte kennengelernt hatte als ein Mensch, der dreimal so alt war wie er. Er schaffte es nämlich mit links, die Doktoren so sehr zu verärgern, dass sie ihn nie wieder in ihrer Praxis sehen wollten. Im Moment hatte er aber viel zu große Schmerzen, um sich über Doktor Bergmanns Analyse aufzuregen, und zog nur ein beleidigtes Gesicht. Selbst René konnte sich ein Kichern nicht verkneifen! Der kannte das ja auch von sich selbst. So war das eben, wenn man als Arzt plötzlich zum Patienten mutierte.
Als die Schwester das starke Schmerzmittel in den Zugang von Joshs peripheren Venenkatheter drückte, verdrehte dieser nur wenige Sekunden danach die Augen und dämmerte schon wieder weg.
»Sie sollten jetzt erst mal gehen«, schlug Doktor Bergmann vor und notierte sich noch ein paar Sätze. »Herr Winter ist außer Lebensgefahr und bei uns in guten Händen. Nebenbei sehen Sie beide aus, als bräuchten Sie dringend etwas Schlaf.«
»Ist gut.« Renè nickte und gab auch Rohan seinen Mantel. »Wir kommen im Laufe des Vormittags wieder.«
***
Da sich Paula um Noah kümmerte und nachmittags sowieso Dana kam, um ihn für ihre vereinbarten zwei Tage in der Woche mit in ihre neue Wohnung zu nehmen, schlief Rohan der Einfachheit halber gleich bei Renè auf der Couch.
Viel Erholung brachte ihm das jedoch nicht, denn noch nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus gab ihm Renè die ominöse Gitarre, zusammen mit einem alten Fotoalbum, das er in Gohs Wohnung gefunden hatte.
»Wenn du nicht schlafen kannst, schau es dir an und lenk dich ein wenig damit ab«, sagte er ihm nur, ehe er selbst ins Bett wollte. »Es sind Fotos meines alten Freundes ... aber, die ganze Sache hat auch mit dir zu tun. Ich erkläre es dir nach dem Aufstehen. Schlaf gut.«
»Okay. Ebenso«, erwiderte Rohan und natürlich sah er sich sofort die Bilder an.
Eigentlich war Renès Erläuterung bereits nach den ersten Seiten überflüssig.
Als Rohan die Fotos des jungen Goh sah, seine Entwicklung verfolgte, die Bilder von ihm und seiner Band und schließlich sogar ein Foto seiner Motorradgang inklusive deren Partner entdeckte, wusste er genau, dass dieser Mann sein Vater sein musste. Neben Renè und einigen anderen stand nämlich auch seine Mutter in der Gruppe, und er war heute der eindeutige
Mix dieser zwei Menschen.
Das Fotoalbum endete mit aktuelleren Bildern von Gohs gemeinsamen Wochenendtrips mit Renè und seiner Familie, doch ganz hinten steckte noch ein Brief. Der Brief an Renè. Ob der nun mit Absicht oder aus Versehen dort deponiert worden war ... wer weiß. Aber aus diesen intimen Abschiedszeilen erfuhr Rohan die vollumfängliche, ungefilterte Wahrheit.
Die ganze Nacht über zerbrach er sich den Kopf und konnte nicht mehr schlafen, obwohl er hundemüde war. Renè ging es ähnlich und so frühstückten beide um fünf Uhr früh, noch bevor Bella, Anna und Emil aufwachten. Gerade wollte er die Sache aufklären, als Rohan die Hand hob und lediglich Antworten auf zwei einfache Fragen verlangte:
»Mama hatte in ihr Tagebuch geschrieben, mein Vater sei der Keyboarder einer Band gewesen, die sie in einem Club spielen
gesehen hatte. Sie hätte nur einen One-Night-Stand mit ihm gehabt und nicht einmal seinen Namen gewusst. ... War das gelogen?«
»Aus ihrer Sicht sicher nicht«, antwortete Renè schnaufend und nippte an seinem Kaffee. »Sagen wir mal so ... es wundert mich nicht, dass mehrere Männer als deine Erzeuger in Frage kommen. Deinen ausgeprägten Sexualtrieb hast du nämlich von ihr, abgesehen davon, dass sie noch viel schlimmer war, als du es je gewesen bist. Deine Mutter ist eine Nymphomanin und hatte damals sieben bis acht verschiedene Männer an einem Tag, und beinahe jedem gaukelte sie vor, der Eine
zu sein. Ich selbst erfuhr es erst viel später, und zu mir hatte sie aufgrund unseres gemeinsamen Sohnes auch noch eine besondere Verbindung.« Er nippte erneut an seinem Kaffee und starrte auf sein belegtes Brötchen, das er bisher nicht angerührt hatte. »Die Band, von der sie da geschrieben hat, bestand aus einer Gruppe arabischer Männer. Vermutlich kam sie aufgrund deiner Haut- und Haarfarbe darauf, dass es der Keyboarder gewesen sein könnte. Andererseits hatte sie durch mich gemerkt, wie nervig
es sein konnte, wenn ein Vater regelmäßigen Umgang mit seinem Kind forderte. Vermutlich hat sie auch deshalb einen dieser Musiker als potentiellen Vater in ihren Aufzeichnungen benannt, mit dem sie absolut nichts mehr zu tun hatte. Deine Ähnlichkeit zu Goh ist allerdings so unübersehbar, dass ein Vaterschaftstest überflüssig wäre.«
Rohan nickte nur, ohne darauf einzugehen. Er wusste nicht, was er fühlen sollte, denn der Mann, der ihn gezeugt hatte, lebte nicht mehr und so würde er auch nie eine Beziehung zu ihm aufbauen können. Sollte er glücklich oder traurig darüber sein? Schließlich überwand er sich und stellte seine zweite und letzte Frage, die ihm wichtiger war als alles andere:
»War er ... ein guter
Mensch?«
Renè kamen augenblicklich die Tränen. Ein riesiger Kloß schwoll in seinem Hals, sodass er nur nicken und erst dann ein paar Worte daran vorbeiquetschen konnte.
