Kapitel sechzehn

An jenem ersten Tag, als ich neben Lucy Allen saß, habe ich sie kaum zur Kenntnis genommen. Ich war sauer auf den Lehrer, der sich eine ruhige Stunde wünschte und mich deshalb von meiner Clique weggesetzt hatte, und zwar ausgerechnet neben diese langweilige Kleine, die jedes Mal rot anlief, wenn ihr eine Frage gestellt wurde, obwohl sie doch immer die richtige Antwort wusste.

Streberin!, dachte ich.

Damals war ich anders, verstehen Sie, anders als heute. Ich habe gelernt, tolerant zu sein, geduldig und nett. Aber mit dreizehn war ich hormongetrieben und der Schmerz über den Verlust meiner Mutter doppelt heftig. Wut und Zorn brannten tagtäglich in mir und machten mich offen gesagt zu einem kleinen Miststück. Heute weiß ich, dass mein damaliges Verhalten völlig normal für jemanden war, der erlebt hatte, was ich erlebt hatte. Ich hatte Freundinnen, Mädchen, mit denen ich zusammengluckte, mit denen ich mich aber auch regelmäßig zerstritt, die ich zurückwies, bevor wir uns zu nahe kommen konnten. Ich hatte mehr und mehr zu glauben begonnen, dass ich es nicht wert sei, geliebt zu werden, wenn mir mein Dad auch immer wieder beteuerte, dass er es tat. Ich war überzeugt, irgendwie fehlerhaft zu sein, warum sonst hätte mich meine Mutter verlassen wollen? Es fiel mir zunehmend schwer, mit irgendeiner Form von Kritik klarzukommen, schon der Hauch einer Zurückweisung war zu viel – es reichte, dass ein Hund im Park an einer meiner Freundinnen hochsprang und mich ignorierte, um mich in eine tagelange Depression zu stürzen, die ich weder verstand noch erklären konnte. Am Ende rettete mich eine Therapie, nachdem ich mich als Teenager beharrlich gegen jede Hilfe gewehrt hatte. Erst an der Uni begriff ich, dass ich etwas tun musste, und ging ein Jahr lang regelmäßig zu einer einfühlsamen Seele namens Rita, die mir vermittelte, dass es okay war, Wurzeln zu schlagen und Probleme mit Freundinnen und Partnern zu besprechen, statt gleich zuzumachen und ihnen den Rücken zu kehren. Dass ich nicht so unbedingt unabhängig bleiben musste, sondern Leute an mich heranlassen konnte. Dass ich nicht immer ja sagen musste, um akzeptiert und geliebt zu werden.

Ich gefalle den Leuten zu einem gewissen Grad immer noch gerne, bin immer noch leicht paranoid und gelegentlich ein wenig hilfsbedürftig. Gehe Konflikten immer noch aus dem Weg. Aber ohne Rita stünden die Dinge heute weit schlimmer. Sie hat mir geholfen, meine Wunden heilen zu lassen, weniger unsicher zu sein, weniger empfindlich, weniger reizbar. Glücklicher. Ein normaler Mensch, oder doch so normal, wie wir es nun mal sein können – denn was heißt schon normal?

Damals jedoch, mit dreizehn, war ich ganz anders. Der Teenager Beth war manipulierend, rebellisch und herzlos. Er sah die stille Lucy neben sich sitzen und hatte nur Verachtung für sie übrig.

Sieh sie dir an, dachte ich damals. Sie ist so hässlich und mager, so eine Streberin und so picklig. Wie kann ihre Mutter ertragen, mit ihr verwandt zu sein? Schämt sie sich nicht?

Aber das tat sie nicht. Lucy Allens Mutter ließ ihre Tochter nicht im Stich.

Sie brachte sie jeden Morgen um Viertel nach acht bis ans Schultor und holte sie am Nachmittag um halb fünf wieder ab. Sie war eine hübsche, blonde Frau, die stolz lächelte, wenn Lucy zu ihr ins Auto stieg, die losfuhr und angeregt mit ihrer Tochter schwatzte.

Lucy Allens Mutter machte ihrer Tochter Lunchpakete mit selbst gebackenem Kuchen und frisch gepresstem Orangensaft.

Lucy Allens Mutter schickte ihre Tochter mit glänzenden Schuhen und einem Pullover in die Schule, der nach Weichspüler roch.

Lucy Allen hatte eine Mutter und ich nicht, das war der grundsätzliche Unterschied. Und dafür hasste ich sie. Hasste sie. Und obwohl ich doch wusste, dass mein Vater sein Bestes gab und er arbeiten und Geld verdienen musste, hasste ich die Tatsache, dass ich allein mit dem Bus nach Fairbridge und auch wieder zurück fahren musste und die Nachbarn ein Auge auf mich hatten, bis er von der Arbeit kam. Ich hasste es, dass ich mir meine Lunchpakete selbst machen musste.

Es war schrecklich, ich war allein, und es machte mich wütend, so wütend. Trotzdem kann ich nicht sagen, warum ich so auf Lucy fixiert war. Die meisten meiner Freundinnen hatten Mütter. Es war nichts, womit allein Lucy gesegnet war. Aber ich war fixiert auf sie. Absolut. Ich hasste sie.

Und es war dieser Hass, der am Ende alles kaputt machte. Der Hass auf ein Mädchen, das mir nie auch nur irgendetwas getan hatte. Er wuchs, schnell und heftig und völlig ohne jeden Grund, er fraß mich auf und ließ mich bald schon an nichts anderes mehr denken.

Es war dieser Hass, mit dem alles anfing.

Und selbst heute noch ertrage ich es kaum, daran zu denken, wie es endete.