Angelica schreckte aus ihrer Benommenheit auf, als sie das leise Schnappen des Türschlosses hinter sich hörte.
Nur weil Wolf zur Abwechslung einmal nett zu ihr war, hieß das nicht, dass er ihr plötzlich vertraute oder dass er seine Meinung über sie geändert hätte.
Es änderte auch nichts daran, dass sie auf seinen sinnlichen Magnetismus reagierte – trotz seines Misstrauens ihr gegenüber.
Sie machte sich aus seinem Arm frei und schaute ihn unter halb gesenkten Lidern an. „Danke für Ihre Anteilnahme, Wolf“, sagte sie bedacht. „Ein schwerer Tag liegt vor uns allen. Ich denke, wir sollten wirklich besser zu Bett gehen. In unseren jeweiligen Zimmern“, betonte sie, als sie das kleine vielsagende Lächeln sah.
„Ich dachte mir schon, dass Sie mich nicht einladen werden, bei Ihnen zu bleiben“, meinte er gelassen.
„Dann sind Sie ja sicher nicht allzu sehr enttäuscht, nicht wahr?“ Für sie war der Waffenstillstand vorüber, definitiv. Dieser Mann war viel zu gefährlich, wenn er nett war!
Wolf hielt seine Miene bewusst unbeteiligt. Selbst mit Tränenspuren auf den Wangen war Angelica unglaublich schön. Das graue knielange Kleid schmiegte sich um ihre Figur und betonte ihren hellen Teint, die Tränen ließen die grauen Augen groß und dunkel in ihrem Gesicht schimmern.
So dunkel, wie sie gestern Morgen gewesen waren …
Die Erinnerung verfolgte ihn unablässig. Er kannte diese Frau nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob ihre Gefühle für Stephen echt waren. Doch wenn er sie jetzt so aufgewühlt sah, begann er es fast zu glauben. Und seinen Körper interessierte weder das eine noch das andere, der reagierte immer prompt.
„Ich habe das bestimmte Gefühl, dass Sie mich in gewisser Hinsicht nie enttäuschen würden, Angel.“
Sie kniff warnend die Augen zusammen und merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „Schade, dass Sie nie in die Situation kommen werden, um es herauszufinden.“
„Nicht?“, fragte Wolf provozierend.
Sein herausfordernder Ton ließ das Rot nur noch dunkler werden. „Wir hatten abgemacht, um Stephens willen heute Abend einigermaßen höflich zueinander zu sein, Wolf“, erinnerte sie ihn. „Wir wollen doch nicht mehr da hineinlesen, als es ist.“
Wolf zuckte lässig mit einer Schulter. „Die Fantasie bietet einem endlose Möglichkeiten, Angel. Vor allem seit gestern Morgen sehe ich Dinge vor mir, die ich gerne tun würde …“
„Es ist wirklich spät, Wolf“, fiel sie ihm ins Wort. Was gestern Morgen geschehen war, würde sie lieber schnellstmöglich vergessen. Oder zumindest aus ihrer Erinnerung ausblenden. Was ihr in Wolfs Nähe aber nicht gelang. Und sie war es auch leid, ihn ständig daran zu erinnern, dass er sie nicht Angel nennen sollte.
„… wie zum Beispiel erneut mit Ihnen ausreiten“, fuhr er fort, als hätte sie nie etwas gesagt.
Angelica sog scharf die Luft ein, ihre Augen sprühten ärgerliche Funken. „In London reite ich nie aus.“
Wolf wusste selbst nicht, warum er es darauf anlegte, sie zu provozieren. Als Erklärung konnte nur dienen, dass er auf sich selbst und seine körperliche Reaktion auf diese Frau wütend war. Aber es war eigentlich nicht ihre Schuld. Sie hatte wirklich kaum etwas getan, um ihn zu reizen oder zu ermutigen. Im Gegenteil, sie hatte ihn immer wieder abgewiesen und ihm die kalte Schulter gezeigt.
„Das ist tatsächlich schade“, meinte er und richtete sich gerader auf. „Nun, ich überlasse Sie dann Ihrem einsamen Bett.“
„Und ich Sie Ihrem“, entgegnete sie schnippisch.
