„Was würdest du gern nach dem Lunch unternehmen?“
Angelica hatte so schon Mühe, einen Bissen von dem köstlich zubereiteten Hühnchen für den Sonntagslunch herunterzubekommen. Stephens unbeschwerte Frage verdarb ihr den Appetit gänzlich. Denn sie wollte nichts tun, was Wolf Gambrelli einschließen würde.
Arroganter Heuchler, der er war!
Sie hatte eine ganze Stunde ein heißes Bad genommen, um ihre Muskeln zu entspannen. Es schien ihr gelungen zu sein, nur ihr Rücken schmerzte noch ein wenig von dem Sturz. Aber sie wollte Stephen nicht beunruhigen, und so saß sie nun mit den beiden Männern am Esstisch.
Dass sie und Wolf Gambrelli nur mit Stephen sprachen, aber nie ein Wort aneinander richteten, schien Stephen nicht aufzufallen. Hätte er es bemerkt, wäre ihm klar gewesen, dass hier etwas nicht stimmte. Aber er schien wohl mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Es war Wolf, der auf Stephens Frage antwortete. „Ich werde nach dem Lunch nach London zurückkehren. Mein Cousin hat angerufen, um mich wissen zu lassen, dass seine Frau heute Morgen ein Mädchen zur Welt gebracht hat. Ich möchte die beiden nachher besuchen.“
Angelica sah überrascht zu ihm hin. Wolf Gambrelli schien ihr nicht der Mann, der sich etwas aus Babys machte.
Es zuckte um seine Lippen, als er ihre verdutzte Reaktion sah. „Sie hatten nicht erwartet, dass ich Familie habe?“, fragte er kühl.
„Ehrlich gesagt, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht“, erwiderte sie mit schnippischer Offenheit.
„Nun, außer meinem Cousin habe ich auch noch einen Bruder, Luc. Und meine Mutter lebt auch noch.“
„Wie schön“, log sie zuckersüß und erntete dafür von Wolf einen vernichtenden Blick. Nun, sie war weder an Wolfs Familie noch an Wolf interessiert, oder?
„Cesare ist Vater einer Tochter geworden?“, fragte Stephen erfreut. „Na, da kann er sich ja schon mal darauf einstellen, dass ihm das Herz gebrochen wird“, meinte er lächelnd.
Wolf verstand den Freund nicht. „Wie er sagte, sind Mutter und Kind wohlauf.“
„Damit meinte ich, in zwanzig Jahren“, erklärte Stephen. „Wenn ein anderer Mann auftaucht und sie ihm wegnimmt. Glaub mir, kein Mann wird einem Vater für seine Tochter gut genug sein.“
Angelica erhob sich. „Ich werde darum bitten, dass man uns den Kaffee auf der Terrasse serviert.“
Stephen griff nach ihrer Hand, als sie an ihm vorbeiging. „Du scheinst mir etwas angespannt, Darling. Ist alles in Ordnung?“
Wolf sah zu Angelica. Erst jetzt fiel ihm ihre leichte Blässe auf. Hatte sie sich heute Morgen etwa doch verletzt? „Angelica ist heute vom Pferd gestürzt.“
„Warum hast du mir das nicht gesagt?“, kam es besorgt von Stephen. „Bist du verletzt? Was ist passiert?“
Angelica bedachte Wolf mit einem vorwurfsvollen Blick, bevor sie Stephen zu beruhigen versuchte. „Nichts ist passiert. Ich bin vom Pferd gefallen. Gebrochen ist nichts, und mir geht es gut.“ Sie lächelte aufmunternd.
„Vielleicht sollte ich besser mit dir in die Klinikambulanz fahren, damit man dich untersucht.“ Stephen musterte Angelica durchdringend. „Man kann nie wissen. Sollte dir etwas passieren, dann …“
„Mir ist aber nichts passiert“, bekräftigte sie noch einmal. „Ich brauche keinen Arzt. Das Einzige, was verletzt wurde, war mein Stolz.“
Wolf durchfuhr ein Stich. Angelicas Ton war eindeutiger Beweis, dass sie tiefe Gefühle für Stephen hatte.