»Er hatte ... seine Macken. So wie jeder Mensch. Aber wenn es um die ging, die er liebte, ... gab er alles, was in seiner Macht stand, ... um sie zu schützen! Bis zum Schluss ...«
Rohan überlegte, ließ die Worte sacken. Dann stand er auf, ging zu
Renè rüber und umarmte diesen.
»Danke ... danke, dass du es mir gesagt hast«, seufzte er. »Jetzt weiß ich wenigstens endlich, wo meine Wurzeln sind, und die ewige Jagd nach dem Phantom ist vorbei.« Gleichzeitig fühlte er einen unglaublichen Frieden in sich aufsteigen. Auch wenn das tragische Ende der Liebe seines Vaters zu Renè ihn zutiefst erschütterte, fühlte er sich dadurch irgendwie mit ihm verbunden. »Und keine Sorge ... den speziellen
Teil behalte ich natürlich für mich.«
***
Nach zwei Wochen Bettlägerigkeit, täglichem Krankenhausfraß und bis zu zehn Tabletten am Tag hatte Josh die Schnauze voll. Er wollte raus und endlich wieder nach Hause! Ständig kamen irgendwelche Leute, die ihn bemitleideten, und sogar seine bekloppte Mutter schickte ihm eine Genesungskarte. Nebenbei lief die Anzeige gegen den unbekannten Unfallverursacher ins Nichts und Josh wollte nicht ständig warten müssen, bis Rohan ihm am nächsten Tag berichtete, was es Neues gab. Apropos Rohan. Normalerweise achtete der ja sehr penibel auf sein Äußeres, aber bereits drei Tage nach Joshs Unfall müffelte er wie ein ganzes Rudel Ochsen! Außerdem war er unrasiert und aß kaum noch etwas.
Am gestrigen Tag erschrak Josh dann so sehr, dass er fast aus dem Bett fiel. Beim Aufwachen sah er Rohan neben sich sitzen, doch er hatte ihn zuerst überhaupt nicht erkannt, weil der inzwischen wie der letzte Penner aussah.
Damit war seine Grenze überschritten! Josh reichte es! Bevor sein Partner wegen ihm immer mehr dahinasselte, würde er lieber zu Hause im Bett liegen und Rohan mit dem gesunden Bein dazu treten, sich endlich wieder regelmäßig zu waschen! Er diskutierte sehr lange mit Doktor Bergmann und musste ordentlich Überzeugungsarbeit leisten, aber nach mehreren Untersuchungen und mit seiner Zusage, zweimal die Woche zur Kontrolle ins Krankenhaus zu kommen, entließ der Arzt Josh in der dritten Woche auf eigene Verantwortung. Rohan wiederum musste ihm versprechen, an seinem Entlassungstag ausgeschlafen, frisch rasiert und gepflegt aufzukreuzen, damit die Ärzte nicht dachten, er würde mit dem Stadtstreicher mitgehen.
Dann endlich war es soweit und der Tag seiner Entlassung stand
an. Seit fünf Uhr lag Josh wach.
Im Bett neben ihm schnarchte wieder sein alter Zimmergenosse, als ob es kein Morgen gäbe. Wenn er denn mal damit aufhörte, schaltete er rücksichtslos das grelle Deckenlicht an und schlurfte zum Klo, auf dem er grundsätzlich erst mal einen flattern ließ, bevor er geräuschvoll knochenfreie Masse abwarf.
Josh hasste Krankenhäuser wie die Pest! Zwar hatte er selbst in einem gearbeitet, aber stets verfolgte ihn eine ganz simple Denkweise: Aus Kliniken kam nicht jeder wieder lebend heraus. Manche Patienten starben und damit wollte er nichts zu tun haben, wenn es sich irgendwie verhindern ließ. In der Gemeinschaftspraxis mit seinem Vater war bisher zum Glück noch niemand gestorben.
Nun aber selbst und dann noch so lange im Krankenhaus zu liegen, war tausendmal schlimmer für ihn, als dort zu arbeiten. Hier war er fremden Ärzten und Schwestern ausgeliefert und wegen seiner Eingeschränktheit immer auf Hilfe angewiesen, was er unglaublich hasste.
Inzwischen war es kurz vor sieben und prompt, als hätten seine Gedanken eine magische Anziehungskraft entwickelt, stand auch schon Schwester Annika aus der Frühschicht in der Tür.
»Einen wunderschönen guten Morgen«, flötete sie und schob ihren Wagen mit Waschutensilien herein, während sie zielgerichtet auf Josh zukam. »Na, Herr Winter, heute gehts heim, hab ich gehört?«
Noch ehe er antworten konnte, klopfte es jedoch erneut. Gleich darauf kam Rohan herein, wie versprochen frisch geduscht, gestriegelt, rasiert und in deutlich gediegenerer Kleidung. Josh war überglücklich, ihn zu sehen.
»Sie sind etwas früh, mein Herr«, tadelte die Schwester ihn gleich. Sie kannte ihn schon und hatte unzählige Diskussionen mit ihm hinter sich, als er verlangte, bei Josh im Bett schlafen zu dürfen. »Besuchszeit ist ab acht! Ich würde Sie also bitten, die Privatsphäre des Patienten zu respektieren und draußen zu warten, bis ich mit der Körperreinigung fertig bin.«
Rohan blieb jedoch wie angewachsen stehen und in seinen Augen blitzte es bereits gefährlich. Mit der Schwester, erst Anfang dreißig und nicht allzu robust, würde er heute am Entlassungstag locker
fertig werden!
