Kapitel fünfzehn

»Was für ein schöner Morgen.«

»Ja, herrlich, nicht wahr?«

Es ist der Morgen danach, und Mum und ich sitzen im Garten. Es ist überraschend mild, und wir trinken Tee und essen Schokoladenkuchen. Ich habe einen leichten Kater, wenn ich ehrlich bin, aber die frische Luft und der Kuchen tun gut. Ich sollte ihn wahrscheinlich nicht essen, nicht, wenn ich an meinen Bauch denke, aber das ist jetzt eine Art Feier. Mum und ich sind seit einer Woche wieder zusammen, und sie schmiedet Pläne. Gerade hat sie mir gesagt, dass sie Liv eine Liste macht, damit sie ihr ein paar Klamotten und andere Sachen schicken kann.

»Es wird von Tag zu Tag wärmer, und wenn ich eine Weile hier bleiben will, brauche ich mehr, als ich mitgebracht habe«, sagt sie. Sie hält inne, als ein Spatz kurz auf dem Rand des Tisches landet, uns einen Moment lang betrachtet und wieder davonfliegt.

»Also ich bin ernsthaft beeindruckt, wie viel du in deine Reisetasche hineinbekommen hast«, sage ich. »Du bist ganz offenbar weit besser im Packen als ich. Einmal, als Jacob und ich mit den Kindern für eine Woche nach Spanien geflogen sind, habe ich es geschafft, sechs Paar Schuhe mitzunehmen, aber keine Unterwäsche.«

Sie schnaubt los, und ich muss auch lachen, glücklich, dass sie es witzig findet. Ich schmachte nach ihrer Anerkennung, wie mir mehr und mehr bewusst wird. Ich sehne mich danach wie ein Kind, das eine coole ältere Mitschülerin beeindrucken will. Ist das nicht traurig? Wahrscheinlich schon, aber hey.

»Wie findest du Crystal?«, frage ich sie. »Sie ist nett, oder?«

Jacob und Crystal waren da, um die Kinder zu holen, und diesmal ist Crystal mit hereingekommen. Frisch und jugendlich sah sie in ihren Jeans und dem blaugestreiften bretonischen Top aus, das Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.

»Sie will unbedingt deine Mutter kennenlernen«, zischte Jacob mir zu. »Ich habe von ihr erzählt, und sie ist absolut fasziniert.«

»Das scheinen alle zu sein«, zischte ich zurück, und wir gingen in die Küche, wo Mum Finley mit seinen Schuhen half, während Eloise ihre Bücher für die Hausaufgaben in ihren kleinen Koffer packte.

Ich stellte die beiden einander vor und ließ sie für ein paar Minuten allein, um nach oben zu gehen, Finleys Tasche zu kontrollieren und seinen Pyjama und seine Zahnbürste einzupacken. Als ich wieder herunterkam, herrschte allerseits beste Laune. Crystal hockte neben Mum auf dem kleinen Küchensofa und bewunderte den klobigen Anhänger aus gebürstetem Metall, den sie an einem schwarzen Wildlederband um den Hals trug.

»Der gefällt mir sehr«, sagte sie. »Du siehst fabelhaft aus.«

Mum nickt jetzt und nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse.

»Sie ist reizend«, sagt sie. »Ich kann verstehen, dass sich Jacob in sie verliebt hat … Oh, Gott, entschuldige, Schatz. Das war taktlos.«

Sie stöhnt, hebt die Hände vors Gesicht und linst ulkig durch die Finger. Ich lache.

»Schon gut, denk dir nichts! Das ist alles vergessen und vorbei. Wir sind erwachsen und mögen uns. Sie ist wirklich reizend, und ich freue mich, dass du sie magst.«

Mum lässt die Hände sinken.

»Puuh«, sagt sie. »Dann ist es ja gut. Sie kommt mir sehr jung vor. Aber ich nehme an, so sind die Männer nun mal, immer empfänglich für ein jüngeres Modell.«

Ich zucke mit den Schultern.

»So jung ist sie auch wieder nicht. Fünfunddreißig, gerade mal fünf Jahre jünger als ich.«

»Oh.« Mum scheint überrascht. »Dafür sieht sie toll aus. Sie ist so schlank.«

Ich bin sicher, dass sie, als sie das sagt, auf meinen Bauch blickt, wenn auch nur für einen Moment, und sofort fühle ich mich unwohl in meiner Haut und zupfe an meinem alten grauen Sweatshirt, das fest um meine Taille liegt. Aber jetzt lächelt sie und schüttelt den Kopf.

