Keine von uns rührt sich, als Herr Habicht aus dem Auto springt.
Die Scheinwerfer lässt er voll aufgeblendet, um die Stätte der Verwüstung auszuleuchten. Mit wütenden Schritten überquert er den Hof. In wenigen Sekunden wird er vor mir stehen und Rechenschaft verlangen.
Kann er mir Pepper wieder wegnehmen?
Noch ein paar Meter. Sein Gesicht, eine einzige Gewitterwolke. Nein, schlimmer, ein unkontrollierbarer Tropensturm. Die tiefen Falten zwischen den Augen ziehen seine Brauen zusammen und verkünden Ärger hoch zehn.
Mein Magen rebelliert.
Ein Königreich für eine Spucktüte.
Der Teebeutelspruch des Tages.
Ohne mich eines Blickes zu würdigen, stapft der Chef finster an uns vorbei zum Paddock. Vorgebeugt begutachtet er den Sand. Beziehungsweise das, was von seinem gepflegten, sauberen Sandauslauf übrig geblieben ist. Der Paddock ist übersät von Flaschen, leeren Kartons, Chipstüten, Verschlüssen, Zigarettenschachteln, Kippen. Wir selbst hatten natürlich nur Plastikflaschen mitgebracht. Aber die Bande, die über den Habichthof fegte, hatte massenhaft Alkohol dabei. Wodka, Tequila, Kräuterschnaps, Sekt. Und natürlich Bier, Bier und noch mal Bier. Geraucht haben sie auch und ihre Kippen einfach in den Sand geworfen.
Ich fühle mich wie mit 40 Fieber. Krank und matt und schuldig. Nichts wünsche ich mir in diesem Moment sehnlicher als ein gebrülltes »Geht’s noch!« aus dem Mund unseres Chefs. Aber das kommt nicht.
Die Situation geht weit über das hinaus, was man mit »Geht’s noch« abtun könnte.
Endlich erreicht Tapir uns und wir nehmen ihn sofort in die Mangel.
»Warum ist der Chef so schnell zurückgekommen?«, frage ich leise.
Tapir deutet mit dem Kopf zur Straße.
»Nachbarn vom anderen Ende der Wiesenfeldstraße haben die johlende Horde auf dem Weg zum Habichthof beobachtet. Einer hatte Habis Handynummer und hat ihn im Auto erreicht. Natürlich hat der Chef die nächste Abfahrt genommen und ist gleich zurück.«
»Er war gar nicht in Neumünster?«
»Natürlich nicht, Schlauberger. Seine Laune wird grandios sein.«
Ich schrumpfe auf Haferkorngröße zusammen.
»Darauf kannst du Gift nehmen.«
Verstohlen sehe ich zum Himmel. Ich fahnde nach dem Großen Wagen, suche Peppers Stern, und obwohl es noch nicht ganz dunkel ist, entdecke ich ihn schnell. Er blinkt nicht wie sonst, steht nur ruhig und kühl und ungeheuer weit entfernt hoch oben. Der Stern geht auf Distanz zu mir.
»Hoffentlich habt ihr jemand erkannt«, sagt Tapir. »Wegen der Haftung.«
Er zeigt auf das schief hängende Gattertor und die silberfarbenen Einzelteile der Raufe, die anklagend im Scheinwerferkegel aufblitzen. Und auf den zerrissenen Elektrozaun.
»Na, Flora?«
Hilflos zucke ich die Schultern.
»Die hatten Kapuzen auf. Einige Gesichter habe ich bestimmt schon gesehen. Aber ein Name? Fällt mir zu keinem ein.«
Ich schiele zum Paddock, von dem ein unterdrückter Fluch zu hören ist.
Mit malmenden Backenknochen hebt Herr Habicht das schiefe Gattertor an, schlägt probeweise mit der Schuhspitze gegen Schrauben und Bolzen, zieht und richtet und lässt es dann mit einem ärgerlichen Seufzer fallen. Das Tor ist offenbar nicht zu retten.
Er verschränkt die Arme vor der Brust und starrt uns herausfordernd an. Zwanzig Reitermädels blicken stumm zu Boden. Ein falsches Wort und Habi geht senkrecht in die Luft wie eine Rakete.
»Jetzt will ich sofort hören, was hier passiert ist.«
Wie auf Kommando richten sich alle Augen auf mich. Danke, Leute, sehr freundlich.
Als ich den Mund aufmache, kommt nur gestotterter Schwachsinn heraus.