Er wollte aber nicht an das denken, was heute Morgen bei dem Ausritt geschehen war, hatte sich eingeredet, dass es nur ein vorübergehender Zustand der Verwirrtheit gewesen sein konnte. Sobald er wieder in London war, würde er die treulose Angelica Harper aus seinen Gedanken verbannen.
Doch als er die Sorge – die Liebe? – in ihrer Stimme hörte, da wusste er, dass er sich nur etwas vormachte. Angelica Harper war ihm unter die Haut gegangen.
Und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er wollte sich nicht zu einer Frau hingezogen fühlen, die so offensichtlich zu einem anderen Mann gehörte.
„Bitte, bestätigen Sie es ihm, Wolf“, wandte Angelica sich jetzt an ihn. „Sagen Sie ihm, dass ich praktisch sofort wieder auf den Füßen und im Sattel war.“
Praktisch sofort.
Es ging um das, was geschehen war, solange dieses „praktisch sofort“ angedauert hatte. Das war es auch, was Wolf zu der Entscheidung geführt hatte, früher als geplant nach London zurückzukehren. Cesare hatte tatsächlich angerufen, und Wolf wollte Robin und das Baby besuchen. Aber es war vor allem das dringende Bedürfnis, aus Angelica Harpers Nähe wegzukommen, dass er schon so früh zu fahren gedachte.
Er sah zu Stephen. „Ich kann dir versichern, dass Angelica nicht durch den Sturz verletzt wurde“, sagte er rätselhaft.
Und was meinte er damit? fragte sich Angelica. Bildete er sich etwa ein, seine Beleidigungen hätten sie verletzt? Da musste schon sehr viel mehr passieren als ein paar völlig danebengegriffene Unterstellungen von Wolf Gambrelli, um sie zu verletzen.
„Da hörst du’s“, wandte sie sich mit einem unbeschwerten Lächeln an Stephen. „Mir geht es gut. Wirklich.“
Überzeugt sah Stephen noch immer nicht aus.
„Gehen wir auf die Terrasse hinaus. Wolf muss ja bald fahren.“
„Ich wünschte, du hättest mir eher von deinem Unfall erzählt, Angel.“ Stephen geleitete Angelica durch die großen Flügeltüren.
„Ich sagte doch schon, es war nicht so schlimm“, tat sie ab und lächelte zerknirscht. „Außerdem … mit so etwas geht man ja nicht gerne hausieren. Mein Sturz war nicht gerade sehr elegant.“
„Nichts, was du tust, könnte unelegant sein“, neckte Stephen sie und verschränkte seine Finger mit ihren.
Wolf, der hinter ihnen ging, verzog den Mund, als er die Geste sah. Er konnte diese Zurschaustellung von Zuneigung zwischen den beiden nicht mehr lange ertragen! „Ich denke, ich lasse den Kaffee ausfallen“, meinte er steif. „Ich muss auch noch packen …“
„Du hast sicherlich noch Zeit für eine Tasse Kaffee mit uns, Wolf“, bat Stephen lächelnd. „So bezaubernd Cesares Tochter auch bestimmt ist, sie wird kaum merken, ob ihr Großcousin eine Stunde früher oder später zu ihr kommt. Zudem“, er runzelte die Stirn, „gibt es da noch etwas, das ich mit dir besprechen muss. Ich habe es bisher nur aufgeschoben.“
Wolfs Blick ruhte auf Angelica, doch sie erwiderte seinen Blick entschieden und ohne zu wanken. Sollte das Gespräch mit Stephen auch den leidenschaftlichen Moment mit ihr von heute Morgen ansprechen?
