Ich denke immer noch an ihn, als ich eine Stunde später, nachdem ich kurz bei meinem Dad war, zu Hause in die Einfahrt einbiege. Es ist einige Monate her, seit ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass mir jemand folgt und mich versteckte Augen beobachten.
Erst waren es kleine Dinge. Der Blick eines Mannes von der anderen Seite der Straße, als ich aus der Praxis kam, immer im gleichen dunklen Hoodie, der aber nie näher kam, nie nahe genug war, dass ich ihn genauer sehen konnte. Er stand immer nur da wie eine Statue und wartete darauf, dass ich in mein Auto stieg. Dann ging er davon. Oder der immer selbe silberne Fiat, der wieder und wieder langsam an unserem Haus vorbeifuhr, mir auf den Parkplatz von Sainsbury’s folgte, mir aber ebenfalls nie nahe genug kam, dass ich den Fahrer richtig hätte sehen können. Hin und wieder habe ich sogar gedacht, dass er mich fotografieren würde, weil ein Handy oder eine Kamera kurz vor seinem Gesicht auftauchte. Ziemlich verunsichert habe ich es einigen Leuten erzählt, den Kolleginnen bei der Arbeit, meinen Nachbarinnen, und sie gefragt, ob ihnen vielleicht auch jemand aufgefallen sei, doch das war nicht der Fall, und es war klar, dass sie dachten, ich würde es mir nur einbilden.
»Ich meine, Cheltenham ist nicht groß, nicht wirklich, wenn du es dir mal überlegst«, sagte Ruth eines Morgens im Mitarbeiterraum, als ich ihr, nicht lange nachdem es angefangen hatte, davon erzählte. »Da sieht man immer mal wieder dieselben Leute. Bei mir kommt regelmäßig ein Kerl mit einem schwarzen Labrador vorbei. Du sorgst dich zu viel, Beth. Mir ist niemand aufgefallen, und schon gar keiner, wegen dem ich mir Sorgen machen würde.«
Ich nickte, irgendwie beruhigt, war aber weiter hypersensibel. Wobei ich mir über die Wochen einzureden versucht habe, dass alle recht haben und ich mir das alles tatsächlich nur einrede, weil, warum sollte mir jemand folgen wollen? Die Vorstellung, dass es einen Stalker gibt, irgendeinen durchgeknallten geheimen Bewunderer, die ist schon eher lächerlich. Ich bin kaum ein Hingucker – eine vierzigjährige geschiedene Mum mit zwei Kindern, die Arbeit, Nachwuchs und ihren älter werdenden Dad unter einen Hut zu kriegen versucht und kaum die Zeit hat, sich mit einem Kamm durch die Haare zu fahren und ein wenig Rouge aufzulegen. Aber dennoch, zwischendurch tauchte er wieder auf, eine Gestalt am Rand meines Gesichtsfelds, die sich in der Umgebung aufzulösen schien, sobald ich sie genauer in den Blick zu bekommen versuchte. Ich überlegte, ob ich zu ihm hin marschieren, ihn ansprechen und eine Erklärung verlangen sollte, aber da fehlte mir der Mut, weil … Was, wenn ich falsch lag? Was, wenn ich wirklich leicht paranoid war? Und dann, vor etwa sechs Wochen, hörte es plötzlich auf. Er schien verschwunden zu sein. Keine flüchtigen Blicke unter Hoodies hervor, keine silbernen Fiats. Aber heute, das war er wieder. Auf dem Parkplatz. Oder etwa nicht? Ich war so sicher, zumindest eine Minute lang, und dann …
»Mum! Eloise will mir ihr iPad nicht geben, Mum! Sag es ihr!«
Ich habe die Haustür kaum aufgedrückt, der Schlüssel steckt noch im Schloss, und Finley bestürmt mich schon.
»Himmel, Finley, lass mich erst mal ins Trockene kommen!«, sage ich, und er schmollt.
»Aber, Muuum …«
»Schschsch.«
Ich mache die Tür hinter mir zu, trete die Schuhe auf der Matte ab und lege die Tasche weg. Dann ziehe ich ihn zu mir, fahre ihm durch den blonden Wuschelkopf und nehme ihn in den Arm.
»Wo ist deine Schwester? In ihrem Zimmer?«, frage ich, und er nickt und drückt den Kopf gegen meinen Bauch.
»Okay, wir gehen gleich zu ihr hoch, aber du musst lernen, nett zu fragen, okay? Es bringt dir nichts, wenn du dich wie ein Brummbär verhältst. Einen Moment nur, ich muss erst Robin verabschieden.«
Ich gebe ihm einen Kuss auf den Kopf, lass ihn los, und er folgt mir grummelnd in die Küche, wo Robin gerade die Spüle trockenwischt. Es ist warm und riecht köstlich. Sie dreht sich um und lächelt.