»Das war jetzt nicht auf dich gemünzt, mein Schatz. Das etwas Fülligere steht dir. Du bist eine wohlgerundete Frau. Sorg dich deswegen nicht.«

Sie beugt sich über den Tisch und tätschelt meine Hand, doch ich weiß, sie versucht nur nett zu sein. Ich muss meinen zusätzlichen Pfunden zu Leibe rücken, bevor es zu spät ist. Aber … ich sehe auf meinen Kuchen.

Vielleicht nicht heute. Morgen. Morgen gehe ich die Sache an.

Ich will gerade weiteressen, als Mum sagt: »Hör mal, es ist wahrscheinlich ein bisschen unangenehm, aber ich wollte dir … nun, ich muss es zumindest erwähnen, wegen gestern Abend?«

Es scheint vor allem ihr unangenehm zu sein.

»Was denn?«, sage ich.

»Nun, es war nur etwas … etwas, das gesagt wurde. Etwas, von dem ich denke, du solltest es wissen.«

»Was? Was denn?«

Plötzlich werde ich nervös. Der Kuchen ist vergessen.

Um was geht es? Oh, bitte nicht … War das am Ende doch Mike, der da in der letzten Woche draußen mit Brenda und Barbara gesprochen hat? Hat er ihnen etwas über mich erzählt? War Barbara deshalb gestern Abend so komisch? Oh, Gott, ich bin eingeschlafen … Haben Sie … Haben Sie es Mum gesagt? Haben sie dagesessen und über mich geredet? Darüber? Aber dann hätte sie es doch sicher schon gesagt …

Ich gerate in Panik. Es kribbelt in meiner Brust, und ich balle meine Fäuste so heftig, dass mir die Fingernägel in die Handflächen schneiden. Mum redet immer noch, und ich versuche mich zu konzentrieren, ihr zuzuhören.

Was sagt sie da?

»… nachdem du eingeschlafen bist. Du warst so erschöpft, Schatz, und wir wollten dich nicht stören, also sind wir zurück in die Küche, und ja, wir haben über dich geredet und wie ihr drei euch kennengelernt habt, nachdem ihr hier in dieses kleine Viertel gezogen seid. Ich habe dann irgendwann gesagt, dass sie ja beide ein Stück älter als du seien, eher in meinem Alter, und da sagte Brenda, oder war es Barbara?, ich weiß es nicht mehr, nun, eine von beiden, und sie sagte …« Sie macht eine Pause und sieht mich an.

Ich warte, der Atem stockt mir im Hals.

»Sie sagte, und ich gebe das jetzt mit meinen Worten wieder, aber sie sagte so etwas wie: ›Ja, das haben wir auch immer schon für seltsam gehalten, dass sie keine Freundinnen in ihrem Alter hat. Wir treffen uns mit ihr, ehrlich gesagt, weil sie uns leidtut.‹«

Sie macht wieder eine Pause, und meine Augen werden größer.

»Sie haben gesagt … Sie haben gesagt, dass ich ihnen leidtue? Aber …«

Sie nickt.

»Ja, und dann hat, wer immer es war, gesagt: ›Wir hatten immer schon das Gefühl, dass sie nach einer Mutterfigur sucht, aber jetzt, wo du da bist, haben wir den Druck nicht mehr. Jetzt kannst du übernehmen.‹ So in etwa, ich sage das mit meinen Worten: ›Wir können uns jetzt etwas zurückziehen.‹ Und dann haben sie beide gelacht, und ich dachte, das ist jetzt nicht besonders nett, oder? Wenn man eigentlich befreundet ist? Ich dachte, das solltest du wissen, Schatz. Es tut mir leid. Ich weiß, es ist nicht schön, das zu hören.«

Ich starre sie völlig perplex an. Okay, ich bin auch etwas erleichtert, dass es nicht das war, was ich befürchtet habe. Aber das?

Haben sie wirklich etwas so Schreckliches gesagt?

»Das kann ich nicht … Das kann ich nicht glauben«, stammele ich. »Wir sind Freundinnen. Von Anfang an. Richtig, sie sind etwas älter als ich, ja und? Ich habe nie nach einer Mutterfigur gesucht. Das ist lächerlich. Ich mag die beiden einfach. Wir sind Nachbarn. Wir mögen uns. Das verstehe ich nicht …«

Meine Augen sind voller Tränen.

Wir sind die Busy Bees. Wir sind ein kleines Trio. Wir sind Freundinnen, oder etwa nicht?

Mum gibt mir ihre Serviette und sagt, es tut ihr so leid, und sie hätte es wahrscheinlich nicht erwähnen sollen, hätte nichts sagen sollen, aber meine Gedanken überschlagen sich.