Wie auch immer, je eher dieses Gespräch vorüber war, desto besser. Wolf hatte nicht vor, noch länger hierzubleiben und den Heuchler zu spielen. Er hatte heute eine Grenze überschritten und seine Freundschaft mit Stephen betrogen. Es war besser, sich so schnell wie möglich der Versuchung zu entziehen.
„Das ist doch wohl keine geschäftliche Besprechung, oder?“, fragte Angelica. „Du hast mir versprochen, dass du an diesem Wochenende nur diese Konferenzschaltung zu erledigen hast.“ Sie goss drei Tassen ein und servierte den Kaffee.
Stephen lehnte sich gemütlich in den Korbstuhl zurück. „Es ist schön, wieder jemanden zu haben, der mich verwöhnt. Du solltest es auch mal damit versuchen“, meinte er an Wolf gewandt.
Da Wolf den Großteil seines Lebens darauf geachtet hatte, genau eine solche Situation zu vermeiden, konnte er sich nicht vorstellen, dass sich das in den nächsten zehn Jahren ändern sollte.
„Graf Gambrelli?“ Angelica reichte Wolf eine Tasse, wobei sie sehr genau darauf achtete, dass sie seine Finger nicht berührte. Diese langen schlanken Finger, die sie so intim liebkost hatten … Innerlich krümmte sie sich vor Verlegenheit, als sie an die Episode heute Morgen dachte. In den Armen eines Mannes, dessen Lebensstil ihrem eigenen so völlig zuwiderlief. Denn er war ein Mann, der sich nahm, was er wollte, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren.
Sicher, er war nicht verheiratet, aber Angelica würde nicht den Fehler ihrer Mutter wiederholen und sich einem Mann hingeben, der für seine Affären berüchtigt war.
„Worum geht es denn, Stephen?“, hob Wolf an. „Um das, was du gestern Abend schon erwähntest, oder um etwas anderes?“
Es klang wie eine simple Frage, doch Angelica hörte den scharfen Ton dennoch heraus, so als erwarte Wolf, dass es kein angenehmes Gespräch werden würde. Er glaubte doch wohl nicht, sie sei unbedacht genug gewesen, Stephen gegenüber zu erwähnen, was zwischen ihnen vorgefallen war?
So dumm war sie nun wirklich nicht. Stephen würde sich königlich darüber amüsieren, dass sie einem Mann, der ihm so ähnlich war, erlaubt hatte, sie zu überrumpeln. Stephen wusste, dass Angelica seine außerehelichen Affären nicht guthieß, daraus hatte sie von Anfang an keinen Hehl gemacht. Absolute Offenheit spielte eine große Rolle im Prozess des gegenseitigen Kennenlernens für ihre Beziehung.
Stephens Lächeln erstarb. „Ich habe es vor mir hergeschoben, schon länger, aber jetzt … Nun, am Dienstag gehe ich in eine Privatklinik. Ich würde gerne sagen, es sei nichts Ernstes, doch das wäre gelogen. Jahrelang dachte ich, ich hätte gar keins, und nun macht mein Herz mir Schwierigkeiten. Ich muss mich einer lebensnotwendigen Operation unterziehen.“
Angelica stiegen Tränen in die Augen. Wie konnte Stephen so lässig darüber reden, wenn es um sein Leben ging! Sie empfand es als Ironie des Schicksals, dass nur kurze Zeit, nachdem sie Stephen gefunden hatte, das Problem mit seinem Herzen festgestellt worden war.
Doch er hatte sich geweigert, den Ernst der Situation anzuerkennen, hatte den Kontakt mit ihr als Vorwand benutzt, um die Behandlung aufzuschieben. Jetzt blieb ihm keine Wahl mehr. Entweder, er ließ den Eingriff schnellstens machen, oder er würde nicht mehr lange zu leben haben.
