Ich zische auf den Pausenhof und werfe mein Fahrrad gegen eine Wand aus abgestellten Rädern. Es klingelt zur Englischstunde.
Gerade noch geschafft.
Ohne nach links und rechts zu sehen, renne ich zur Eingangstür, in der sich eine Schülergruppe verkeilt.
Durch meinen Kopf schwirren all diese verrückten Begriffe, die Tapir mir aufgetischt hat. Nutzungszeiten. Unterhaltskosten. Fremdreiterrisiko. Weiß Frau Fischer, was das auf Englisch heißt?
Plötzlich fühle ich eine Hand auf dem Rücken. Empört drehe ich mich um – und sehe direkt in ein Gewirr aus langen Locken mit dem grinsenden Gesicht von Melly Lanz darin. Auf ihrer Jacke glitzern die Pailletten.
Auch das noch.
Mit hochgezogenen Brauen mustert Melly mich und zupft Stroh von meiner Jacke.
»Warst du etwa im Stall?«
Demonstrativ hält sie die verräterischen Halme in die Höhe. »Lässt du neuerdings dein Pferd vom Pausenbrot abbeißen?«
»Phhh«, mache ich.
Bei den Wörtern »Stall« und »Pferde« dreht sich wie auf Kommando eine Horde Jungs um und mustert mich mit amüsierter Neugierde. Ich muss ein Dutzend abschätzige Blicke über mich ergehen lassen. Als hätte Melly mich gefragt: Hast du dein Pausenbrot mal wieder mit einer Kanalratte geteilt?
Fies von ihr, auf dem Schulhof die Wörter »Stall« und »Pferd« zu gebrauchen. Jeder weiß, dass es für Jungs kaum ein größeres Hasswort gibt als »Pferdestall«. Ausgerechnet vor diesen ziemlich netten Jungs auf der Treppe muss sie das sagen, die blöde Kuh. Wahrscheinlich sind Vince und Ferdi auch irgendwo dabei, schließlich schwirrt sie ständig um die beiden herum.
Melly hat ihren Fehler wohl auch gerade bemerkt. Ihr panischer Blick signalisiert mir: Bitte sag nicht, dass ich auch zum Reiten gehe. Nicht vor diesen Jungs. Tut mir leid.
Typisch Melly. Einem billigen Witz nie abgeneigt. Für einen Moment im Rampenlicht vergisst sie alles, sogar, dass sie fast ein Eigentor schießt. Sie kann einfach nicht anders, als fiese Kommentare von sich zu geben. Wie unter Zwang muss Melly sich vor anderen wichtig machen. Sie sollte sich mal bei ihrer Mutter auf die Couch legen …
Ich werfe den Kopf in den Nacken und drängle mich wortlos durch. Melly kann heilfroh sein, dass ich nichts über ihre Pferdeliebe verrate.
Atemlos renne ich über den Flur zu meinem Klassenraum und lasse mich auf den Stuhl fallen.
Während ich im Rucksack nach meinem Englischbuch suche, schiebe ich Mellys Gesicht in meinen Gedanken beiseite und ersetze es durch Peppers braunen Kopf. Verträumt denke ich an die schöne Viertelstunde mit ihm. Heute Abend schmusen wir weiter.
Da taucht erneut Mellys bitteres Lächeln vor mir auf. Wie frustrierend muss es für sie sein, sich vorzustellen, wie ich mit Pepper die Freistunde genossen habe.
Auf einmal überkommt mich so ein großes Gefühl, das mich übergießt wie ein außerirdisches Leuchten. Ich möchte die ganze Welt beglücken. Einschließlich Melly. Weil ich den Hauptgewinn gezogen habe, ein eigenes Pferd. Was heißt Pferd: den Traumprinzen auf vier Beinen. Pepper. Es drängt mich, die anderen an meinem Glück teilhaben zu lassen. Aber wie?
Zunächst fülle ich meine »Feine-Flora-Skala« mit zehn Punkten auf. Wegen meiner grundgütigen Gedanken.
Was genau kann ich für die Stallgemeinschaft tun? Zumindest für die Mädchen, mit denen ich jahrelang in einer Abteilung geritten bin?
Vielleicht eine Party für die Stallleute, um die gute Laune wiederherzustellen? Wenn ich schon keinen als Reitbeteiligung nehme. Nicht schlecht.
Wann?
Samstag ist gut. Samstag ist perfekt. Samstag ist mein Geburtstag. VIERZEHN!!!
Endlich strafmündig, Papa.
