Heute ist der fünfte Abend nach der Erschaffung der Welt. Also nach dem Kauf von Pepper.
Die letzten Tage habe ich wie im Paradies gelebt, zusammen mit Emi. Das ganze Wochenende waren wir praktisch unzertrennlich, sind ausgeritten und bis abends im Stall herumgehangen. Ein unglaubliches Gefühl.
Pepper hat schon kapiert, dass er privat ist. Wenn Reitschüler zum Unterricht in den Stall kommen, bleibt er dösend im Stroh liegen, früher ist er dann immer aufgesprungen. Dummerweise hat mich nun die Schule wieder.
In meinem Zimmer ist es dunkel, bis auf den kleinen Lichtkreis, der auf die Seite mit Chemievokabeln in mein Englischbuch fällt.
Aufmerksam horche ich in unseren Hausflur.
Schritte?
Ich spreize das Gummiband mit der Stirnlampe von meinen Ohren ab, um besser zu hören.
Wieso liegen meine Eltern um diese Zeit noch nicht im Bett? Mein Handy zeigt dreiundzwanzig Uhr zwölf. Besorgt starre ich auf meine Zimmertür. Hoffentlich bekommen sie keinen Wind davon, dass ich noch über den Hausaufgaben sitze.
Ich begutachte den schmalen Lichtkegel meiner Stirnlampe, die Dani mir aus dem Outdoorshop mitgebracht hat. Nach menschlichem Ermessen kann nichts durch die Türritze leuchten. Mit Dani habe ich erst gestern den Test gemacht. Wofür Brüder doch gut sind.
Sicherheitshalber stehe ich aber doch auf und stopfe drei Kissen gegen die Türkante.
Um die Zeit wollen meine Eltern mich schlafend in der Koje wissen. Aber was soll ich tun? Hausaufgaben erledigen sich eben nicht von selber.
Allein bis zwanzig Uhr war ich im Stall.
Ich reite jetzt nach dem offiziellen Unterricht, bei den Privaten, zwischen achtzehn und neunzehn Uhr. Habi lässt die Privaten immer für sich reiten.
Er sagt: »Wenn ein fremdes Pferd in die Schulpferdeabteilung kommt, entsteht sofort Unruhe. Das kann ich meinen Reitschülern nicht zumuten. Es gibt Gerenne und Gebeiße.«
Natürlich konnte ich das für mich nicht gelten lassen und habe ihm vorgehalten: »Aber Pepper gehört seit Jahren dazu, bei ihm werden die anderen Pferde doch nicht unruhig.«
»Schon richtig, Flo. Aber ich muss gerecht sein und alle Privatreiter gleich behandeln. Dich genauso wie Emily und die Erwachsenen. Sonst steigen mir bald alle aufs Dach. Versteht du das?«
Ja und nein.
Ich greife nach meiner Apfelsaftpackung und setze sie auf die Mitte des Englischbuchs, damit die Seite nicht dauernd verschlägt.
Zum dritten Mal nehme ich Anlauf für die Hausaufgaben. Chemische Elemente auf Englisch. Die kann ich nicht mal auf Deutsch. Warum drucken sie nichts Vernünftiges in unsere Schulbücher? Zum Beispiel, was Zügel auf Englisch heißt. Oder Stallhalfter. Sattel, Steigbügel, Vorderfußwurzelgelenk. Hornspalte, Anschoppungskolik, Fesselkopf. Oder Reitbeteiligung.
Nein, halt, nicht Reitbeteiligung … dieses Wort will ich auf Englisch nicht kennen. Das mag ich auch auf Deutsch nicht hören. Und an den Stall will ich auch nicht denken, sonst werde ich mit diesen abgedrehten Chemievokabeln nie fertig.
Zu spät. Schon galoppieren meine Gedanken wieder davon. Zum Habichthof …
Dass ich dort plötzlich im Rampenlicht stehe, bringt mich ziemlich durcheinander.
Gerade gehörte ich noch zu den normalen Reitschülern, plötzlich stehe ich im Spotlight. Alle Augen auf mich gerichtet. Auf mich, die Auserwählte, die Pepper bekommen hat, den Star des Stalls.
Unaufhörlich taxieren mich alle, flüstern hinter vorgehaltener Hand. Ich ahne, was sie sagen.
»Wird Flo jetzt zickig?«
»Schafft sie es allein mit Pepper?«
Genauso habe ich es früher auch gemacht, wenn ein neues Pferd ankam. Außer bei Emily.
Ich werfe mich über die Schreibtischplatte und versuche, durchs Fenster Peppers Glücksstern zu erspähen, um mich zu beruhigen. Ein Fehler! Denn schon driften meine Gedanken erneut ab, schweben zur Wiesenfeldstraße 3, wo Pepper bestimmt im Stroh liegt und schläft. Mein Pepper, darf ich jetzt sagen.