Was das alles jedoch mit Wolf Gambrelli zu tun haben sollte, war Angelica nicht klar. Sicher, die beiden Männer waren Partner bei mehreren geschäftlichen Unternehmungen, vielleicht fühlte Stephen sich daher verpflichtet, Wolf zu unterrichten?
Sie drehte den Kopf, als sie Wolfs Blick auf sich ruhen spürte. Ihre Miene wurde ausdruckslos. Sie konnte sehen, dass er ihr zum Teil die Schuld an Stephens Verfassung gab, ihr, als der jungen und anspruchsvollen Geliebten.
Und Wolf konnte an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, dass Stephens Zustand keineswegs eine Neuigkeit für sie war. Er wandte sich an den Älteren. „Wie stehen die Chancen?“, fragte er mit der ihm eigenen direkten Art.
„Fifty-fifty“, gestand Stephen ernst. „Doch wenn ich mich nicht operieren lasse, dann ist hundertprozentig sicher, dass ich in den nächsten sechs Monaten sterbe.“
„Stephen!“, stöhnte Angelica gequält auf.
„Darüber haben wir doch schon gesprochen, Angel.“ Stephen fasste nach ihrer Hand und drückte ihre Finger. „Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Wenn du nicht wärst, würde ich mich gar nicht operieren lassen. Ich tue es nur, damit ich noch lange die Zeit mit dir genießen kann.“ Er lächelte Angelica aufmunternd zu.
Wolf rutschte unbehaglich auf dem Stuhl. Die Zuneigung der beiden zueinander war so offensichtlich. Er fühlte sich noch elender, dass er sich heute Morgen so hatte gehen lassen, jetzt, da er wusste, wie krank Stephen war.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte er.
Der alte Mann lächelte. „Ich wusste, du würdest mich verstehen. Wolf, ich mache mir Sorgen um Angel, falls mir etwas passieren sollte.“
„Sollte dieser schlimmste Fall eintreten, was wir nicht hoffen“, mischte Angelica sich sofort ein, „so bin ich sicher, dass ich auch ohne Graf Gambrellis Hilfe zurechtkomme.“
„Genau das ist es, Angel. Du wirst Wolfs Hilfe brauchen“, beharrte Stephen. „Nur ein gewiefter Geschäftsmann wird meine Unternehmungen durchschauen können. Außerdem sind Wolf und ich sowieso bei der Hälfte aller Geschäfte Partner.“
Stephen seufzte. „Ich hatte dich ja gewarnt, mein Freund, dass ich noch andere Motive für die Einladung hatte. Ich wollte, dass du Angel kennenlernst. Seit Jahren sind wir Freunde, du bist wie ein Sohn, den ich nicht hatte. Ich möchte dich, wenn du einverstanden bist, zusammen mit meinem Anwalt zum Vermögensverwalter machen. Angel muss nicht damit belastet werden, sollte ich die Operation nicht überstehen. Außerdem, als Alleinerbin schließt sie das mehr oder weniger von der Rolle des Vermögensverwalters aus.“
„Stephen, hör auf damit!“, flehte Angelica gepeinigt. „Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich nichts von dir will …“
„Es gibt niemanden sonst, dem ich mein Vermögen hinterlassen könnte, Darling.“
„Darum geht es doch gar nicht.“ Sie spürte Wolfs durchdringenden Blick auf sich liegen, seit Stephen von ihr als Alleinerbin gesprochen hatte. Das passte ja so perfekt in das Bild, das er von ihr hatte. „Du wirst nicht sterben! Das lasse ich nicht zu!“
Stephen lachte leise. „Ich wünschte, es wäre so einfach, Darling. Aber wir beide wissen, dass es das nicht ist. Ich will dich versorgt wissen, falls ich nicht mehr sein sollte. Wolf ist der passende Mann, der sich um alles kümmern kann.“ Er wandte sich an den Freund. „Ich weiß, ich bitte dich hier um einen großen Gefallen, aber … wärest du bereit, das zu übernehmen?“
„Gehen wir doch erst einmal davon aus, dass es gar nicht nötig sein wird.“
„Alle Hoffnung der Welt wird an den Tatsachen nichts ändern“, erwiderte Stephen realistisch. „Und selbst wenn die Operation erfolgreich verlaufen sollte, wird Angelica für ein paar Wochen eine starke Schulter brauchen, an die sie sich anlehnen kann.“
„Aber nicht Wolfs Schulter!“, protestierte Angelica sofort. Das Blut schoss ihr in die Wangen, als sie merkte, wie heftig ihre Reaktion war. „Wir kennen einander doch überhaupt nicht.“ Sie vermied es, ihn anzusehen, spürte seinen Blick unter halb geschlossenen Lidern hervor auf sich liegen.