Zur Feier des Tages muss ich etwas Besonders bieten. Ich weiß auch schon was. Die Idee geistert schon ewig durch die grauen Zellen unter meiner Reitkappe: Ich werde einen Rap schreiben. Über den Stall und über Pepper.
An der Wandtafel müht Frau Fischer sich mit einem Stück abgebrochener Stummelkreide ab und schreibt die wichtigsten Zeiten im Passiv an.
The meal is served, was served, has been served …
Das kann dauern. Freie Bahn für meine Ideen.
Brennend vor Schreibwut schlage ich mein Englischheft auf.
Erst mal alle Reimmöglichkeiten aufschreiben. »Fremdreiterrisiko« muss hundertprozentig rein. Was für ein idiotisches Wort. Darauf reimt sich allerdings nichts. Außer »Dämmplattenpferdeklo«.
Also doch ohne das Risikowort. Neu beginnen. Einfacher. Viel kürzer. Wie Rappe und Kappe.
Geht doch. Nun ist der Reimmotor angeworfen. Ich kann gar nicht so schnell schreiben, wie mir Wörter einfallen, die sich reimen.
Plötzlich fällt ein Schatten über meine aufgekritzelten Geistesblitze. Zu spät deute ich das Zischen meiner Tischnachbarn richtig: Lehrer im Anmarsch.
Blitzschnell versuche ich, das Heft unter der Tischplatte verschwinden zu lassen, doch da senkt sich schon Frau Fischers hennarotes Haar vor meine Augen. Mit spitzen Fingern greift sie nach dem Heft und überfliegt die vollgeschriebene Seite mit meinen Reimversuchen.
Rappe, Kappe, Pappe, Mappe, Kaulquappe.
Stute, Rute, Pute, Schnute, Jute.
Piercing, Silberling, Unding.
Ohren, bohren, verloren, geschworen.
Fakt, Takt, backt, sackt.
Sauer, Power, Tower, Mauer, Bauer, Dauer, lauer, kauer.
Heu, freu, neu.
»Funny«, sagt sie und deutet auf die letzten Wörter. Heu, freu, neu.
»Say it in English.«
»Hay … being glad … new …«, stottere ich mit hochrotem Kopf. An meinen heißen Ohren könnte man eine Zigarette anzünden.
»In a complete sentence, please.«
Ich stolpere einen hirnrissigen Satz zusammen. Die Klasse kichert.
Frau Fischer lässt nicht locker.
»Use the passive.«
Himmel, wie soll ich aus meinen Heu-freu-neu-Brocken einen vollständigen Satz im Passiv formen? Für einen Rap gelten die Gesetze der Straße, nicht die Regeln von Universitäten. Leider kann ich das nicht so deutlich sagen. Die Fischer fällt vor Entsetzen auf den Rücken, wenn sie wittert, dass ich in ihrem heiligen Unterricht einen Stall-Rap verfasse.
Obwohl sie mich schweigend ansieht, höre ich im Geiste ihren Vorwurf in perfektem Oxford-Englisch: Oh my God, Flora! What a shame. You have to do some extra work.
Doch nichts davon. Stattdessen entdecke ich ein winziges amüsiertes Funkeln in ihren Augen. Im Weggehen flüstert Frau Fischer mir etwas zu.
»At school your horse brain should be locked.«
Sie kann ja richtig witzig sein.
»In der Schule sollte dein Pferdehirn verschlossen sein.«
Darauf muss man erst mal kommen als Lehrer.
Dankbar mache ich mich ganz klein auf meinem Stuhl und ziehe die Mundwinkel babyhaft lächelnd nach oben.
Diese Unterlegenheitsgebärde habe ich mir bei den Fohlen abgeguckt. Wenn sich ältere Pferde nähern, setzen sie als Schutzreaktion instinktiv das Babygesicht auf: Tu mir nichts, ich bin ja noch so klein. Das stoppt jedes angriffslustige Pferd.
Obwohl mir der Demutsblick im Menscheneinsatz zuwider ist, benutze ich ihn hin und wieder, denn er wirkt auch bei Lehrern. Frau Fischer lässt mich nun in Ruhe und knöpft sich die Jungs vor. Vielleicht hat sie auch einfach keine Lust, ihr Notizbuch herauszuholen und mir eine Fünf anzuschreiben.
Zehn Minuten nach der Unterbrechung mache ich mich in Gedanken wieder an meine Party.
Ein überschaubarer Kreis schwebt mir vor. Fünfzehn bis zwanzig Leute, die ich gut kenne.
Meine Finger fliegen über das Papier.
Emily, Janne, Tessy, Kriss, Leonie, Lina, Katharina, Mascha, Insa, Maxie, Rosa, Charlotte, Sophie.
