Dass dieser Ferdi so praktisch veranlagt ist, hätte ich nicht gedacht. Geschickt repariert er mit Habi und Tapir das Gattertor, als hätte er nie etwas anderes getan. Vince räumt die noch brauchbaren Teile des Elektrozauns in eine Schubkarre.
Schließlich wischt Herr Habicht sich die ölverschmierten Hände an der Hose ab und knurrt: »Da habt ihr ja noch mal Glück gehabt. Ein paar Handgriffe noch, dann funktioniert das Tor wieder, schätze ich. Schwirrt ab, ihr Pfeifen. Aber wir sehen uns wieder und ihr arbeitet den Rest der Schulden ab, verstanden?«
Dann schiebt er die Jungs Richtung Ausgang, ohne dass ich noch einmal mit ihnen sprechen kann.
Vince hebt die Hand, als er loszieht, und guckt in meine Richtung, nicht in die von Melly. Eindeutig …
Mein Herz macht einen Sprung. Ich werde Vince wiedersehen, hier, in meinem sicheren Revier, nicht bloß auf dem Schulhof.
In meinem Kopf tanzen seine Worte: »Gar nicht schlecht für ein Reitermädchen.«
Lächelnd binde ich die Müllsäcke zu.
Jetzt bin ich nicht mehr zwei Floras, sondern vier.
Privatflora.
Schulflora.
Pepperflora.
Vinceflora.
Vierfach gespalten, das dürfte selbst Frau Dr. Lanz überfordern.
Es wird kühl auf dem Habichthof. Eine nach der anderen verabschiedet sich. Mellys Mutter rauscht mit ihrem limonengrünen Panzerwagen heran, um ihre Prinzessin abzuholen.
»Na bitte, Herr Habicht«, blökt sie, als sie uns beim Müllsammeln entdeckt. »Die Mädels sind doch eine riesige Hilfe für Sie.«
Der Chef schnappt nach Luft und knurrt gereizt: »Was Sie alles wissen.«
Im Weggehen ruft die Lanz ihm zu: »Warum spielt denn Ihr kleiner Junge noch draußen im Sand? Der müsste längst im Bett liegen.«
Habi pumpt seinen Brustkorb auf wie einen Blasebalg. Ein Wunder, dass er nicht platzt.
Janne, Leonie und die Zwillinge gehen als Letzte.
Ich bin mit Emily allein. Von einer Minute zur anderen ist das hektische Gewusel vorbei.
»Ich seh mal nach Alpino.«
Emi verdrückt sich zu den Außenboxen und ich stehe allein auf dem Hof.
Die Ruhe macht mich nervös. Nichts lenkt mich jetzt mehr von dem Chaos ab, das ich angerichtet habe. Eine unbekannte Angst greift nach mir. Wie eine Riesenfaust legt sie sich um meinen Magen und mein schlechtes Gewissen weicht einer großen Furcht.
Bestimmt verpfeift Habi mich bei meinen Eltern. Was kann ich bloß tun, um ihn nachsichtiger zu stimmen? Ihm einfach aus den Augen gehen? Ob ich mich klammheimlich vom Hof machen soll? Wenn Habi mich nicht ständig sehen muss, verblasst sein Ärger vielleicht bis morgen. Hoffentlich.
Nein. Ich gehe nicht, ohne mich richtig zu entschuldigen. Aber ob das hilft? Sicher wird er in jedem Fall meinen Vater anrufen und ihn in allen Details über meinen Fehltritt informieren: Ihre Tochter verfügt leider nicht über die nötige Reife, um ein Pferd zu halten.
Ich schiele zum Gatter hinüber, wo der Chef unter einem Baustellenstrahler arbeitet. Sein lang gezogener Schatten fällt als groteskes Zerrbild über den Paddock.
Logisch wird Herr Habicht den Vorfall brühwarm meinen Eltern berichten. Um Papa zu beweisen, dass er seine Tochter nicht im Griff hat.
Zum Teufel, meine Eltern gehen an die Decke! Was hatten wir für endlose Diskussionen: Pferd ja, Pferd nein. Schon nach ein paar Tagen als Pferdebesitzer läuft bei mir alles schief. Und sie stehen als die miesesten Erzieher der Welt da. Wenn Papa ausrastet, kann es passieren, dass er Pepper wieder verkauft.