»Das können Sie sich klemmen
«, knallte ihr Rohan patzig entgegen. »Ich bin nicht mehr Gast
, sondern nehme ihn mit! Waschen kann ich ihn auch zu Hause!«
Sie jedoch stemmte die Hände in die Hüften. »Das wäre ja noch schöner, und nachher bin ich
schuld, wenn sich etwas entzündet, das nicht fachgerecht endgereinigt wurde! Außerdem muss ich nochmal die Halteverbände wechseln! Also machen Sie, dass Sie rauskommen!«
Rohan sah sie wütend an und sie schaute trotzig zurück. Josh konnte die Blitze zwischen beiden regelrecht fliegen sehen.
»Vergessen Sie es!
Packen Sie Ihre dämlichen Arschlappen zusammen und verschwinden Sie!«
Josh war das Ganze megapeinlich. Nicht nur, dass er sich von der Schwester immer noch waschen lassen musste, nein, Rohan legte sich auch noch am letzten Tag mit ihr an und brach eine Eifersuchtsszene vom Zaun.
Puterrot vor Zorn stieß sie ihn mit einem »Jetzt reichts mir aber!« aus dem Zimmer und verriegelte die Tür. Rohan und Josh waren darüber beide gleichermaßen entsetzt. Sie hätten nie ihm Leben damit gerechnet, dass dieses schmale Persönchen solch übermenschliche Kräfte besaß!
Rohan hämmerte gegen die Tür und belegte die Schwester mit allen Ausdrücken, die ihm einfielen. Manche von denen kannte selbst Josh noch nicht einmal und er hoffte nur, dass keine Kinder auf dem Flur waren und seinen Bruder hörten. Kurz darauf schritten jedoch einige Kolleginnen der rabiaten Krankenschwester ein und drohten, das Sicherheitspersonal zu rufen, wenn er nicht auf der Stelle damit aufhören würde. Schließlich beruhigte er sich und seine Feindin
wandte sich siegessicher grinsend an Josh.
»So, na dann auf ein letztes Mal!« Sie kicherte beinahe kindlich und machte sich an die Arbeit, indem sie die Decke entfernte und Handtücher unter ihren Patienten schob. Wahrscheinlich gehörte sie zu dem etwas sadistisch veranlagten Schwesternklientel und brachte seinen Liebsten einfach gerne auf die Palme.
***
Da Joshuas BMW seit dem Unfall einen unverschuldeten
Totalschaden hatte und nur noch mit einer Schrottpresse liebäugeln konnte, kam die Vollkaskoversicherung dafür auf. Was Joshua nicht wusste, war, dass Rohan von der Versicherungssumme bereits ein Ersatzauto besorgt hatte, und das war natürlich kein solches Spießerauto
wie die Limousine, sondern ein etwas extravaganterer Wagen: ein mattschwarzer Jeep Cherokee XJ.
»Sag mir bitte, dass das eine geliehene Karre ist«, grollte Josh, als Rohan vor ihrem neuen Wagen stehen blieb.
»Wenn er dir absolut nicht gefällt, kann ich ihn ohne große Gebühren zurückgeben«, wiegelte Rohan ab, doch dann setzte er alles daran, seinen Bruder von den Qualitäten des fahrbaren Untersatzes zu überzeugen. »Aber du wirst das Teil lieben, wenn du irgendwann mal wieder selbst fahren kannst! Die erhöhte Sitzposition lässt dich alle anderen überblicken, und wenn dir da einer reinbrettert, passiert dir überhaupt nichts und der Wichser bleibt an den Felgen kleben!«
»Ich kann ja noch nicht mal über die Felgen drübergucken
! Wie bitteschön soll ich, in meinem Zustand, da hochkommen? Erklär mir das mal!«
»Aaaach, das kriegen wir schon hin!«
Da dieser Wagen jedoch für jemanden, der ein gebrochenes Bein und
einen gebrochenen Arm hatte, äußerst unpraktisch war, gab es beim Einsteigen bereits die ersten Probleme. Zu allem Überfluss musste er ja auch noch auf die Rückbank, da sein eingegipstes Bein eine Menge Platz brauchte.
Rohan schmunzelte nur, denn irgendwie mochte er diesen hilfsbedürftigen und zwangsweise unselbstständigen Josh. Hatte er ihn doch sein Leben lang nur als Menschen erlebt, der immer alles alleine schaffte, egal, wie schwierig es war.
›Ob das an unserer Mutter lag?‹
, fragte er sich. Aber dann hätte Rohan ja auch so werden müssen. Da sich Josh immer um ihn gekümmert und ihn verwöhnt hatte, war er ja so gesehen eigentlich selbst schuld daran, dass sein Bruder sich so schräg entwickelt hatte. Als er Josh jetzt so sah, konnte er es sich nicht verkneifen, noch eins draufzusetzen.
»Na los, hops einfach mal rein!« Josh warf ihm einen bitterbösen Blick zu und Rohan war sich sicher, wenn Blicke töten könnten, läge
er jetzt mit Sicherheit schon auf den Bürgersteig. Aber dann würde Josh ja überhaupt nicht mehr in den Wagen kommen ... »Jetzt schau doch nicht so biestig!«, sagte er schließlich. »Warte, ich helfe dir.«
»Warum muss es denn unbedingt so eine Schwuchtel-Macho-Karre
sein? Mit einem normalen Auto
hätte ich jetzt keine Probleme!«
»Ist ja gut Prinzessin, aber du musst zugeben, das Teil sieht um Klassen besser aus als jedes normale Auto
! Und jetzt hör auf Gift zu spucken und hilf mir, dich aus dem Rollstuhl zu kriegen.«
Rohan half Josh erst einmal beim Aufstehen und stütze ihn, damit dieser auf seinem gesunden Bein stehen konnte. Da das aber immer noch nicht die Lösung für ihr Problem war, nahm er Josh kurzerhand auf die Arme, worauf der mit hochrotem Kopf protestierte. Es war ihm so unglaublich peinlich, auf einem öffentlichen Parkplatz von seinem Bruder hochgehoben zu werden.