Die Hand auf der Türklinke, drehte er sich noch einmal um. „Sollten Sie Ihre Meinung vielleicht doch noch ändern …“
„Ganz sicher nicht“, erwiderte sie entschieden. „Ich sagte Ihnen doch schon, ich habe kein Interesse an der Art flüchtiger Affäre, die ein Mann wie Sie vorzieht.“ Sie brach ab, als sie sah, wie er drohend die Augen zusammenkniff. „Es ist spät, Wolf“, erklärte sie und ging zur Tür.
Wolf musste sich zusammennehmen. Ihre erneute Bemerkung über einen „Mann wie ihn“ hatte einen wunden Punkt getroffen. Ein Mann wie Stephen, das war es, was sie meinte. Ein Mann wie ihr Vater, ein verheirateter Mann, der eine Affäre mit ihrer Mutter gehabt hatte und dabei ein Kind gezeugt hatte, ohne es zu wissen. Doch es gab einige Unterschiede zwischen ihm und Stephen, die Angel sich weigerte anzuerkennen.
Stephen hatte in einer Ehe festgesessen, in der die körperliche Erfüllung weggefallen war, nachdem Grace mehrere Fehlgeburten erlitten hatte. Die Beziehung zwischen ihm und seiner Frau war eher eine tiefe Freundschaft gewesen. Bisher war Wolf nicht einmal in die Lage gekommen, auch nur annähernd an eine Ehe zu denken. Denn wenn er sich einmal entscheiden sollte, dann war es für immer.
Angelica konnte nicht wissen, dass seine Beziehungen zu Frauen nicht immer physischer Natur waren. Viele der Frauen, die er über die Jahre begleitet hatte oder mit denen er in der Öffentlichkeit gesehen worden war, waren Freundinnen, mehr nicht.
Und nie, absolut niemals, hatte er zugelassen, dass eine Frau sich Hoffnungen auf eine Ehe mit ihm gemacht hatte.
Feinheiten, die Angelica sicherlich nicht zu schätzen wissen würde, angesichts der negativen Gefühle, die sie ihm gegenüber hegte.
Aber war es denn überhaupt wichtig, ob sie seine Seite der Geschichte verstand?
Nein.
„Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, Angel“, verabschiedete er sich brüsk und verließ Angelicas Schlafzimmer.
Eine gute Nacht? wiederholte Angelica in Gedanken. Wie sollte sie eine gute Nacht haben, wenn sie vor Sorge um Stephen kein Auge zutun würde! Und dieses Gespräch mit Wolf hatte sie auch keineswegs beruhigt.
Sie hatte gedacht, sie würde den Typ Mann kennen, der Wolf Gambrelli war. Egoistisch, egozentrisch, rücksichtslos in seinen Beziehungen zu Frauen. Und doch schien mehr an ihm zu sein, denn er hatte auf sie gewartet, weil er sich Sorgen um sie gemacht hatte.
Jetzt anzufangen, Wolf Gambrelli sympathisch zu finden, war nun wirklich das Letzte, was sie wollte! Es war schlimm genug zu wissen, dass sie sich körperlich zu ihm hingezogen fühlte und dagegen ankämpfen musste!
„Geh mit Angel auf einen Kaffee, Wolf“, sagte Stephen am nächsten Morgen.
Es war Punkt elf, und das medizinische Personal kam ins Zimmer, um Stephen in den OP zu bringen.
„Oder macht einen Spaziergang im Park. Irgendetwas. Aber lenk sie für die nächsten Stunden ab und halte sie beschäftigt“, bat er den Freund, während Angelica sich mit bleichem Gesicht an seine Hand klammerte.
„Aber …“
„Stephen hat recht, Angel.“ Sanft legte Wolf seine Hand auf ihren Arm. „Es wird Stunden dauern, bevor Peter Soames uns etwas sagen kann. Es bringt nichts, wenn wir die Zeit hier herumsitzen.“
Sicher, die Klinik war hell und freundlich, das Personal höflich und kompetent, aber es würde Angel nicht guttun, hier nervös auf die Nachricht über den Ausgang der Operation zu warten.
Als sie heute Morgen ins Esszimmer gekommen war, hatte Wolf sich ernsthafte Sorgen um sie gemacht. Selbst das sorgfältig aufgetragene Make-up hatte die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihre angespannten Züge nicht kaschieren können. Sie hatte keinen Bissen gegessen, nur eine Tasse schwarzen Kaffee akzeptiert.