Eine eisige Hand greift nach meinem Herzen, genau an die Stelle, wo ich meine Geheimbox mit Pepper verwahre.
So wie ich meinen Vater kenne, verkauft er Pepper zurück an Herrn Habicht und lässt sich Euro für Euro wiedergeben. Und mein Pepper fällt an Melly Lanz.
Die größte anzunehmende Katastrophe.
Wie kann ein Tag so gewaltig umschlagen? Ich presse meine Hände gegen den Magen, um mein Bauchweh wegzudrücken. Meine prickelnde Freude über Pepper ist verflogen. So allein habe ich mich lange nicht gefühlt. Und so mies. Obwohl ich ein eigenes Pferd habe. Obwohl ich einen süßen Jungen mit kandisbraunen Sprenkeln in den Augen kennengelernt habe.
Wenn ich jetzt keine vertraute Stimme höre, raste ich aus.
Mit feuchten Fingern hole ich mein Handy hervor und versuche es noch einmal mit Danis Kurzwahl. Nach einigen endlosen Sekunden meldet mein Bruder sich.
»Flo?«
Ohrenbetäubender Lärm fegt mir aus dem Handy aufs Trommelfell.
»Wo steckst du, Dani?«
»Führerschein-Fete bei einem Kumpel. Alles klar bei dir?«
»Nein«, flüstere ich, »ich habe Mist gebaut.«
»Was«, schreit Dani zurück. »An deinem Geburtstag?«
Ich erzähle ihm die Geschichte von meiner Party. Und dass ich kurz vorm Durchdrehen bin.
Dani beruhigt mich.
»Komm runter, Flöhchen. Papa nimmt dir dein Pferd nicht weg. Kann höchstens passieren, dass der Stallbesitzer stinksauer ist und dich rauswirft. Schlimmstenfalls musst du dir also einen neuen Stall suchen.«
Die Bässe dröhnen in meinen Ohren. Ich verstehe nur jedes zweite Wort.
»Ich höre nichts mehr«, brüllt Dani. »Wir reden morgen. Relax, kleine Schwester.«
»Danke, Alter.«
Es war gut, Dani anzurufen. Ein echter Schwesternversteher.
Aber was meint er mit: einen neuen Stall suchen? Die nächste Reitanlage liegt weit entfernt, nur mit dem Bus zu erreichen. Jeden Tag eine Stunde mehr Fahrzeit. Neben der Schule schaffe ich das nie, nie, nie.
Dass eine kleine, verbotene Geburtstagsfeier solche Folgen hat! Ich komme mir auf einmal zwanzig Jahre älter vor.
Wenn ich an das ausstehende Gespräch mit dem Chef denke, verkrampfe ich mich vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Jeder Muskel schmerzt.
Mit steifem Nacken schleiche ich in den Stall, um mich von Pepper aufmuntern zu lassen.
Er begrüßt mich erfreut wie immer und hält mir seinen Kopf zum Rubbeln hin.
»Ich habe einen gigantischen Fehler gemacht, Pepper. Vertrauensbruch würde Mama sagen. Weißt du, Habi vertraut mir sein bestes Schulpferd an, also dich, und ich bringe seinen Hof in Gefahr.«
Genüsslich schwenkt Pepper den Kopf, während ich seine Wangen reibe.
Hört er mir überhaupt zu?
»Wenn er mich nun rauswirft, Pepper? Wo sollen wir dann bleiben? Was meinst du, wie entschuldige ich mich am besten beim Chef?«
Mit geschlossenen Augen grunzt Pepper etwas. Hört sich an wie: Bin ich der Pferdebesitzer oder du?
Als große Hilfe würde ich das nicht gerade bezeichnen.
Schweren Herzens reiße ich mich von Pepper los und marschiere zurück auf den Hof.
Pepper wiehert mir durch die Stallgasse nach. Klingt wie: Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen.
Scheint mir aber doch so, denn Habi kniet düster im Sand und zieht Schrauben am Tor nach.
»Ich möchte mich entschuldigen, Herr Habicht.«
Habi hantiert mit seinem Werkzeug und blickt nicht auf.