Vielleicht haben sie recht. Alle meine engeren Freundinnen sind älter als ich, nicht einfach nur Brenda und Barbara, sondern auch Ruth und Deborah, alle sind eher in Mums als in meinem Alter. Vielleicht stimmt es ja. Vielleicht fühle ich mich deswegen zu ihnen hingezogen. Vielleicht bin ich eine Irre mit einer Art Mutterkomplex. Habe ich etwa unterbewusst in jeder älteren Frau, die ich kennengelernt habe, nach meiner Mutter gesucht? Verdammt. Kein Wunder, dass ich ihnen einfach nur leidtue …

»Ist alles in Ordnung, Schatz? Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich deinen schönen Morgen verdorben habe. Es tut mir leid.«

Mum klingt, als sei sie selbst den Tränen nahe, und ich schniefe, hole tief Luft und reiße mich zusammen.

»Ist schon gut, Mum. Wenn sie das so empfinden, ernsthaft … Ist okay. Und ich bin froh, dass du es mir gesagt hast, wirklich. Komm, reden wir von was anderem. Magst du mit einkaufen kommen? Wir haben keine Milch mehr.«

»Natürlich, und entschuldige noch mal, Schatz.«

Ich winke ab, habe bei unserem kurzen Ausflug zum Laden aber mit Tränen zu kämpfen. Als wir zurückkommen, wird mir ganz schlecht, weil Brenda an ihrer offenen Haustür steht und sich mit Barbara unterhält.

»Oh«, murmele ich.

»Oje«, sagt meine Mutter. »Hör zu, ich überlass dir das. Ich gehe schon mal rein.«

Sie eilt zur Tür, und ich zögere einen Moment am Tor und frage mich, was ich machen soll. Soll ich so tun, als wäre alles bestens, und ihnen munter über die Mauer hinweg zuwinken? Gehe ich hin und spreche sie auf das an, was sie gesagt haben? Oder soll ich sie vielleicht einfach ignorieren? Ich stehe da, immer noch unentschieden, als Brenda herübersieht und meinen Blick auffängt. Einen kurzen, schrecklich unangenehmen Moment lang starren wir einander an, dann wendet sich auch Barbaras Kopf zu mir um, und jetzt sehen wir uns alle drei an, ohne ein Lächeln … Es ist fürchterlich.

Sie müssen es wissen, denke ich. Sie müssen wissen, dass Mum mir erzählt hat, was sie über mich gesagt haben. Sie müssen wissen, wie verletzt und aufgebracht ich bin. Und sie wollen sich nicht mal entschuldigen oder es auch nur eingestehen? Himmel noch mal!

Wut kocht in mir hoch. Ich wende mich abrupt ab, gehe zum Haus und sehe mich nicht noch einmal um.

Okay. Wenn ich eine solche Last bin, wenn sie wollen, dass meine Mum ab jetzt übernimmt, okay. Okay, verdammt noch eins.

Ich bin immer noch ziemlich aufgewühlt, obwohl ich mein Bestes gebe, es vor Mum zu verbergen. Am Ende wird es ein schöner Tag – nachmittags ist es trocken und sonnig, und ich wirtschafte im Garten herum, jäte Unkraut und schneide ein paar ungebärdige Büsche zurück, während Mum mit ihren Zeitschriften auf der Terrasse sitzt. Als es zu kühl wird, um draußen zu bleiben, gehen wir hinein, ich setze Mum vor den Fernseher und fahre ins Krankenhaus, um nach Dad zu sehen. Es geht ihm gut, er ist sogar noch etwas wacher als tags zuvor, was meine Laune hebt, und als ich zurück nach Hause komme, fühle ich mich ein winziges bisschen besser. Ich setze mich zu Mum aufs Sofa, wir zappen durch die Programme und sehe uns am Ende Gilda an. Ich habe den Film nie gesehen, aber Mum liebt ihn.

»Oh, der ist wunderbar!«, sagt sie. »Einer der großen Schwarz-Weiß-Klassiker. Rita Hayworth ist schlicht unglaublich

Der Film ist wirklich gut, mit einem Kasino, Gangstern und reichlich 40er-Jahre-Glamour. Dennoch kann ich mich nur schwer darauf konzentrieren und meine Gedanken davon abhalten, sich selbstständig zu machen. Ich versuche mir zu sagen, dass alles gut ist, aber der Schmerz ist noch da. Nachdem wir gestern Abend so lange aufgeblieben sind, beschließen wir, heute früher ins Bett zu gehen, und um zehn bin ich in meinem Schlafzimmer. Ich war nicht in der Stimmung, etwas Komplizierteres zu kochen, und habe einfach das Tiefkühlfach geplündert. Es gab Pommes, Fischstäbchen und einen Salat. Mum hat darauf bestanden, dass ich den Großteil der Pommes esse, und mir war nicht nach Streit.