Ein weiteres Zeichen, dass Wolf vielleicht doch einen gravierenden Fehler in seiner Einschätzung von Angel gemacht hatte. Und wenn das wirklich stimmte, dann waren einige der Bemerkungen, die er ihr gegenüber hatte fallen lassen, unnötig grausam gewesen.
Jetzt hielt er Angels Arm mit sanftem, aber unnachgiebigem Griff. „Wir sehen uns dann in ein paar Stunden, Stephen“, sagte er zu dem älteren Mann und hoffte, dass es wirklich so sein würde. Sie waren zu lange befreundet, als dass Wolf sich ein Leben ohne Stephen vorstellen konnte.
Stephen sah ihn fest an. „Auf jeden Fall, das werden wir“, erwiderte er zuversichtlich und schüttelte fest die Hand, die Wolf ihm bot. Dann streckte er die Arme nach Angel aus und schloss sie in seine Umarmung.
„Ich liebe dich!“, flüsterte sie bewegt. Es war das erste Mal, dass sie die Worte aussprach, aber es war die reine Wahrheit.
Vor einem Jahr, als sie Stephen aufgesucht hatte, wusste sie nicht, was sie von der Beziehung zu ihrem leiblichen Vater zu erwarten hatte. Sie war nur überzeugt gewesen, Stephen habe ein Recht darauf, zu erfahren, dass er eine Tochter hatte. Über mögliche Gefühle, die sich zwischen ihnen entwickeln würden, hatte sie nicht wirklich nachgedacht. Doch in Stephen war sofort die Liebe für seine Tochter erblüht. Bedingungslos hatte er sie in sein Leben geholt, hatte ihr erlaubt, ihn kennenzulernen und sie ermuntert, ihn ebenfalls zu lieben.
Angesichts der Möglichkeit, dass sie ihn verlieren könnte, musste sie ihm sagen, wie sie für ihn fühlte.
„Ich liebe dich auch, Angel“, murmelte er ergriffen. Dann sah er zu seinem jüngeren Freund. „Wolf?“
Angelica sträubte sich nicht, als Wolf sie sanft von Stephen wegzog. Er hielt sie stützend bei den Schultern, als man Stephen aus dem Zimmer schob. Ebenso wenig wehrte sie sich, als Wolf sie dann in seinen Armen zu sich drehte und sie tröstend an sich drückte, während ihr Tränen über die Wangen rollten.
Nach einer Weile führte er sie aus der Klinik hinaus in den hellen Sonnenschein. Später hätte Angelica nicht sagen können, wie die nächsten Stunden vergingen. Sie erinnerte sich nur schwach daran, dass Wolf ihr in einem Café eine Tasse Kaffee und ein Sandwich bestellte. Er hielt die Konversation in Gang und sprach bewusst nur über seichte Themen, während Angelica wie in Trance dasaß und vor sich hin starrte.
Wolf konnte dem Freund nur recht geben, wie wichtig es war, Angelica abzulenken. Allein hätte sie im Wartezimmer gesessen, sich die schlimmsten Dinge ausgemalt und wäre immer mehr in sich zusammengefallen. Seine eigenen Sorgen um Stephen hielt er eisern unter Kontrolle. Angel brauchte seine Hilfe mehr.
Auf dem Weg zurück zur Klinik musste Wolf sich eingestehen, welchen gravierenden Fehler er mit seinem Urteil über Angel gemacht hatte. Es war keine angenehme Erkenntnis, wenn er sich daran erinnerte, welche Beleidigungen er ihr entgegengeschleudert hatte!
Was jedoch nichts an seinem Begehren für sie änderte.
Im Gegenteil, es wuchs nur noch. Er schien keine Kraft zu haben, sich ihrer Wärme und ihrer Schönheit und der Ernsthaftigkeit ihres Wesens zu entziehen. Keine gute Idee, wenn dann auch noch diese körperliche Anziehungskraft hinzukam!
Jahrelang hatte er immer peinlich genau darauf geachtet, dass sein Herz nicht berührt wurde, damit er das Leben in vollen Zügen genießen konnte – und damit er dem Gambrelli-Fluch auswich. So war nun die Möglichkeit, er könnte mehr als nur fasziniert von Angel sein, ein absolutes Tabu für ihn!