»Von dir hätte ich das am allerwenigsten erwartet, Flora«, sagt der Chef mit Nachdruck und schlägt unnötig heftig mit der Zange auf den Schraubenschlüssel ein. »Von dir nicht. Ich dachte, du hättest Respekt vor Pferden. Sie haben um diese Jahreszeit ja nur den Paddock zum Austoben und du zerstörst ihren kleinen Lebensraum mutwillig.«
Brutal, wie Herr Habicht die Sache auf den Punkt bringt.
Wenn ich er wäre, würde ich mich rauswerfen.
Von der Seite sehe ich nur sein Profil, die schmal gewordenen Lippen, die aussehen, als hätte Habis Vertrauen in die Menschheit einen Knacks erlitten.
»Aber Herr Habicht, wir konnten doch nicht ahnen, dass plötzlich diese Horde über Ihren Hof herfällt.«
Ärgerlich wirft der Chef die Zange in den Sand.
»Na hör mal, das weiß ja sogar ich, dass bei Partys unerwünschte Besucher auftauchen.«
Auf einmal sieht er gar nicht mehr aus wie mein vertrauter, netter Habi, sondern streng wie Dr. Winkelmann, wenn er vor der ganzen Klasse sagt: »Flora Rohde ist die einzige Schülerin der Welt, die noch nie von der Winkelsumme im Dreieck gehört hat.«
»Ich hoffe, der Vorfall ist dir eine Lehre. Und deinen Freundinnen. So etwas darf nie wieder vorkommen, sonst ist bei mir Ende im Gelände.«
»Kommt nie wieder vor. Ich schwöre.«
»Ich schwöre, ja, ja«, murmelt Herr Habicht und richtet sich auf. »Ich gucke mich jetzt genauer um, was zu Bruch gegangen ist. Für die Schäden müssen deine Eltern zahlen. Das ist dir hoffentlich klar.«
Hilfe! Er verpfeift mich!
»Bitte, Herr Habicht, können Sie meine Eltern nicht da rauslassen? Ich muss sowieso selber für alles haften.«
Meine Kehle ist so trocken, dass ich nur flüstern kann. »Seit heute bin ich vierzehn.«
Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie die Euros nur so von meinem gehüteten Sparkonto herunterstürzen.
»Oha«, sagt Herr Habicht und streicht über seine Glatze. »Dann drück dir mal selber die Daumen, dass nicht allzu viel repariert werden muss.«
Hoffnung glimmt auf. Komme ich mit einem blauen Auge davon? Wirft er mich nicht raus?
Er dreht sich noch einmal um und zeigt mit der Zange auf mich.
»Du mit deiner Pferdekenntnis, wie konnte dir das passieren? Das überrascht mich wirklich, Flora. Das muss bei mir erst mal sacken.«
»Mhm.«
»Sei froh, dass Tapir die beiden Jungs erkannt hat. Die müssen ihre Schulden bei mir abarbeiten.«
Ein winzig kleiner Anflug von einem Lächeln zeigt sich auf seinem Gesicht. »Na, auf den ersten Blick sieht es nicht so schrecklich teuer aus.«
»Reset?«, frage ich vorsichtig.
»Reset, Reset«, grummelt er. »Wenn das immer so einfach wäre. Stecker raus, Stecker rein und die Sache läuft wieder.« Er streicht sich erneut über die Glatze und seufzt. »Na, meinetwegen. Neustart. Das funktioniert aber nur einmal im Leben, das sage ich dir.«
»Mann, Herr Habicht … danke.«
Zutiefst erleichtert renne ich zu Pepper, um ihm von der neuesten Entwicklung zu berichten. So viel Glück nach einem selbst eingebrockten Fiasko – das hat nicht jeder. Ich bin ein Sonntagskind!
Pepper spitzt die Ohren, legt den Kopf schief und lauscht.
»Komm, wir gehen noch eine Runde spazieren.«
Weil heute so viel passiert ist wie sonst nicht in zwei Millionen Jahren, muss ich meinen Freund an meiner Seite haben.
Ich führe Pepper auf den nächtlichen Hof. An meiner Schulter spaziert er neben mir über die stille Anlage. Wie oft habe ich mir das früher gewünscht, Pepper einfach so herauszuholen und mit ihm loszugehen. Jetzt habe ich das Privileg als Privatbesitzer, aber so richtig kann ich mich gerade nicht darüber freuen. Schließlich hat Pepper durch meine Schuld eine gehörige Portion Angst ausgestanden.