»Hey! Was soll das? Lass mich runter! Ich bin doch viel zu schwer!«
»Wie soll ich dich denn sonst in den Wagen bekommen, wenn nicht so? Außerdem hast du ziemlich an Gewicht verloren, seit du im Krankenhaus warst, also mach dir darüber keine Gedanken!«
Josh war es trotzdem unangenehm. Nachdem Rohan ihn mit Mühe und Not auf die Rückbank gehievt hatte, zog sich Josh mit Hilfe seines gesunden Arms und Beins weiter in den Wagen, doch als er endlich richtig lag, fing er wieder an zu schimpfen: »Ich hasse diese Kiste jetzt schon! Ruf einen Krankenwagen! Die sollen mich nach Hause bringen! Das hier ist eine Zumutung! Und es stinkt nach Ziegenleder!«
Rohan überhörte das Gezeter und pfiff vor sich hin, während er den Rollstuhl im Kofferraum verstaute und dann vorne einstieg. Er wusste, dass Josh nur deshalb so stinkig war, weil er das erste Mal in seinem Leben die Hilfe anderer benötigte, und dann auch noch von seinem Chaotenbruder. Das ging ihm natürlich völlig gegen den Strich. Rohan fuhr also unbeirrt los und erst nach gut zwanzig Minuten permanenten Gemeckers schmolz auch seine Geduld zu einem Klümpchen Nichts. Er wusste, wenn Josh sich nicht bald beruhigte, würde er die hintere Wagentür aufreißen und ihm den Hals umdrehen! Doch dazu kam es nicht, denn Josh hatte sich
mittlerweile seinen Frust der letzten zweieinhalb Wochen von der Seele geschimpft. Außerdem brachte es ihm nichts, sich jetzt über den neuen Wagen aufzuregen. Eigentlich mochte er ihn sogar, auch wenn er das niemals zugeben würde. Obwohl er nun endlich aus dem Krankenhaus raus war, fühlte er sich nicht wirklich erleichtert, ihm ging es sogar ziemlich schlecht, nun, wo er im Auto saß. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in seiner Brust breit und sorgte dafür, dass er sich immer unwohler fühlte. Rohan, der ihn über den Rückspiegel im Blick hatte, sah, dass Josh von Minute zu Minute blasser wurde.
»Hey, alles in Ordnung?«
»Ich weiß nicht genau ... irgendwie habe ich ein komisches Gefühl.«
»Vielleicht liegt es daran, dass du seit deinem Unfall heute zum ersten Mal wieder in einem Auto sitzt? So was geht auch psychisch nicht einfach so an einem vorbei. Du musst das alles erst einmal verarbeiten, Meckerbärchen.« Rohan bemerkte amüsiert, dass Josh des Spitznamens wegen ein wenig rot wurde. Eigentlich war es ja nichts Neues, dass er ihn mit Kosewörtern beschmiss, aber Josh wurde trotzdem rot. Dieses offene Geflirte war ihm immer noch ungewohnt. »Ach ja, René kommt morgen mitsamt seiner Familie vorbei. So ’ne Art Begrüßungskomitee für dich. Dana will auch noch vorbeischauen. Sie bringt dann gleich unsere kleine Kreischsäge ... äh ... unseren Sonnenschein
wieder mit.«
»Ist Noah denn immer noch bei ihr?« Josh klang nun eher besorgt.
»Hm? Ja, ich hatte doch kaum Zeit für ihn, weil ich ständig zu dir ins Krankenhaus gefahren bin. Da dachte ich, es wäre besser, ihn während der Zeit zu ihr zu bringen. Sie hat in ihrem Pharmakonzern übrigens einen neuen Macker kennengelernt, den sie jetzt datet. Scheint ein netter Kerl zu sein ... und viel Geduld hat er auch, wie es aussieht.«
Dessen Gelassenheit resultierte sicher aus der Tatsache, dass er mit sieben Geschwistern aufgewachsen und sein Gehör seit einem Autounfall leicht geschädigt war. Er ruhiger, nachgiebiger Mensch also, und sie liebte ihn dafür. Was Rohan dem neuen Kerl echt zugute hielt: Dana war in den letzten Wochen sehr viel umgänglicher geworden und willigte dank seines Zuredens auch endlich in die
Scheidung ein. Außerdem lebte sie jetzt in einer kleinen, gemütlichen Wohnung in der Nähe von Joshs Haus und freute sich jedes Mal auf das Zusammensein mit ihrem Sohn.
»Der Kerl ist jedenfalls recht kompetent«, fuhr Rohan fort, »und sie wird ja nun auch langsam erträglicher, also ist er dort gut versorgt.«
Joshs Stimme klang wieder etwas höher. »Dann sind wir heute also noch ganz alleine Zuhause?«
»Ja, sind wir …«
Rohan warf seinem Bruder einen zweideutigen Blick durch den Rückspiegel zu und konzentrierte sich dann weiter auf den Verkehr. Josh hatte es gar nicht mitbekommen und ahnte nicht einmal, was Rohan noch mit ihm vorhatte.
***
Nachdem sie endlich zu Hause angekommen waren, rutschte Josh zum Aussteigen zur Tür und ließ sich von Rohan wieder auf die Arme nehmen, damit er irgendwie aus dem Auto kam. Der Rollstuhl, in den er sich hätte hineinsetzen können, war jedoch noch im Kofferraum.
Ohne auf den Protest seines Bruders zu achten, trug Rohan ihn ins Haus und auf direktem Weg ins Gästezimmer im Erdgeschoss. Dort angekommen, setzte er Josh auf dem Bett ab und drückte ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Überrumpelt und noch völlig perplex erwiderte Josh den Kuss, doch als Rohan ihn auf den Rücken drängte und anfing, ihm die Sachen auszuziehen, schob er ihn von sich weg.
»Hey! Was tust du da? Bist du irre? Ich liege hier im Gips und du willst es mit mir treiben?« Ein Blick in Rohans leicht gerötetes Gesicht reichte und Josh wusste, was das bedeutete: Sein kleiner Macho war geil und hatte keine Lust auf lange Diskussionen.