„Darling, das war doch der Grund, weshalb ich euch beide an diesem Wochenende zusammenbringen wollte“, sagte Stephen milde.
Deshalb also war Stephen so vertrauensselig gewesen, wurde Wolf klar. Stephens Gesundheitszustand machte ihm Sorgen, aber noch größere Sorgen machte ihm Stephens Wunsch, dass er die starke Schulter für Angelica sein sollte. Schließlich hatte er den Freund schon heute Morgen betrogen. Die Vorstellung, wochen-, vielleicht monatelang an Angelica Harpers Seite zu bleiben, während Stephen sich erholte, war einfach unmöglich!
Für Angelica offensichtlich auch!
Doch wie sollte Wolf dem Freund den Gefallen abschlagen können? Stephen hatte keine Familie, und sie beide waren schließlich seit Jahren enge Freunde und Geschäftspartner. Unter den gegebenen Umständen blieb Wolf gar nichts anderes übrig. Er war zwangsläufig Stephens erste Wahl als Vermögensverwalter und Beschützer für Stephens Angel!
„Du hättest mir früher von deiner Krankheit erzählen sollen, Stephen.“
Der ältere Mann zuckte mit den Schultern. „Niemand gibt gern zu, dass er alt wird.“
Vor allem nicht, wenn man sich eine dreißig Jahre jüngere Geliebte zulegte! War das die Wahrheit, von der Angelica heute Morgen gesprochen hatte? Glaubte sie wirklich, Stephens Krankheit würde helfen, seine Meinung über sie zu ändern? Falls überhaupt, so war diese nun noch schlechter geworden!
„Außerdem will ich meine Aktienhalter nicht beunruhigen“, fuhr Stephen fort. „Mit dir am Ruder wird das nicht passieren.“
Das war sicherlich vernünftig, und in dieser Hinsicht half Wolf dem Freund liebend gern. Dennoch blieb das Problem der „starken Schulter“ für Angelica Harper. Denn es war nicht unbedingt seine Schulter, die er der schönen Angelica bieten wollte. Aber das, was heute Morgen passiert war, durfte sich nicht wiederholen, erst recht nicht, wenn Stephen so krank war. Und Angelica sah auch nicht unbedingt glücklich über das vorgeschlagene Arrangement aus.
Mit wachsender Unruhe hatte Angelica Stephens Vorschlägen zugehört. Sicher, alles, was er sagte, klang vernünftig und logisch. Wolf Gambrellis Erfahrung in der Vorstandsetage machte ihn zum perfekten Stellvertreter für Stephen und auch zum perfekten Verwalter, sollte der schlimmste Fall eintreten. Aber ihn mit einer derart mächtigen Präsenz in ihr Leben zu lassen war einfach nicht denkbar!
Und warum?
Weil er sie geküsst und liebkost hatte? Oder wegen der Art, wie sie auf ihn reagierte? Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, musste sie zugeben, dass Letzteres sie sehr viel mehr beunruhigte.