Träumst du von mir, Pepper?
Seufzend beuge ich mich über das Englischbuch und schimpfe mit mir.
»Reiß dich zusammen, Flo«, feuere ich mich an. »Frau Fischer kontrolliert morgen, also los.«
Kohlenstoff – carbon. Stickstoff – nitrogen. Sauerstoff – oxygen.
Dreiundzwanzig Uhr siebenundzwanzig. Wer kann um diese Zeit noch denken?
Ich war viel zu lange im Stall und das ist nun die Quittung dafür.
Problemlos hätte ich schon um halb acht zu Hause sein können, aber ich konnte mich einfach nicht trennen. Pepper war so süß, hat immerzu geschnurzelt und mich praktisch mit seinem Charme festgehalten. Man müsste schon ein gefühlloses Monster sein, um sich da losreißen zu können.
»Das kommt hoffentlich nicht öfter vor, Madame«, sagte Papa mit hochgezogenen Augenbrauen, als ich in den Hausflur schlich. »Du musst dein Zeitkonto überpüfen. Ich dachte, das hatten wir alles abgesprochen?«
»Klar Papa, ist nur am Anfang so.«
Weg mit dem englischen Chemiemüll. Her mit dem Zeitkonto.
Ich schiebe die Vokabelsammlung nach hinten und wühle in der obersten Schublade. Vielleicht lässt sich wirklich etwas ändern?
Die Klarsichtmappe »Mein Pferd« fühlt sich dick und gut an. Wie ein Stimmungsaufheller, der direkt durch die Haut auf die Seele wirkt. Freundlicher, weicher, glatter als Bücher mit der Aufschrift: »Englisch. Wortschatzübungen Mittelstufe« oder »Grundlagen Organische Chemie«.
Ich ziehe das gesuchte Blatt hervor.
Die Liste »Zeitaufwand« habe ich letztes Jahr auf hartnäckiges Drängen von Tapir angelegt.
»Für ein Pferd braucht man viel Zeit, Flo. Schreib dir jede Kleinigkeit auf, sonst verschätzt du dich leicht.«
»Aber die Pferde stehen doch die meiste Zeit auf der Weide oder auf dem Paddock«, habe ich eingewandt, »und die Boxen werden auch gemacht. Da bleibt doch nicht mehr viel für einen Privatbesitzer – außer Reiten.«
Aber Tapir hat nicht aufgehört, mich wegen der Aufstellung zu nerven, bis ich dann eine geschrieben habe.
Ich muss nur einen Blick auf dieses Blatt Papier werfen und es geht mir exakt wie an Neujahr, als ich die Liste fertig hatte. Ich zucke vor Ensetzen zusammen. Denn der Zeitaufwand pro Tag lautet:
DREI STUNDEN UND ZWANZIG MINUTEN.
Plus Extrazeit für Tierarzt, Schmied, Pferdeäpfel absammeln, Sattel- und Zaumzeugpflege.
Ein Anflug von Panik erfasst mich und ich knalle die Liste umgedreht auf den Schreibtisch. Heftig sauge ich an meinem Apfelsaftstrohhalm.
Himmel, das schaffe ich nie neben der Schule.
Dummes Zeug. So etwas darf ich mir gar nicht erst einreden. Ich schaffe das, ich darf nur den Kopf nicht in den Sand stecken.
Mit spitzen Fingern drehe ich den Ausdruck wieder um und studiere die einzelnen Punkte.
Wie viel Zeit brauche ich für mein Pferd?
1. Fahrzeit mit dem Fahrrad: insgesamt 20 Minuten
2. Schmusen: 20 Minuten
3. Nachschmusen: 5 Minuten
4. Putzen und Hufe säubern: 20 Minuten
5. Reiten: 60 Minuten
6. Zweites Nachschmusen: 5 Minuten
7. Nach dem Reiten putzen, evtl. abspritzen, Hufe fetten: 15 Minuten
8. Pferdeäpfel und nasse Einstreu aus der Box nehmen, Tränke putzen, Stroh einschütten: 20 Minuten
9. Stallgasse fegen: 5 Minuten
10. Spazieren gehen, grasen gehen, frei laufen lassen in der Halle: 30 Minuten
Das Licht meiner Stirnlampe huscht über die Liste. Zum Teufel, warum habe ich so klein geschrieben? Die Wörter lassen sich kaum entziffern. Die große Schreibtischleuchte würde besseres Licht geben, aber ich traue mich nicht, den Strahler einzuschalten. Fehlte noch, dass meine Eltern etwas unter der Tür hervorblitzen sehen und triumphierend hereinstürmen: »Ha! Wussten wir es doch! Du bist überfordert mit Pferd und Schule. Sofort nimmst du eine Reitbeteiligung.«
Alles, nur das nicht.