»Jetzt sag bloß, dir haben die letzten Wochen Abstinenz nichts
ausgemacht! Also für mich war das irre anstrengend und jetzt, wo du wieder zu Hause bist, will ich dich ficken, bis dir Hören und Sehen vergeht!«
»Du mich
? Entschuldige mal, wann hast du das denn beschlossen?«
Rohan grinste. »Schon seit einer Weile.«
»Aber -«
»Wir haben es doch früher auch ab und zu so gemacht. In deinem Zustand ist es außerdem einfacher, wenn du nur daliegen und dich nicht bewegen musst!«
»Wie soll denn das gehen mit meinem Bein?«
Rohan grinste anzüglich und irgendwie machten Josh diese leichten, charismatischen Fältchen, welche sich dabei um seine Augen bildeten, unheimlich an.
»Ich weiß, du bist ungern Sub, weil du älter bist als ich, aber ich sorge dafür, dass es dir gefällt und nicht wehtut, versprochen!«
Josh wusste, dass er nichts mehr zu sagen hatte, und fügte sich ergeben in sein Schicksal
.
Rohan küsste ihn innig und begann dann, seinen Hals zu liebkosen. Ganz vorsichtig zog er ihm die Sachen aus, und nachdem er auch seine eigenen, lästigen Textilien losgeworden war, strich er über die weiche Brust seines Bruders und bedeckte dessen Bauch mit Küssen.
Während sich Rohan immer weiter nach unten arbeitete, spürte Josh, wie sehr es ihm gefehlt hatte, mit seinem Liebsten so intim zu sein. Dermaßen bestürmt zu werden, schmeichelte ihm und ihr Rollentausch törnte ihn ebenfalls an. Als Rohan Joshuas bereits steifen Schwanz in den Mund nahm, stöhnte sein Besitzer gierig auf. Er genoss die kreisende Zunge auf seinem sensibelsten Punkt und gab sich voll und ganz hin. Es dauerte nicht lange, bis er das erste Mal kam, doch direkt danach hob Rohan sein gesundes Bein an, um ihn mit seiner Zunge weiter unten zu bearbeiten. Dies entlockte ihm einen überraschten Aufschrei, denn diese Art der Zuwendung hatte er noch nie bekommen! Es war ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich das zu erleben, was er Rohan manchmal gegeben hatte, damit er sich entspannen konnte. Doch obwohl es im ersten Moment ungewohnt war, fühlte es sich wahnsinnig gut an. Er wurde schnell wieder hart und konzentrierte sich nur zu gern auf die sanfte Massage seines Eingangs.
Rohan spürte ebenfalls, dass Josh es unglaublich genoss, und begann, einen mit Gleitgel eingeschmierten Finger in ihn einzuführen.
Josh stöhnte erregt und wusste nicht, wohin mit sich. Nachdem Rohan drei Finger in ihm hatte und bewegte, hielt er es kaum noch aus. Ein wenig schmerzte es zwar, aber sein Liebster hatte gute
Vorarbeit geleistet, sodass es ihm nicht mehr viel ausmachte. Beim vierten Finger hatte Josh seine Grenze erreicht.
»Komm schon! Ich will dich, Zombie ... auf der Stelle!« Allerdings musste er sich ein wenig zurücknehmen, schließlich waren der Arm und das Bein nicht umsonst im Gips. Zudem ging es den angeknacksten Rippen nicht so gut, dass ein 80kg schwerer Kerl auf ihnen liegen konnte.
Zum Glück ließ Rohan es langsam angehen und drang vorsichtig in ihn ein, während er sich mit beiden Armen über ihm abstützte. Aufstöhnend krallte sich Joshua mit seiner gesunden Hand in Rohans Rücken.
»Aaah
… Roi …«
Rohan keuchte vor Verlangen und hielt sich nur mit Mühe zurück. »Alles ... okay? ... Tut ‘s weh?«
Josh schüttelte den Kopf, er zog ihn ganz dicht an sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Gib ’s mir ... tiefer!«
Das war zu viel. Rohan gab jegliche Zurückhaltung auf und bewegte sich immer stärker und heftiger in seinem Geliebten, während dieser laut stöhnte. Er griff nach seinem Schwanz und wichste ihn so hart, dass Josh fast den Verstand verlor und halb vor Schmerz, halb vor Ekstase aufschrie. Mit einem Biss in seine Schulter, während er ein letztes Mal zustieß, brachte er sie beide gleichzeitig zum Kommen.
***
Völlig erschöpft und verschwitzt lagen sie beieinander und Josh legte seinen gesunden Arm um Rohan. »Ich sollte öfter einen Unfall haben, was?«
Rohan lachte über diesen Gedanken und küsste seinen schönen Mann. »Lieber nicht. Ich war krank vor Sorge und regelmäßig würde ich das nicht überleben!«
»Ah, Scheiße ... mein Gips juckt wie Sau! Daran bist nur du schuld!«
Beide gickelten amüsiert und Rohan drückte seinen Bruder fest an sich. »Das wird dir in nächster Zeit häufiger bevorstehen, fürchte ich. Denn solange du den Gips hast, bist du nicht wirklich in der Lage, mich durchzunehmen.«
»Ich fürchte, da hast du recht. So was Schweres wie dich kann ich ja nicht mal im Sitzen vögeln!«
»Boah! Was???
Willst du damit andeuten, dass ich fett
bin? Na warte! Zur Strafe gibt es noch ’ne Runde!«
Lachend stürzte sich Rohan wieder auf seinen Bruder und Josh ahnte bereits, dass das ein anstrengender Tag werden würde.
***
»Ich werde noch wahnsinnig!«
Zum gefühlt hundertsten Male dudelte eine verstörend nervige Melodie durch den Raum.
Josh schmiss seine Zeitung in die Ecke und stützte sich mühevoll auf seine hellgrauen Krücken. Zwei Wochen waren vergangen, seitdem er wieder zu Hause schlief, und langsam gewöhnte er sich daran, sein verletztes Bein mit den Gehhilfen zu entlasten. Sein Arm war inzwischen zwar nur noch mit Bandagen stabilisiert, sodass er wieder greifen konnte, doch groß belasten konnte er ihn noch immer nicht, weshalb er Achselkrücken benutzte.