»Wir … wir wollten das nicht, Herr Habicht. Ich wollte nur meinen Geburtstag feiern mit ein paar Mädchen aus dem Stall.«
»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Ohne mich zu fragen?«
»Ohne Fremde, echt. Kein Alkohol und keine Zigaretten. Nur Limo und Cola. Ganz anständig, wir hätten alles wieder weggeräumt, Herr Habicht. Bitte, Sie müssen mir glauben.«
»Gar nichts muss ich.«
»Tut mir leid.«
»Das hat ein Nachspiel. Später. Jetzt wird hier erst mal klar Schiff gemacht.«
»Aber es ist doch fast dunkel«, wagt Melly zu erwähnen.
Herr Habicht schnaubt.
»Fast dunkel? Zum Feiern und Randalieren fandet ihr es hell genug.«
Mit ein paar Schritten ist er an der halbhohen Mauer zum Paddock und drückt auf zwei Lichtschalter. Vier hoch angebrachte Leuchten flammen auf und tauchen den misshandelten Auslauf in unbarmherziges Licht.
Aus der Halle dringt Wiehern und Schnauben.
Herr Habicht horcht auf.
»Habt ihr Pferde in der Halle?«
»Pepper und Alpino. Die haben wir über die Weide in Sicherheit gebracht.«
Er nickt und wendet sich ab. »Ich stelle sie zurück in die Boxen. Ihr macht euch an die Arbeit. Den gesamten Müll vom Paddock absammeln. Aber peinlich genau.«
»Ich habe Müllsäcke«, beeile ich mich zu sagen. Als könnte ich mit blauen Abfallbeuteln etwas gutmachen.
Ich hole Mamas Rolle mit extradicken Abfallbeuteln aus meinem Rucksack und verteile sie.
Mit gebeugtem Rücken kriechen wir über den Paddock und werfen Flaschen und Kartons in die Säcke.
Tapir besorgt zwei feinzinkige Harken und reicht sie Melly und Gloria.
»Sand abharken, aber sorgfältig. Damit bringt ihr den Kleinkram an die Oberfläche, Verschlüsse oder Scherben.«
Herr Habicht erscheint in der Stalltür, er sieht weniger grimmig aus. Wahrscheinlich hat er festgestellt, dass die Pferde in Ordnung sind.
Er verschwindet in der alten Scheune, wo er sich eine Wohnung eingerichtet hat, und kehrt mit zwei runden Sieben zurück, groß wie Wagenräder. Wie riesige Kuchenformen sehen sie aus mit ihrem umlaufenden Rand und dem Boden aus Eisendrahtgewebe.
»Hier wird jeder Quadratmeter abgesiebt«, sagt er und knallt uns die Siebe vor die Füße. »Auf meinem Paddock bleibt keine Kippe und kein Kronkorken liegen, das ist euch hoffentlich klar.«
Wir müssen das Sieb zu zweit schütteln, weil es so groß ist und mit Sand verdammt schwer wird.
Emily und ich teilen uns ein Sieb, schippen Sand rein und schütteln es im Rhythmus hin und her. Sand rieselt durch die Maschen. Schmutz bleibt auf dem Drahtgeflecht liegen.
Wie Goldwäscher kommen wir uns vor, passend zu Tapirs Goldschürferhose aus Arizona. Nur, dass keine Goldnuggets in unserem Sieb liegen bleiben, sondern ab und zu ein Pferdeapfel und Zigarettenkippen. Das einzige Goldene, das wir finden, sind Kronkorken.
Tapir zeigt auf die Kronkorken und bemerkt: »Wenn Pepper sich einen davon in die Hufsohle tritt, dann gnade dir Gott. Und seid sorgfältig beim Zigarettenstummelsuchen.«
Er hebt einen braunen Filter auf und hält ihn hoch. »Die Kippen stecken voller Nikotin, Cadmium und noch anderen Giften. Ist ja wohl klar, dass jede einzelne Kippe gefunden werden muss, damit die Pferde die Dinger nicht erwischen und darauf herumkauen. Oder sie womöglich verschlucken.«
Jeder werkelt stumm vor sich hin und versucht, möglichst viel Abstand zwischen sich und Herrn Habicht zu bringen.
Mir bricht der Schweiß aus, wenn ich mir vorstelle, was das alles kostet. Ein neues Tor, eine neue Raufe, Elektroband und wer weiß, was sonst noch ersetzt werden muss.
Dabei war ich bis vor einer Stunde noch voller Freude und rosa Wärme wegen Pepper.