Aber als ich mich jetzt aus meinen Sachen schäle, bereue ich, so viel gegessen zu haben. Ich fühle mich aufgedunsen und unwohl. Als ich an meinem großen Wandspiegel vorbeikomme, nachdem ich die schmutzigen Sachen in den Wäschekorb im Bad geworfen habe, bleibe ich kurz stehen und betrachte mich von Kopf bis Fuß. Ist es wirklich so schlimm? Meine Beine sind okay, blass und ein bisschen fleckig, aber halbwegs fest und wohlgeformt. Wobei …

Ich stoße mit dem Finger auf den rechten Schenkel, und das Fleisch wabbelt. Nicht so fest also. Mein Blick wandert zum Bauch und zu meinem Hintern. Früher einmal (vor den Kindern und, zuletzt, den Kummermahlzeiten nach der Scheidung) war mein Bauch flach und eben, jetzt sitzt da eine Speckrolle, die ich mit beiden Händen anheben kann. Wenn ich mit dem Auto über eine von diesen Straßenschwellen fahre, kann ich spüren, wie sie auf und ab hüpft. Und was meine Hinteransicht angeht … Ich drehe mich und betrachte meinen Hintern über die Schulter. Der sah mal kess und knackig aus, jetzt sackt er weg, und die beiden Hälften hängen schlaff herunter. Ich starre ihn angewidert an. Wie habe ich es so weit kommen lassen? Und warum empfinde ich das erst jetzt so? Wie fast alle Frauen, die ich kenne, beklage ich mich ständig über meinen Körper, weise alle Komplimente ab und gelobe, nach Weihnachten / bis zum Sommer / meinem nächsten Geburtstag fünf Kilo abzunehmen, weil wir das nun mal so machen, oder? Aber eigentlich habe ich während der letzten Jahre meine neue, vollere Figur für mich akzeptiert und meine größeren Brüste und die weiche Rundung meiner Schultern durchaus genossen, so schmal, flachbrüstig und knochig ich in meinen Zwanzigern auch gewesen sein mag. Ich weiß nicht, was sich verändert hat und warum ich mich plötzlich von meiner Erscheinung so … so abgestoßen fühle. Und doch …

Ich fahre mit den Händen über meine Brüste, hebe sie nacheinander an und genieße ihr Gewicht. Die Brustwarzen sind rosa und verhärten sich leicht in der kühlen Luft des Zimmers. Ja, meine Möpse sind noch okay, denke ich. Das ist immerhin etwas. Ich stehe noch ein wenig länger da, gedankenverloren, die Hände streichen träge über Brüste, Bauch und Schenkel, doch dann wende ich mich abrupt vom Spiegel ab, ziehe meinen Pyjama an und krieche ins Bett. Ich bin erschöpft, doch der Schlaf will nicht kommen. In meinem Kopf geht es drunter und drüber. Ich denke an Brenda und Barbara, die ich für Freundinnen gehalten habe, die es aber eindeutig nie waren. Und dann erinnere ich mich an die Panik, die mich erfasst hat, als Mum mir zu erzählen anfing, was sie gesagt haben, und wie ich einen schrecklichen Moment lang dachte, dass es etwas völlig anderes wäre, etwas, das auch ihnen gerade erst erzählt worden war. Ich denke über meine Angst nach, die Angst, die während der letzten Wochen immer weiter gestiegen ist. Ich denke an die Furcht, dass mich eines Tages die Vergangenheit, die ich so unbedingt habe vergessen wollen, einholt und mein Leben und meine Zukunft zerstört. Diese grauenhafte Vorstellung, dass meine Freundinnen und meine Kolleginnen und Kollegen herausfinden, was ich getan habe und wer ich wirklich bin. Ich habe eine solche Angst, wie mir bewusst wird. Eine so, so große Angst. Wenn Mike hier immer noch unterwegs ist, wenn er es herausgefunden hat, wenn er es Mum oder sonst wem erzählt hat …

Ich schaudere, atme tief durch, meine Hände krallen sich in die Daunendecke, und ich starre mit großen Augen in die Finsternis.

Aber wenn er es ihr tatsächlich erzählt hätte, hätte sie es dann nicht schon erwähnt? Und wenn nicht ihr, warum um alles in der Welt sollte er es dann jemand anderem erzählen? Das würde er nicht, natürlich würde er das nicht. Könnte Mum denn auf eine andere Weise davon erfahren haben? Von jemand anderem? Ich muss herausbekommen, ob sie Bescheid weiß, oder ich treibe mich selbst in den Wahnsinn. Ich muss es herausbringen, und das möglichst schnell, denn so kann es nicht weitergehen. Ich ertrage das nicht.

Meine Alpträume wird es allerdings nicht beenden. Nichts wird sie je beenden.