»Hi, Beth. Tut mir leid, dass er so knurrig ist. Es war bester Laune, bis er beschlossen hat, das Panda-Spiel zu wollen, das er so mag, und Eloise sagte, dass sie das iPad für ihre Hausaufgaben braucht.«
»Du meine Güte, das haben wir in einer Minute geklärt. Geh nur, Robin, und sorry, dass ich mich verspätet habe. Ich musste noch zu meinem Dad, und der Verkehr ist schrecklich. Nicht, dass dir das heute was machen würde, du Verrückte.«
Robin legt ihr Trockentuch ordentlich zusammen und grinst.
»Nein. Heute wird gejoggt. Ich weiß, es ist ein bisschen nass, aber schlechtes Wetter gibt es nicht, oder? Nur die falsche Kleidung.«
Sie ist tatsächlich ein bisschen verrückt, unsere Robin. Sie putzt und passt auf die Kinder auf und hat eindeutig ihre Eigenheiten. Aber sie ist nett, ohne Frage, und absolut verlässlich, sonst hätte ich sie nicht genommen. Die Kinder lieben sie, auch wenn sie manchmal ein wenig spröde ist, würde ich sagen. Erzählt nie viel von sich, weder von heute noch von früher. Ich meine, das ist schon okay, sie muss mir nicht alles sagen. Aber ich weiß nicht mal, ob sie in einer Beziehung lebt, Kinder hat (ich glaube nicht, das hätte sie sicher erwähnt) oder wie alt sie zum Beispiel ist. Mitte fünfzig denke ich, schlank und fit, mit kurzem, dunkelblondem Haar, und ihre Haut hat immer eine gesunde Farbe, auch ohne jedes Make-up. Für etwas verrückt halte ich sie vor allem, weil sie, obwohl sie gute acht Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Stadt wohnt, ziemlich oft her und wieder zurück joggt, oder besser gesagt: rennt. Wobei ich zugeben muss, dass ich selbst eine gewisse Sportphobie habe. Wenn das Wetter wirklich unerträglich ist, kommt sie mit ihrem kleinen Smart, den Finley so liebt. Mit seinen sieben Jahren hat er gerade angefangen, Enid Blyton zu lesen, und denkt, sie hat ihn von Noddy geliehen. Aber wenigstens zweimal die Woche steht sie um acht Uhr früh rotgesichtig und glücklich in ihrem Laufdress vor der Tür, einen Rucksack mit frischen Sachen auf dem Rücken – nachdem sie eine Stunde lang quer durch die Stadt zu uns nach Prestbury gelaufen ist. Das ist doch echt verrückt, oder?
Jetzt nimmt sie ihren Rucksack und geht nach unten ins Bad, um aus der Jeans, dem Pullover und den Stiefeletten, die sie tagsüber getragen hat, in ihre Laufklamotten zu wechseln.
»Oh, Jacob war kurz da, um Eloises Sportschuhe zu bringen, die sie am Dienstag bei ihm vergessen hat«, ruft sie noch über die Schulter. »Sie braucht sie morgen früh in der Schule, glaube ich. Er sagt, er kommt dich morgen besuchen.«
»Okay, super. Danke, Robin.«
»Muuum …«
Finley steht neben mir und zieht an meinem Ärmel.
»Liebling, bitte, gib mir eine Minute. Lauf hoch in dein Zimmer und such dir schon mal ein Buch für deine Gute-Nacht-Geschichte aus. Ich komme sofort hoch, wenn ich mir eine Tasse Tee gemacht habe, und dann gehen wir zu deiner Schwester und sehen, ob wir uns das iPad für eine halbe Stunde ausleihen können. Okay?«
Er zögert einen Moment, blinzelt mich an und überlegt. »Okay!«
Er flitzt davon, ich seufze erleichtert und schalte den Wasserkocher ein. Robin hat wie gewöhnlich alles makellos hinterlassen, und wieder einmal danke ich meinem Glück, meinem Schutzengel oder was immer für ein himmlisches Geschöpf da oben auf mich aufpasst, dass sie es war, die auf meinen ziemlich verzweifelten Aushang im Laden ein Stück die Straße hinunter geantwortet hat, nachdem Jacob und ich uns etwa sechs Monate zuvor getrennt hatten.
Vielbeschäftigte alleinerziehende Mutter sucht Putzhilfe/Kinderfrau.
Schulwegbegleitung, Kinderaufsicht am Nachmittag, leichte Hausarbeiten.
Montag bis Freitag.
Bin unter der Nummer unten erreichbar. Beth.