Ein blauer Golf biegt auf den Hof ein und hält vor Habichts Scheune. Habis Schwester steigt aus und hebt Johnny aus dem Kindersitz. Halb schlafend hängt der Sechsjährige im Schlafanzug in ihren Armen. Doch dann wacht er auf, und als er die merkwürdige Szene vor seinem Zuhause sieht, hüpft er auf den Boden und ist außer Rand und Band.
»Voll die Action«, schreit Johnny hellwach und rennt zu uns herüber.
Ich muss lachen. Für uns ist das die Pest … aber für einen Sechsjährigen natürlich ein Abenteuer.
Johnny will helfen und greift an den Rand unseres Siebes, aber das ist viel zu schwer für seine Kinderarme.
»Johnny, das ist zu kalt.«
Herr Habicht hängt seinem Sohn eine warme Pferdedecke um. Mit fliegenden Deckenzipfeln rennt Johnny ins Haus und kehrt unter Siegesgeheul mit seinem Sandkastenspielzeug zurück. Kleine rote Plastikförmchen, ein Strandsieb und eine Schaufel.
Konzentriert schippt er Sand in das Minisieb. Der blonde Strubbelkopf ist völlig vertieft in die Sucht-die-Kronkorken-Aktion. Johnny ist der Einzige, der lacht und alles aufregend und komisch findet.
»Johnny ist unsere Rettung«, flüstert Emily mir über das Drahtsieb zu. »Habi guckt schon viel milder, weil sein Kleiner solchen Spaß hat.«
In die Stille der Aufräumaktion richtet Tapir sich plötzlich auf. »Jetzt hab ich’s«, sagt er. »Einer der Jungen … ist der Sohn von Staatsanwalt Weise. Er hat ihn mir mal vorgestellt, auf dem Gerichtsflur.« Tapir verzieht amüsiert das Gesicht. »Da wird sich Herr Weise aber freuen, wenn er für den Schaden zahlen soll. Geht der Knabe auf euer Gymnasium? Dann müsstet ihr ihn doch mal gesehen haben.«
Melly lässt die Harke fallen und läuft tomatenrot an.
»Ich kannte keinen«, sagt sie schnell, obwohl Tapir sie gar nicht direkt angesprochen hat. Sie hebt die Harke auf und arbeitet mit gebeugtem Kopf weiter.
Ich werde misstrauisch. Ihre überstürzte Antwort lässt mir keine Ruhe. Während ich einen Müllsack auf den Hof schleife, kommen meine grauen Zellen in Schwung und ordnen einige Jungs, die ich sonst in anderen Klamotten kenne. Und vor allem ohne Kapuzen.
Auf einmal sehe ich sie ganz klar auf dem Schulhof vor mir: die Jungs aus der 10 b, die Melly pausenlos anschmachtet.
Wer von denen ist der Sohn des Staatsanwalts? Egal, jedenfalls wird das bei ihm zu Hause ein Riesentheater geben.
Hoffnung glimmt auf. Wir haben einen, der den angerichteten Schaden zahlen muss. Zumindest einen Teil.
Und dann geschieht etwas, womit keine von uns gerechnet hat.
Nach einer Stunde erscheinen plötzlich zwei dünne Gestalten hinter Habis geparktem Pferdehänger.
Emily entdeckt sie zuerst und zeigt mit dem Kinn in die Richtung.
»Guck mal, die haben sich wohl in der Zeit geirrt.«
Ich drehe mich um und betrachte die hoch aufgeschossenen Jungs in dunklen Kapuzenjacken, die unter der Laterne ihre Köpfe zusammenstecken. Einer trägt eine graue Strickmütze bis über die Augen. Sie hantieren mit irgendetwas, das ich aus der Ferne nicht erkenne, dann sprühen auf einmal funkelnde Sternchen in der Luft und die beiden nähern sich mit zwei Bündeln hochgehaltener Wunderkerzen.
Wir unterbrechen unsere Arbeit und starren ihnen entgegen.
Sieh mal an, zwei Bekannte vom Schulhof.
»Sorry für vorhin«, murmelt der Mützenlose mit halblangem Haar und zieht seine Schultern hoch wie ein begossener Pudel. »Irgendwer hier hat heute Geburtstag.«
»Ich«, sage ich und bin baff.
»Hm, also … Glückwunsch.«
Lennart Habicht schießt um die Ecke und stemmt die Arme in die Seiten. Seine Zornesadern an den Schläfen schwellen an.
»Geht’s noch?«, bellt er. »Wollt ihr auch noch meinen Stall abfackeln?«
Mit einem schroffen Handgriff nimmt er ihnen die Kerzen aus den Händen und tritt sie im Sand aus.