Rohan fuhr ihn seit einigen Tagen sogar schon wieder in die Praxis, denn trotz vehementer Einwände war Joshs Arbeitswillen ungebrochen. Zu Hause fiel ihm die Decke auf den Kopf und in seinem hoheitlichen Tätigkeitsbereich konnte er zumindest Beratungen machen oder Untersuchungen im Sitzen durchführen.
Heute aber wollte er einfach in Ruhe seine Sonntagszeitung lesen und sein schmerzendes Bein ausruhen. Er hatte sich überanstrengt, so wie immer.
Rohan war mit Noah unterwegs und wollte ihn danach zu seiner Mutter bringen, doch offensichtlich hatte er mal wieder sein Mobiltelefon liegen lassen. Josh humpelte irgendwann genervt durchs Wohnzimmer und ging dem Klingeln nach. Unter einem der Couchkissen fand er das Handy dann endlich und blickte auf die unbekannte Rufnummer.
»Wahrscheinlich wieder einer seiner Verehrer«, murmelte er, beschloss aber doch, dem Spuk ein Ende zu machen und ranzugehen, denn die Penetranz des Anrufers schien endlos zu sein.
»Hallo?«
Eine beinahe hysterische Männerstimme meldete sich am anderen Ende: »Mann, Roi!
Wo bleibst du, verdammt? Seit Tagen hören wir nichts von dir! Hast du den Gig heute vergessen? Konrad hat rausgefunden, dass dieser P. B. Steiner kommen wird! Mann, Alter, das ist unsere Chance
, endlich einen Plattenvertrag zu kriegen, also verpatz es ni-«
»Ich verstehe nur Bahnhof!«, unterbrach er den Redeschwall des jungen Mannes: »Hier ist Josh! Roi hat sein Handy auf meiner Couch liegen lassen und kommt wahrscheinlich erst in einer Stunde zurück. Also nochmal ganz ruhig bitte, damit -«
Der Anrufer fluchte ihm dazwischen, sprach dann aber zumindest ein wenig langsamer: »Hier ist Sven, der Drummer seiner Band. Wir haben heute Abend einen echt extrem wichtigen
Auftritt, der steht schon seit einigen Monaten. Alle sind bereits da und bauen auf, nur unser werter Frontmann fehlt! Wir können ihn seit Wochen nicht erreichen!«
Josh fühlte sich augenblicklich schuldig, setzte sich und legte die Krücken beiseite. Er wusste, dass sein Bruder immer mal wieder Gigs mit seiner Band hatte und dabei auch Gitarre spielte, aber der große Durchbruch war bisher ausgeblieben. Rohan musste in den letzten anderthalb Monaten alles vernachlässigt haben, um jeden Tag bei ihm zu sein. Das sah ihm wieder mal ähnlich.
»Hör zu, sobald er zurück ist, sage ich ihm Bescheid und sorge dafür, dass er kommt, okay?«
Der junge Mann atmete auf. »Okay. Wenn er bis siebzehn Uhr nicht hier ist, müssen wir die Sache canceln und die Band zerfleischt ihn! Also bitte sorg’ dafür, dass er vorher kommt!«
»Ich gebe mein Bestes!«
Kurz bevor der Schlagzeuger auflegen wollte, stellte der aber doch noch eine Frage: »Hey, hast du vorhin gesagt, du bist Josh? Sein Lover
Josh?«
Offenbar hatte Rohan von ihm erzählt, was ihn pikiert grummeln ließ. Er hasste es, wenn er so betitelt wurde. »Ja ... genau der. Warum?«
Entgegen seiner Erwartung reagierte sein Gesprächspartner aber sehr freudig darauf. »Na dann komm doch auch mit aufs Konzert! Roi ist immer der Einzige, der ohne Anhang dasteht, und ihr seid doch nun schon eine ganze Weile zusammen. Wenn das Ding heute rockt, haben wir was zu feiern!«
Josh wusste nicht, ob er jetzt wütend, dankbar oder traurig sein sollte. Was er wusste, war, dass Rohan nach wie vor gerne flirtete,
und dabei wäre er ihm sicher im Weg. Dennoch hätte er schon gern gesehen, wie weit sein Partner dabei ging. Knutschte er rum oder gar mehr? Oder saß er bei seiner Band im Backstagebereich und knallte sich einfach nur deprimiert die Birne voll?
»Ich hatte vor einer Weile einen Unfall und gehe noch an Krücken. Ich denke, deshalb war Roi auch so schwer zu erreichen. Er hat sich die meiste Zeit um mich gekümmert. Es tut mir echt leid, dass er euch wegen mir vernachlässigt hat.«
Plötzlich lachte der Bandkollege. »Oh Mann, das ist ja wieder typisch! Wieso sagt der Idiot das nicht einfach? Okay, alles klar, dann weiß ich erst mal Bescheid! Trotzdem zähle ich auf dich!«
»Klar, und wenn ich ihn persönlich zu euch prügeln muss!« Josh lachte und beendete dann das Telefonat. Er lehnte sich zurück und seufzte. Nach all den Jahren gab es immer noch Dinge, die er von seinem Halbbruder nicht wusste. Er liebte es, wenn dieser singend durch die Wohnung lief, und bei den wenigen Karaoke-Abenden, die sie zusammen verbracht hatten, war er immer der Star. Nie hatte er ihn deshalb aufgezogen oder ihm gesagt, dass ihm die Musik nicht gefiel, auch wenn dem manchmal so war. Also warum hatte Rohan ihn bezüglich seiner Band so im Unklaren gelassen?
Bevor er sich den Kopf darüber zerbrechen konnte, hörte er früher als erwartet die Tür klacken.