Ein paar Tage darauf saß Robin in meiner Küche, und vierundzwanzig Stunden später hatte ich sie eingestellt. Es war ein Wunder, dass sie den Zettel überhaupt gesehen hatte, wo sie doch auf der anderen Seite der Stadt wohnt, aber sie hatte eine Freundin in Prestbury besucht und war auf dem Nachhauseweg kurz noch in unseren Eckladen gegangen. Bei ihrem vorherigen Arbeitgeber in The Park hatte sie aufgehört, weil dessen Zwillinge aufs Gymnasium gekommen waren und sie nicht mehr brauchten. Ihre Referenz war mehr als ausgezeichnet, und als ich zur Vorsicht noch einmal nachfragte, riet mir die Mutter, schnellstens zuzugreifen.
»Ehrlich, ich vermisse sie sehr«, sagte sie. »Ihre Kinder werden glücklich mit ihr sein und Sie Ihr blitzsauberes Haus mögen. Ich beneide Sie.«
Sie hatte recht. Robin zu haben, die meine beiden Goldstücke jeden Tag zur Schule bringt und wieder abholt, für ihr Essen sorgt und ihnen bei den Hausaufgaben hilft, bis ich von der Arbeit zurück bin, hat Finley und Eloise einiges von der Stabilität zurückgegeben, die ihnen durch die Trennung ihrer Eltern verloren gegangen war. Nach anderthalb Jahren habe ich (von iPad-Dramen mal abgesehen) glückliche Kinder, und unser Haus ist tatsächlich blitzsauber. Und wenn ich auch nicht unbedingt sagen kann, dass Robin und ich enge Freundinnen geworden sind, mögen wir uns doch, ich vertraue ihr und verlasse mich auf sie. Okay, es gab da, wenn ich ehrlich bin, ein, zwei kleine … nun, sagen wir, Vorfälle, aber die sind vergessen. Es war nichts Großes und ganz sicher nichts, was alles in Frage gestellt hätte. Es liegt auch schon einige Zeit zurück. Jemand wie Robin ist nur schwer zu finden, und ich habe nicht die Absicht, mich in nächster Zukunft von ihr zu trennen – nicht, wenn es sich vermeiden lässt.
Ich gebe einen Teebeutel in eine Tasse, schütte kochendes Wasser darüber und muss schon wieder gähnen. Ich weiß nicht, warum, aber in letzter Zeit schlafe ich nicht gut. Ich bin unruhig und habe immer wieder Alpträume. So wie die, die ich vor ewigen Zeiten als Teenager hatte.
Ist es mein Mr Stalker, der mich in diesen Zustand versetzt? Habe ich wegen ihm diese Alpträume? Es ist so lange her …
Ich starre gedankenverloren in meine Tasse und zucke zusammen, als eine Stimme ruft: »Bye, Beth! Bis morgen!«
Robin winkt mir aus der Türe zu.
»Oh, Gott, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagt sie.
Ich lache und winke ab.
»Ist schon okay, ich war nur gerade etwas abgetaucht! Bye, Robin, und vielen Dank wie immer. Hab noch einen schönen Abend!«
»Du auch.«
Sie lächelt, winkt noch einmal und ist weg. Ich wende mich wieder meiner Tasse zu, ziehe den Teebeutel heraus und lasse ihn in den Abfalleimer neben der Spüle plumpsen. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Wie lächerlich. Das war doch nur Robin. Was ist mit mir?
Ich gehe langsam in den Flur hinaus und nach oben und bereite mich innerlich auf die unvermeidliche Auseinandersetzung mit meiner etwas trotzigen zehnjährigen Tochter vor, wenn ich sie zu überreden versuche, ihrem kleinen Bruder das iPad zu überlassen. Gleichzeitig gehe ich mit mir ins Gericht: Alles ist gut. Mir geht’s gut, mit der Arbeit geht’s gut, den Kindern geht’s gut. Ich muss dieses hartnäckige Unbehagen einfach abschütteln. Es gibt keinen Grund dafür. Wahrscheinlich brauche ich einfach nur ein heißes Bad und sollte früh ins Bett. Einmal richtig ausschlafen. Was immer es sein mag, was mich da verfolgt, es geht vorbei. Wie alles.
Ich atme tief und ruhig durch und spüre doch, als ich die Tür zum Zimmer meiner Tochter öffne, wie der Knoten in meinem Bauch weiter wächst. Weil es nicht funktioniert. Wie sehr ich mir auch zurede, dass alles in Ordnung ist, dieses tief in mir lauernde Gefühl des … des Grauens will mich nicht verlassen. Dieses nagende Gefühl, dass da etwas von vor langer Zeit, das ich längst für bewältigt gehalten hatte, vielleicht doch nicht vorbei ist.