Schade, ich fand die Geste nett.
»Nie im Leben sind die freiwillig hier, die sind von ihren Eltern hergescheucht worden«, flüstert Tapir mir zu. »Der eine ist der Lausebengel von Dr. Weise. Sein Vater hat wohl Angst, dass sich die Nachricht im Ort ausbreitet wie ein Flächenbrand. Der sieht schon die Schlagzeilen: Sohn des Staatsanwaltes randaliert in Pferdestall.«
Ich halte es für wahrscheinlicher, dass sie meinetwegen hier sind, weil mein Rap sie so beeindruckt hat.
»Kommt mal mit.«
Habi packt beide an der Kapuze und führt sie mit sich auf den hinteren Teil des Paddock. Anständig von ihm, dass er sie nicht vor uns Mädchen zusammenfaltet.
Ich verwette meine Putzbox, dass die Jungs die umschwärmten Lieblinge von Melly sind, die sie vorhin nicht verpfeifen wollte.
Vince Weise und Ferdi Erding heißen sie, so viel verstehe ich, weil Herr Habicht sie zwingt, ihre Namen mehrmals laut zu wiederholen.
Danach schnappe ich noch Bruchstücke von Habis Aufzählung auf, beispielsweise: »Elektrobänder müssen erneuert werden«, »zehn Isolatoren fehlen«. Und dann: »Ihr könnt den Stall anstreichen und die Boxen mit dem Hochdruckreiniger säubern.«
Aha, statt Cash sollen die Randalierer arbeiten.
Habi bringt die beiden zurück, zeigt auf mich und sagt zu dem, der Vince heißt und der Sohn vom Staatsanwalt ist: »Kannst das Geburtstagskind unterstützen und die kleine Emi beim Sandsieben ablösen.«
»Hi«, murmelt Vince, als er das Sieb von Emi übernimmt.
Wir halten den Rand fest und gucken aneinander vorbei. So wie man es bei Hunden macht, um sie nicht zu reizen. Unauffällig mustere ich mein Gegenüber. Sieht nicht aus wie ein Komasäufer. Eher total nett. Groß, sportlich, halblanges braunes Haar, grüne Augen. Nein, braune. Oder doch grün? Cool, wie er sein Haar unablässig mit einer hochgezogenen Schulter hinter die Ohren streicht.
Ich bin froh, dass ich meine neuen, knackigen Designerjeans anhabe.
Wir lachen ein bisschen, weil wir wegen der peinlichen Situation verlegen sind und weil man erst einmal in Einklang kommen muss beim Siebschwenken.
Nach dem zweiten Sieb fragt Vince: »Stammt der Rap im Netz wirklich von dir?«
»Ja, warum?«
Auf dem Drahtgeflecht bleiben ein paar Steine zurück. Vince kippt sie auf den wachsenden Haufen am Zaun und kehrt mit einer neuen Ladung Sand zurück.
»Gar nicht schlecht für ein Reitermädchen. Ich dachte immer, ihr hättet nur Stroh im Kopf.«
Er wird rot dabei und wirft mir einen seltsamen Blick zu, während wir im Gleichklang das runde Sieb hin und her schütteln.
»Sonst noch was?«
Das sage ich so leicht dahin, dabei klopft mein Herz bis zum Hals, fast so heftig wie an dem Tag, an dem ich Pepper bekam.
Melly sammelt Kronkorken entlang des kaputten Elektrozauns und dabei tänzelt sie und lässt ihren kurzen Rock wippen. Plötzlich lacht sie hell auf und versucht, Vince’ Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Und dann bemerke ich etwas, das mich schwer verwirrt. Vince schaut zwar kurz zu Melly hinüber, aber mit einem unbeteiligten Blick, als wäre sie einer der Isolatoren am Elektrozaun.
Dann sieht Vince Weise erneut mich an, so komisch, irgendwie bewundernd.
»Ich kenne dich vom Schulhof«, sagt er ohne weitere Erklärung. Er findet mich gut, sagen seine grünen Augen mit den kandisbraunen Sprenkeln. Obwohl ich keinen kurzen Rock trage wie Melly und keine dramatisch lackierten Fingernägel wie Gloria. Unter seinem Blick werde ich rot und ich fühle mich keine Sekunde länger wie ein schuldiger Pestbolzen, sondern sensationell, weil ich ein eigenes Pferd besitze und einen Rap geschrieben habe und weil ich hier mit dem supersüßen Vince Weise aus der 10 b Sand siebe.