Ich stocke. Muss ich auch Melly und Gloria? Wenn nicht, herrscht offener Krieg im Stall. Außerdem, sooo übel sind sie auch nicht. Und zur Not kann ich ihnen einfach aus dem Weg gehen, sind ja genug andere Leute da.
Also: Melly, Gloria …
Rustikal soll es zugehen, am liebsten draußen mit den Pferden. Zumindest mit Pepper.
Wo?
Zu Hause muss ich gar nicht erst fragen. Meine Eltern mit ihrem Rasen! Sobald ich das Wort »Gartenbenutzung« auch nur denke, kriegt Mama hektische Flecken. Wenn ich dann noch vorschlage, Pepper in unseren Reihenhausgarten zu holen, verbringt Papa meinen Geburtstag in der Uniklinik. Mit einem Herzanfall.
Gedankenvoll lasse ich den Kuli kreisen und betrachte die baumelnden Frühlingskätzchen an den Birken vor unserem Klassenzimmer. »The trees have been coloured by spring«, sagt Frau Fischer.
Zu Hause feiern bringt mir keinen großen Spaß. Meine Eltern planen sich zu Tode. Als ich zwölf wurde, hat Mama fünf Rauchmelder im Haus angeschraubt und meine halbe Klasse war da und fand es peinlich. Nie wieder. Diesmal ohne Klasse, ausschließlich mit Reiterleuten.
Bei genauer Überlegung existiert für meine Party nur ein einziger ultimativer Festplatz: Der große Sandpaddock auf dem Habichthof. Und für die Fete gibt es nur einen einzigen ultimativen Zeitpunkt: Samstagabend. Nicht nur, weil mein Geburtstag ist, sondern weil Herr Habicht Samstagnachmittag nach Neumünster fährt. Zu einem Vortrag über das Holsteiner Pferd.
Obwohl Lennart Habicht kein Wort darüber verloren hat, weiß jeder im Stall von seiner geplanten Fahrt. Von Gloria. Unsere IT-Queen kann sich in Habis Telefon einklinken und mithören. Das darf aber niemand wissen, sonst haben wir den Datenschutz am Hals. Und Herr Habicht würde das wohl als Vertrauensbruch ansehen. Genauso wie die Benutzung seines Hofs für eine heimliche Party.
Aber darüber will ich auf keinen Fall nachdenken, denn sonst müsste ich mir zehn Punkte auf meiner »Fiese-Flora-Skala« geben.
Ich habe alles genau im Kopf.
Wir feiern zwei oder drei Stunden. Vielleicht bis neunzehn oder zwanzig Uhr, dann ist es jetzt im März sowieso dunkel. Bis Herr Habicht zurückkommt, ist alles längst wieder in Ordnung. Wir harken den Paddock, räumen Dosen, Flaschen und Kartons weg und nehmen den Müll mit. Rauchen darf natürlich keiner wegen der verräterischen Kippen. Aber das ist ja sowieso klar auf einem Reiterhof mit all dem Stroh und Heu.
Herr Habicht wird gar nicht merken, dass bei ihm gefeiert wurde.
Und der kleine Johnny kann auch nichts verraten, der bleibt solange bei seiner Tante, Habis Schwester. Die Infos hat Gloria ebenfalls aus Habis Telefon herausgekitzelt.
Ich beruhige mein Gewissen, indem ich mir entsprechende Fragen stelle, die ich gleich mit passenden Antworten versehe.
Existiert irgendwo ein schriftliches Verbot, den Paddock zu betreten? Nein. Wir laufen ja sonst auch auf dem Sand herum, wenn wir die Pferdeäpfel abharken.
Was macht das für einen Unterschied, ob wir eine Mistgabel in der Hand halten oder eine Flasche Cola?
Ist es nicht sogar extrem postiv für den Chef, wenn der Auslauf mal gründlich gesäubert und durchgeharkt wird? Genau genommen müsste Habi uns die Füße küssen für unseren selbstlosen Einsatz.
Ich finde tausend Gründe, mich selber zu beschwichtigen. Und um die ganze Sache als völlig normal hinzustellen. Man darf nicht zu viel zögern und zaudern.
Wie stand gestern auf Mamas Teebeuteletikett?
»Wer allzu viel bedenkt, wird wenig leisten.«
Gut erkannt, Meister Schiller.
Schiller will mich ermutigen. Bloß nicht zu viel bedenken. Ein Anstoß von unserem großen Dichter. So kann man das sehen. Nein, so muss man das sehen.
Also los. Sozusagen angestiftet von Friedrich Schiller. Meine Eltern müssten glücklich sein.