»Ich habe ziemlich Mist gebaut, was?«
Pepper drückt seine weichen Nüstern in meine Halsbeuge. Er hat mir längst verziehen. Pferde sind nicht nachtragend. Peppers Herz ist riesengroß.
Der neue Führstrick liegt federleicht in meiner Hand. Nein, bleischwer. Gleichzeitig leicht und schwer.
»Leicht und schwer gleichzeitig – das geht nicht, Fräuleinchen«, würde Dr. Winkelmann sagen, bei dem wir auch Physik haben. Aber es geht doch. Der Winkel müsste mal ein eigenes Pferd haben, dann wüsste er das. Gegen die Millionen widersprüchlichen Gefühle in mir kommen seine lächerlichen Gesetze der Physik nicht an.
Gleichmäßig klappern die Hufe neben mir auf dem Hofpflaster, bevor wir auf den Trampelpfad schwenken.
Warm rieselt Peppers Atem über meinen Arm und ich muss lächeln, weil das so guttut.
Papas Standpauke steht mir allerdings noch bevor. Ob Vince auch Ärger mit seinem Vater bekommt? Anzunehmen, wo Dr. Weise doch am Gericht arbeitet.
Wird Vince mich am Montag auf dem Schulhof ansprechen? Ich muss an seine Augen mit den lustigen Sprenkeln denken, an diesen paradiesischen Moment, als mir sein Blick einen Schauer über den Rücken jagte. Alles hätte ich dafür gegeben, wenn die Zeit stehen geblieben wäre. Ein Spruch von Mamas Teebeutel fällt mir ein:
»Ein Augenblick, gelebt im Paradies, wird nicht zu teuer mit dem Tod gesühnt.«
Täusche ich mich oder verzieht Pepper die Mundwinkel zu einem Lächeln?
»Lachst du über mich – wegen Vince? Kannst du etwa Gedanken lesen?«
Pepper antwortet nicht, natürlich nicht, aber seine Maulwinkel bleiben amüsiert hochgezogen. Er zuckt mit den Nüstern und schnaubt.
Vielleicht können Pferde tatsächlich in Menschenköpfen lesen wie in einem Buch?
Ich betrachte Pepper ganz genau. Warum soll in seinem Großhirn nicht eine Ecke für das Lesen von Gedanken vorhanden sein?
Pferde haben einen langen Zeitvorsprung auf unserem Planeten. Ihre Entwicklungsgeschichte begann vor fast 60 Millionen Jahren, die der Menschen erst vor schlappen zwei Millionen. Was war in den 58 Millionen Jahren dazwischen alles möglich? Dass Pferde gelernt haben, Gedanken zu lesen?
Vielleicht entdecke ich als Erste das Pferde-Gedankenlesezentrum. Eine Riesensensation. Jede Zeitung druckt mein Bild. Ganzseitig und in Farbe. Vor Wut bricht Frau Lanz in unstillbare Schreikrämpfe aus und muss in die Klapse.
Natürlich benennt man den neu entdeckten Gehirnwinkel nach mir. Das Flora-Rohdesche-Pferdegedankenlesezentrum. Zum Teufel, das schlägt andere Wellen als das Müller-Maringsche Doppelherz.
Jäh wird mein Ausflug in die Wissenschaft unterbrochen.
»Flooora!«
Herr Habicht sucht mich. Ausgerechnet jetzt, wo ich so kurz davor war, zusammen mit Pepper in die Geschichtsbücher einzugehen.
»Ich schließe den Stall ab«, ruft der Chef vom Hoftor aus. »Kommst du hoch?«
»Bin unterwegs. Komm, Pepper.«
Der Sand schluckt die Hufgeräusche. Lautlos stapfen wir über den schmalen Pfad zum Stall hinauf. Dunkelblau wölbt sich die heraufziehende Nacht über uns. In hundert Glitzerfarben funkeln die Sterne.
Als ich neben zehn prall gefüllten Müllbeuteln verharre und zum Himmel hochsehe, bleibt Pepper ebenfalls sofort stehen. Nicht einen einzigen Blick verschwendet er an die Abfallsäcke, den sichtbaren Beweis für meine Schande. Dafür liebe ich ihn noch mehr. Pepper hebt den Kopf und folgt meinem Blick nach oben.
Sein Stern im Großen Wagen sprüht nun wieder Funken – wie Vince Weises Wunderkerzen.