Ratlos schwebt mein Kuli über der Zeitliste. Was kann ich bloß streichen?
Zwanzig Minuten Fahrzeit mit dem Rad. Zwanzig verschwendete Minuten. Nichts zu machen. Es sei denn, meine Eltern richten mir eine leere Pferdebox auf dem Habichthof ein, mit Schlafsack, Campingklo und Klappschreibtisch. Dann hätte ihre Tochter zwanzig Minuten gewonnen, um sich hirnrissige Englischvokabeln von chemischen Elementen einzubläuen.
Ich weiß nicht weiter.
Die Einzige im Stall, die Erfahrung mit einem eigenen Pferd hat, ist Emily. Mit zwei Fingern lange ich nach dem Handy und drücke Emis Kurzwahlnummer.
Nach dem ersten Ton ist sie schon dran.
»Flo?«
»Sorry, gut, dass du noch nicht schläfst.«
»Nö, Hausaufgaben.«
»Du auch? Ich dachte, ich bin die Einzige, die kurz vor Mitternacht noch paukt.«
Emily lacht kurz auf.
»Das glaubst du aber alleine. Irgendwie komme ich abends nie weg von Alpino.«
»Hab dich vorhin gar nicht gesehen.«
»War auch erst spät im Stall. Herr Habicht wollte schon abschließen.«
»Oha. Mein Vater meckert jetzt schon wegen Pepper. Nach fünf Tagen. Ich habe hier eine Liste mit dem täglichen Zeitaufwand. Können wir die kurz durchgehen? Vielleicht hast du noch eine Hammeridee.«
»Eine Liste? Wo gibt es so etwas?«
»Nirgends. Selbst gemacht. Tapir wollte das unbedingt.«
»Schieß los.«
Komisch, unsichtbar am Telefon ist Emily viel lockerer als lebendig gegenüber.
Mit dem Kuli umkringele ich die Punkte vier und sieben. »Geht beim Putzen was? Ich plane zwanzig Minuten vor dem Reiten und fünfzehn Minuten danach. Also insgesamt fünfunddreißig Minuten.«
»Mit oder ohne Fesselbeugen ausbürsten?«
»Sind mit drin.«
»Hufe?«
»Auch drin.«
»Puh. Kürzer geht kaum. Hufe dauern. Man muss sie ja jedes Mal genau ansehen. Hornwand, Kronrand, die Hufsohle, Strahl, Hufeisen.«
»Hm. Vielleicht beim Tränkebecken putzen? Machst du das jeden Tag? Aber ehrlich, Emi.«
»Zuerst ja, jetzt nicht mehr. Aber du musst wenigstens in die Tränke reingucken, ob keine Pferdeäpfel drin schwimmen. Und putzen, wenn es nötig ist.«
»Also nach Inaugenscheinnahme«, sage ich schlau.
»Hä?«
»Solche Worte benutzt mein Vater.«
»Inaugenscheinnahme. Cool.«
Ich kichere in mich hinein wegen des bescheuerten Wortes. Und wegen der gesparten Scheuerzeit.
Punkt Schmusen und Nachschmusen.
Dazu muss ich Emily gar nicht ausquetschen. Denn auf die Frage nach möglicher Zeitkürzung antworte ich mir selber, und zwar kurz und präzise: N-E-I-N.
Wofür habe ich endlich ein eigenes Pferd? Ich kann mich höchstens auf Peppers Tagesform einstellen. Wenn er in Schmuselaune ist, bleibe ich länger, ansonsten reiße ich mich zusammen und schmuse kürzer. Immerhin rund zehn Minuten Zeitersparnis. Ob ich das schaffe, ist eine andere Sache.
»Hast du Herrn Habicht an Alpinos Mineralfutter erinnert?«, will Emily wissen.
»Ja, Quälgeist. Ich weiß echt nicht, was daran so schlimm ist. Ich meine, dass du ihn selber fragst.«
»Mann, Flo …«
»Schon okay. Danke übrigens fürs Listenabhaken. See you.«
»Tschau.«
Mir gefällt es ehrlich gesagt nicht, Herrn Habicht immerzu an Emilys Sachen zu erinnern. Der denkt ja, ständig will Flora was von mir. Dabei geht höchstens die Hälfte der Fragen auf mein eigenes Konto. Großzügig gebe ich mir fünf Punkte auf meiner »Feine-Flora-Skala«. Weil ich mit Emilys Schüchternheit wohl bis zu meiner Rente leben muss, türme ich noch drei feine Punkte obendrauf.
Meine letzten Fragen simse ich um dreiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig an Tapir.