»Josh, ich bin wieder da!«, hallte es durch den Flur. »Noah wurde glücklich sabbernd bei deiner Schreckschraube von Exfrau abgeliefert! Gott, sie hat sich doch ernsthaft auch noch den Nacken ausrasiert! So langsam sieht sie echt aus wie ein Kerl! ... Vielleicht will sie dich ja so zurückerobern?« Rohan lachte, kam dann ins Wohnzimmer und hielt Josh eine weiße Plastiktüte vor die Nase, während er ihn auf die Wange küsste.
»Ich hab uns ’n paar Broiler mitgebracht. Was ist los? Du guckst so komisch?«
Josh fuhr sich durch die Haare und klopfte auf das Polster der Couch, um seinem Liebsten zu deuten, sich neben ihn zu setzen. Sobald er ihn in Reichweite hatte, stützte Rohan sich vorsichtig über ihn und küsste ihn liebevoll auf den Mund. Er wollte gar nicht wieder aufhören, doch Josh stoppte ihn irgendwann behutsam.
»Hast du mich vermisst?«, fragte Rohan etwas dümmlich grinsend.
Josh lachte leise und streichelte ihm die Wange. »Ich vermisse dich jede Sekunde, in der ich dich nicht sehen kann, aber das heißt nicht, dass du immer da sein musst ...«
»Hm? Was meinst du?«
»Warum hast du mich bezüglich deiner Band nicht auf dem Laufenden gehalten?«
Rohans Ausgelassenheit bekam einen Dämpfer und er setzte sich zurück auf seinen Hintern. »Woher weißt du davon?«, fragte er nur kleinlaut, anstatt zu antworten.
Josh hielt das Handy zwischen zwei Fingern hoch und sah ihn vorwurfsvoll an. »Es hat mich in den Wahnsinn getrieben! Also bin ich irgendwann rangegangen und hab mit deinem Drummer gesprochen. Du sollst ihn übrigens dringend zurückrufen!«
Rohan sah beschämt zur Seite. »Na ja, du hast meine Musikkarriere ja immer nur als kindische Freizeitbeschäftigung abgetan, also hab ich dir nichts weiter davon erzählt. Du willst, dass ich nicht singe, sondern einen soliden
Job mache, aber ich kann
das nicht, verstehst du? In mir brennt ein Musiker, schon seitdem ich klein bin, und wenn ich meiner Leidenschaft nicht nachgehen kann, geh ich ein.«
Josh nahm Rohans Hand und streichelte sie liebevoll. »Wie kommst du darauf, ich würde nicht wollen, dass du singst? Es wäre eine totale Verschwendung, wenn du nicht auf der Bühne stehen würdest. Ich liebe
deine Stimme, und auch wenn ich es nicht gut finde, dass dich hunderte von Jungs und Mädchen anhimmeln, so möchte ich dich trotzdem unterstützen. Jetzt, wo wir es endlich geschafft haben, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, jetzt, wo wir endlich gemeinsam in Frieden leben können, möchte ich an allem teilhaben, was dich bewegt ... und sei es noch so kindisch.«
Rohan sah ihn mit Tränen in den Augen an, dann umarmte er ihn erneut.
»So langsam wirst du ein richtiger Softie«, neckte ihn Josh und küsste seinen Chaoten. »Und jetzt ruf Konrad an und hol dir deinen wohlverdienten Einlauf, während du dich fertigmachst!«
***
Der Club bebte. Josh saß in einer Ecke an der Bar und trank ein Bier. Er fühlte sich völlig deplatziert zwischen all den halbnackten Jungs, die über die Tanzfläche des Silence
hüpften. Im Gegensatz zu seinem Bruder, den man inzwischen praktisch zum Inventar zählen konnte, war er nur zwei- oder dreimal hier gewesen und das auch nur, um Rohan abzuholen! Er mochte diese ganze düstere Szene nicht, die Darkrooms, den offenherzigen Sex, was vielleicht auch daran lag, dass er Jungs oder Männer im Allgemeinen nicht sonderlich anziehend fand.
Die beiden Vorbands waren gerade durch und nun betraten Roi und seine Jungs die Bühne. Josh schluckte schwer. Im gedimmten Licht der bläulichen Scheinwerfer, so hoch über den anderen, sah Rohan noch umwerfender aus als sonst. Sein konzentriertes Gesicht wirkte unglaublich charismatisch. Er trug die Haare offen und hatte seine Augen leicht mit Kajal umrandet, so wie früher. Auf seinem nackten, muskulösen Oberkörper reflektierte sein Brustwarzenpiercing die bunten Lichter, während die Arme mit Ketten und Lederbändern geschmückt waren. Seine schwarze Lederhose war an den Seiten geschnürt und die Stahlkappenstiefel klackten schwer beim Gang über die Bühne.
Als er sich seine E-Gitarre umhängte, erblickte er Josh an der Bar sitzen und lächelte ihm verschmitzt zu. Erst jetzt fiel diesem auf, dass es keine von den Gitarren war, die er kannte, und prompt startete Rohan auch eine entsprechende Ansage.
»Guten Abend, ihr schwarzen Seelen ... ich bin Zombie und das ... das ist meine 1958er Les Paul Double Cut Reissue ... ein Erbstück meines Vaters, das euch genauso faszinieren wird wie mich.« Ein erster Anschlag der Saiten ließ den Saal erbeben, doch dann grinste Rohan in das verdutzte Gesicht seines Halbbruders und hauchte ins Mikro: »Ich erklär es dir später, Josh.«
Dann donnerten die ersten Töne des Bassisten durch den Raum, das Schlagzeug setzte ein, und wie eine Dschungeltrommel jagten die Rhythmen durch die Reihen, bis auch seine klanggewaltige Gitarre wieder auflebte. Dann erklang Rohans tiefe, durchdringende Stimme, riss alle mit und versetzte den ersten Anwesenden einen spontanen Gehörorgasmus.