Noch nie hatte sie auf einen Mann reagiert wie auf Wolf Gambrelli. Und er war ein Mann, auf den sie am besten überhaupt nicht reagieren sollte! „Stephen“, setzte sie vorsichtig an, „ich glaube, du verlangst zu viel von Graf Gambrelli.“
Stephen sah den Jüngeren an. „Tue ich das?“
Wolf stand auf und ging zur Balustrade hinüber, sah mit leerem Blick hinaus auf die gepflegten Rasenflächen und Rabatten. Er umklammerte das Geländer so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.
Er befand sich in einer unmöglichen Situation. Aber er wusste auch, dass er Stephen die Bitte nicht abschlagen konnte. Nach Jahren der Freundschaft hatte Stephen ein Recht darauf, seine Bitte erfüllt zu bekommen. Und Wolf musste es einfach gelingen, dieses brennende Verlangen nach Angelica Harper zu unterdrücken.
Er atmete tief durch und drehte sich um. Es würde nicht leicht werden, doch die Ehre gebot, dass er das für Stephen tat.
„Es tut mir leid, aber es war doch ein ziemlicher Schock für mich. Natürlich werde ich tun, was ich kann.“ Er ging zurück zu seinem Platz, ohne Angelica anzusehen. Brauchte er auch nicht, er konnte ihr Entsetzen fühlen.
Stephen schüttelte Wolf kräftig die Hand. „Danke, Wolf. Ich wusste, ich kann auf dich zählen.“
Wolf nickte steif. „Ich werde alles tun, um Angelica während dieser schweren Zeit zu unterstützen.“
„Du weißt nicht, welch große Sorge du mir damit von den Schultern nimmst. Das Letzte, was sie braucht, ist die Presse, die herumschnüffelt, sobald sie von meinem Klinikaufenthalt erfährt. Man wird zählen, wie oft Angel mich besucht, und irgendwann wird man eins und eins zusammenzählen und mit dem richtigen Ergebnis aufwarten.“
Wolf horchte auf. „Mit dem richtigen Ergebnis?“
„Stephen …“
„Angel, Wolf kann dich nicht beschützen, wenn er nicht weiß, wovor er dich beschützen soll.“
„Ich brauche seinen Schutz nicht“, beharrte sie brüsk.
„Dem kann ich nicht zustimmen, Angel. Wolf, Angel und ich haben unsere Beziehung bewusst geheim gehalten, aber ich denke, jetzt musst du die Wahrheit erfahren.“
„Stephen …“, flehte Angelica erneut.
„Wenn Wolf dir helfen soll, dann muss er die Wahrheit kennen, Angel“, beharrte Stephen. „Wolf“, richtete er sich an den jüngeren Mann, „dieses wunderschöne Wesen, diese wunderbare Frau, meine Angel … ist die Tochter, die zu haben ich nie zu träumen gewagt habe“, verkündete er bewegt.
Stephens Tochter! Angel war Stephens Tochter?! Wolf hatte Mühe, den Schock zu verbergen.
„Wir wollten es aus der Öffentlichkeit heraushalten, um Klatsch und Spekulationen zu vermeiden.“ Stephen drückte Angelicas Finger. „Aber du musst es wissen, wenn du sie beschützen sollst.“
Blitzschnell rief Wolf sich die letzten zwanzig Stunden noch einmal ins Gedächtnis. Wie Stephen ihm Angelica vorgestellt hatte, der Stolz in seinem Blick, die innige Zärtlichkeit. Gefühle, die Wolf für jene eines bezauberten Liebhabers gehalten hatte. Die aber genauso gut die eines stolzen Vaters sein konnten. Eines Vaters, so vermutete er, der erst vor einem Jahr von der Existenz seiner Tochter erfahren hatte.
Das war also die Wahrheit, von der Angelica gesprochen hatte und die ihn in die Knie zwingen sollte, um um Verzeihung zu bitten.
Nun, die einzige Person, die in die Knie gehen würde, war sie selbst. Weil er ihr die Leviten lesen würde, dass sie ihn so lange über die wahren Verhältnisse im Unklaren gelassen hatte.