Hi Tapir, mein Vater meckert wegen langer Stallzeit. Frage: Wie lange muss Pepper neben einer Stunde Reiten bewegt werden? Minimum? LG Flo
Die Antwort kommt blitzartig. Wahrscheinlich zieht Tapir sich wieder bis zum Weckerklingeln Videos mit Außerirdischen rein.
Pferde sind Lauftiere! Die können sich gar nicht genug bewegen. Ohne Reiter, meine ich.
Seufzend überfliege ich Tapirs Text. Lauftiere … ja, toll. Das weiß ich auch. Bloß gibt es da eine gewisse Anstalt namens S-c-h-u-l-e, die mich davon abhält, mit meinem Pferd spazieren zu gehen. Ich brauche Stundenzahlen und so weiter. Eilig tippe ich die nächste Frage, bevor Tapir sein Handy aus der Hand legt.
Schon klar, Tapir. BITTE GENAUERE ANGABEN!
Flo.
Die nächste SMS trifft ein.
Im Winter haben alle Pferde auf dem Habichthof den halben Tag Paddock. Im Sommer ca. sechs Stunden Weide. Neben dem Reiten geht das so. Besser ist natürlich noch mehr zusätzliche Bewegung. Remember: Lauftier.
Aber was ist, wenn Paddock und Weide ausfallen? Meine Gedanken wandern – nein, sie schwimmen – zurück zum letzten Herbst. Extremer Dauerregen mit Sturm. Unser Paddock überschwemmt. Mit eingezogenen Köpfen drückten sich die Pferde an die Paddockwand und bewegten sich keinen Zentimeter. Das Lauftier in ihnen verweigerte den Dienst in der Schlammwüste. Der Boden war zu tief. Da hat Herr Habicht die Schulpferde morgens dreißig Minuten in der Reithalle laufen lassen. Zwanzig Minuten Schritt, dann etwas Trab und Galopp. Dreißig Minuten frei laufen lassen – mein Punkt zehn in der Zeitliste. Darum muss ich mich ja künftig selber kümmern, weil Pepper kein Schulpferd mehr ist.
Hi Tapir, letzte Frage. Genügt im allerallerallergrößten Notfall eine halbe Stunde frei laufen lassen in der Halle? Neben Reiten? Ich meine, bei Starkregen wie letzten Herbst?
Tapir simst zurück:
Mit der Frage machst du mich echt fertig. Vor der Antwort drücken sich selbst Fachleute. Natürlich sind dreißig Minuten freie Bewegung nicht genug. In der Natur bewegen sich Pferde mindestens zwölf Stunden im Schnitt. Das Notfall-Kurzprogramm in der Halle geht wirklich nur bei höherer Gewalt.
Ich will gerade antworten, als mein Handy schon wieder wiehert. Tapir ist noch nicht fertig.
Achte darauf, dass Pepper sich zumindest frei wälzen kann. Jedes Pferd will dieses Scheuer- und Kratz-Erlebnis einmal am Tag. Ultrawichtig: Lass deinen Schatz zusammen mit anderen Pferden laufen. Damit er spielen und sich mit seinen Kumpels beknabbern kann. Pferde brauchen es, dass ihre Sinnesreize befriedigt werden …
SINNESREIZE? Was meinst du, Tapir? ;-)
FLO! Was du wieder denkst. =) Ich meine Kontakt zu anderen Pferden, Licht und Luft. Überhaupt brauchen Pferde die Außenwelt, damit sie ihre Neugier befriedigen können. Auch bei Regen, Sturm, Schnee, wenn es nicht zu heftig kommt. Die Reithalle ist da viel zu eintönig. Die Schulpferde kommen ja zumindest noch mit Reitern ins Gelände. Mit Pepper darfst du wahrscheinlich abends nicht mehr allein ausreiten???
Stimmt auffällig X((. Was schlägst du vor?
Abends mit Pepper spazieren gehen, damit er Eindrücke aus der Natur mit in den Stall nimmt. Am besten zusammen mit Alpino zum Fellkraulen. Bei Familienstress vllt gerade mal einschränken. Und nun ab in die Falle. Tapir.
Ich lege das Handy auf den Nachttisch und packe das Blatt Papier sorgfältig auf den Boden meiner Klarsichtmappe.
Etwas besser sieht der Plan nun aus. Aber zweieinhalb Stunden für Peppers Versorgung bleiben das Mindeste – wenn ich ihn nicht laufen lassen muss. Obwohl Herr Habicht mir schon viel Arbeit abnimmt, wie ausmisten, füttern, auf die Weide bringen.
Eigentlich läuft es auf drei Stunden hinaus.
Diese Liste darf mein Vater niemals sehen, sonst finde ich Pepper in der nächsten Ausgabe des Pferdemagazins. Unter Verkäufe: Aus Zeitmangel gegen Höchstgebot abzugeben …