Josh wusste, dass er selbst zwei linke Füße hatte und daher nicht sonderlich gut tanzen konnte, erst recht nicht in seinem momentanen Zustand. Doch als er in die rockende Masse blickte,
verspürte er unbändigen Stolz auf seinen Liebsten. Alles, was er selbst tun konnte, war den Oberkörper und den Kopf zur Musik mitzubewegen, während sein Blick wie gebannt auf dem singenden Adonis klebte, den er so sehr liebte.
Bei jedem neuen Song vibrierten in dessen Stimme Hingabe und Kraft durch den großen Saal und die Klänge der Gitarre unterstützten seine Vibes, als sei sie für ihn gemacht worden.
Josh hätte niemals für möglich gehalten, dass die Jungs so
gut waren. Der Stil erinnerte ihn an eine Mischung aus Rock, indianischer Folklore und einem Schuss Metal. Ungewöhnlich, aber deutlich stimmungsvoll.
Nach ungefähr acht Songs und zwei Zugaben war Rohan völlig verschwitzt, was daran lag, dass er nicht nur sang und Gitarrenparts spielte, sondern auch auf der Bühne herumtanzte. Er war mit Herz und Seele dabei, zeigte vollen Körpereinsatz und raubte allen den Verstand.
Erst als der Veranstalter, beinahe überlagernd, die Musik des DJs einspielen ließ, verließen die Jungs unter feiernden Zurufen die Bühne.
Josh wusste nicht, ob er ihnen folgen sollte, doch er traute sich sowieso nicht mit seinen Krücken durch die tanzende Masse, also entschied er, dass es besser wäre, einfach zu bleiben, wo er war.
Nach einer guten Viertelstunde kam Rohan aus dem Backstagebereich und wollte geradewegs auf Josh zustürmen, wurde aber von seinen Fans abgefangen, die ihn umarmten, küssten und ihn so aufdringlich anhimmelten, dass es schon peinlich war.
Josh nahm es gelassen, doch die Situation nach dessen Auftritt zeigte ihm auch, dass sein Bruder in der Szene schon eine richtige Ikone war, und dieses jahrelange Nichtwissen wurmte ihn. Er hatte diesen Teil im Leben seines Bruders immer erfolgreich verdrängt. Natürlich wusste er, dass Rohan ohne Pause in der Undergroundszene aktiv war, doch er selbst hatte sich davon distanziert.
Endlich hatte es Rohan geschafft, sich zu Josh durchzukämpfen, und setzte sich zu ihm an die Bar. Seine Haare klebten ihm feucht am Gesicht, doch er roch frisch nach Shampoo.
»Hast du geduscht?«, fragte Josh irritiert.
»Ja, so in etwa. Der Darkroom hinten hat ’nen Pool, da bin ich nach der Show kurz reingesprungen.«
»Und jetzt hast du nasse Boxershorts unter? Du holst dir noch den Tod, wenn -«
»Ich hab sie vorher ausgezogen«, fiel Rohan ihm grinsend ins Wort. »Schau dich hier um! Die Hälfte fickt hinten und die anderen tanzen entweder halbnackt oder ganz ohne ...«
Josh schnaufte und trank sein Bier aus. Unfassbar, wie freizügig die alle waren, oder war er einfach nur unglaublich prüde? Wahrscheinlich ein bisschen von beidem.
»Darf ich dich etwas fragen? Mit wie vielen von den Kerlen hier hattest du schon Sex?« Er zeigte in die Runde, doch Rohan rollte nur mit den Augen.
»Frag mich lieber, mit wem nicht. Hey, wir sind eine kleine, elitäre Gemeinde. Man kennt sich und der Nachschub kommt nur langsam, aber ich schwöre dir, seitdem wir offiziell zusammen sind, hab ich es mit keinem anderen mehr gemacht.«
Josh blickte ungläubig, beließ es jedoch dabei. Inzwischen pfiff Rohan nach dem Barkeeper, zog diesen dann aufgrund der Lautstärke zu sich heran und schrie ihm eine Bestellung ins Ohr. Er bekam einen Kuss auf die Wange und hielt kurz darauf zwei riesige Cocktails in der Hand.
»Josh, wir sind in einem schwulen Utopia! Keiner trinkt hier Bier!« Damit reichte er seinem Liebsten das große Glas. »Mit besten Grüßen von Rico für meinen schüchternen Freund.
«
»Äh ... danke.« Josh betrachtete den grinsenden Kerl hinter der Bar und lief rot an.
»Er steht auf dich, so wie der da drüben und die beiden da hinten auch.« Rohan zeigte in die Runde.
»Ist das wirklich so leicht? Man grinst sich blöd an und dann hat man einfach Sex?«
Rohan lachte. »Ja, so easy ist das hier. Keine Dates, keine teuren Geschenke. Was glaubst du, warum ich schon immer lieber hierher gekommen bin, statt zu Hause bei der Familie rumzusitzen?«
»Apropos Familie
... erklärst du mir, was du da vorhin mit dem Erbe deiner Gitarre
gemeint hast?«
»Ja klar, ich -« Auf einmal tippte ein älterer Mann in einem weißen
Hemd und teuren Jeans Rohan auf die Schulter.
»Verzeihung, Zombie
? Mein Name ist Peter B. Steiner, von den Steiner Productions
. Hätten Sie einen Moment Zeit?«
Rohans Bandmitglieder standen bereits hinter dem prominenten Mann. Sie waren komplett aus dem Häuschen und winkten aufgeregt zum Ausgang. Rohan drehte sich zu Josh und sah ihn um Erlaubnis bittend an.
»Nun geh schon, wir reden später! Und wenn du ohne Plattenvertrag wiederkommst, setze ich dich vor die Tür!« Josh grinste und küsste seinen Geliebten, um ihm anschließend hinterzuschauen.
Plötzlich, mitten in dieser abgedrehten Umgebung, realisierte er es. Hier und heute würde sich Rohans Leben ändern! Er war ihm tatsächlich ebenbürtig geworden.
Josh lächelte und nippte an seinem Cocktail.
Ja, sie hatten es endlich geschafft.