Er presste die Lippen zusammen, als er die Tür für Angel aufhielt. „Inzwischen gibt es bestimmt Neuigkeiten über Stephen.“
Nur zögernd setzte Angelica den Fuß über die Schwelle des Krankenhauses. Fast wollte sie nichts Neues hören. Sie wusste nicht, was sie tun würde, sollte die Operation kein Erfolg gewesen sein …
„Angelica!“
Ungläubig und freudig überrascht sah Angelica auf, als sie die Stimme erkannte. Ihre Mutter kam aus dem Wartebereich auf sie zugeeilt.
„Mum?“, entfuhr es ihr erstaunt.
„Ich konnte dich das hier nicht allein durchmachen lassen.“ Die beiden Frauen fielen sich in die Arme. „Neil und ich haben darüber gesprochen und beschlossen, dass ich wenigstens den heutigen Tag an deiner Seite sein sollte.“
Mit einem zerknirschten Lächeln fügte sie hinzu: „Auch wenn die Situation ein wenig ungewöhnlich ist.“ Neugierig sah sie auf den Mann, der neben ihrer Tochter stand. „Als ich hier ankam, sagten die Schwestern mir, dass Graf Gambrelli für ein paar Stunden mit dir ausgegangen sei, um die Wartezeit zu erleichtern.“
Farbe kam in Angelicas bleiche Wangen zurück. Sie wusste genau, was ihre Mutter sah, als sie Wolf betrachtete – einen großen Mann mit dunkelblonder Mähne und gebräunter Haut, verboten attraktiv in Hemd und ausgewaschenen Jeans. Und ihr war auch bewusst, dass sie Wolfs Existenz mit keinem Wort erwähnt hatte, als sie gestern ihre Eltern besuchte.
Aber was hätte sie denn sagen sollen? Dass ein gewisser Graf Gambrelli, Stephens Freund, für die nächsten Tage den Beschützer für sie spielte? Das hätte nur zu weiteren Fragen über Wolf Gambrelli geführt. Fragen, die Angelica nicht unbedingt beantworten wollte.
Wolf musterte Angelicas Mutter, die Frau, die vor siebenundzwanzig Jahren Stephens Geliebte gewesen war. Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter war nicht zu übersehen. Beide Frauen hatten das gleiche mitternachtsschwarze Haar, bei der Älteren war es zu einer schwungvollen schulterlangen Frisur geschnitten, beide hatten sie diese großen grauen Augen. Beide waren groß und schlank und wiesen doch an all den richtigen Stellen verlockende Kurven auf.
Kein Wunder, dass Stephen vor einem Jahr keine Zweifel gehabt hatte, dass Angelica seine Tochter war.
„Mrs Harper.“ Mit ausgestreckter Hand trat Wolf vor. „Ich bin Wolf Gambrelli, ein enger Freund von Stephen. Er bat mich, mich heute um Angel zu kümmern.“
„Graf Gambrelli.“ Angelicas Mutter hatte auch die gleiche leicht rauchige Stimme wie ihre Tochter. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Sie in dieser Situation bei meiner Tochter sind.“
Angelica war noch immer erstaunt, ihre Mutter hier zu sehen – aber nicht so erstaunt, als dass sie nicht den neugierigen Blick bemerken würde, mit dem ihre Mutter Wolf taxierte, und die fragend hochgezogene Augenbraue, als sie sich zu Angelica umdrehte.
Sie hatte das Gefühl, ihrer Mutter eine Erklärung zu schulden. „Mum, ich …“
„Miss Harper?“
Abrupt drehte Angelica sich um, als sie gerufen wurde, und richtete den Blick auf Peter Soames, der auf die kleine Gruppe zukam. Er trug noch seinen OP-Kittel.
Dieses strahlende Lächeln, das auf seinem Gesicht stand, war doch Bestätigung genug. Stephens Operation war bestens verlaufen!
Wolf stand nachdenklich ein wenig abseits, als Angel sich impulsiv ihrer Mutter in die Arme warf. Die beiden Frauen hielten sich fest und weinten vor Erleichterung.
Ja, er hatte einen Fehler gemacht, gestand er sich grimmig ein. Auch was Angelicas Familie und deren Beweggründe betraf.
Und damit war der letzte Vorbehalt weggefallen, den er noch gegen seine starken Gefühle für Angel gehabt hatte.