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WAS BERTO ERZÄHLT

Der Polizeihauptmeister legte dem Inspektor die beiden Patronen auf den Schreibtisch. »Was hätte ich sonst machen sollen?«

»Du hast das ganz richtig gemacht, Farinon«, bestätigte der Inspektor.

Er nahm aus der Schublade die beiden Patronen, die ihm Gigi, der Totengräber, gegeben hatte, und legte sie neben die von Adùmas.

Ein Blick genügte: selbe Marke, gleiche Farbe, gleiche Verschlusspappe. Dieselbe Marke Zündhütchen.

Farinon und Gherardini sahen sich an.

»Ich wette, wenn wir sie öffnen, ist innen auch der gleiche Filzpfropfen«, sagte der Polizeihauptmeister.

»Das überlassen wir jemandem, der sich auskennt.«

»Wie geht’s jetzt weiter, Bussard?«

Der Inspektor gab keine Antwort. Er steckte die beiden Patronen, die der Totengräber gebracht hatte, in einen Umschlag und schrieb darauf: Unter dem Körper des Elben gefunden. In einen anderen Umschlag steckte er die Patronen, die Farinon mitgebracht hatte. Er schrieb: Bei Adùmas sichergestellt.

»Ich weiß es nicht, Farinon. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Wenn du meine Meinung hören willst …«, sagte Farinon und verstummte. Er war nicht sicher, ob sein Chef sie hören wollte. Aber der Inspektor sah ihn erwartungsvoll an. »Meiner Meinung nach müssten wir ihn sofort festnehmen.«

»Ich möchte ihm vertrauen. Er hat Nachmittag gesagt. Wir warten den Nachmittag ab«, sagte der Inspektor und legte die Umschläge in die Schublade.

Der Vormittag verging, der ganze Nachmittag verging. Gegen Abend kam der Inspektor aus seinem Büro und rief: »Farinon, wir fahren!« Zu Ferlin, der am Empfang in den Computer vertieft war, sagte er: »Sollte er sich blicken lassen …«

»… lass ihn nicht mehr gehen«, ergänzte Farinon, der hinzugekommen war.

»Man kann nie wissen«, erwiderte der Inspektor. Dann, wieder zu Ferlin: »Falls es so ist, halt ihn hier fest, wir sind bald zurück. Kannst ja kurz anrufen.«

Sie fuhren schnell.

Nicht schnell genug.

Bussard hielt am Rand des Vorplatzes. »Sein Auto steht nicht da«, sagte er und fuhr weiter bis vor die Haustür.

»War eigentlich klar.«

Sie stiegen aus. Kein Lebenszeichen, Stille ringsum.

Ebenso im Haus. Die Tür war nicht abgesperrt.

Die beiden wechselten kein Wort, während sie alles absuchten. Sie inspizierten das Erdgeschoss, und als sie die Treppe zu den Zimmern im oberen Stock hinaufsteigen wollten, tippte Farinon Marco auf die Schulter und deutete in den Raum unter der Treppe. An der Garderobe hing kein Gewehr und kein Patronengurt. Beides hatten sie dort sonst gesehen. Auch der Rucksack fehlte, den Adùmas immer mitnahm, wenn er in den Wald ging.

Bevor sie wieder weiterfuhren, kontrollierten sie sicherheitshalber noch die Scheune. Und den Gemüsegarten und den Holzschuppen.

Im Hasenstall lag kein frisches Gras, und die Hühner in ihrem Gehege rannten sofort ans Tor, als die beiden sich näherten.

Immer noch schweigend kehrten sie zum Wagen zurück.

»Der hat ja nicht mehr alle«, brummte Bussard.

Sie wollten gerade einsteigen, als sie Motorenlärm hörten. In der Kurve tauchte ein Panda auf. Ein frühes Modell, alt und ramponiert. Es war nicht der von Adùmas.

Das Auto fuhr auf den Vorplatz und kam neben dem Wagen der Forstpolizei zum Stehen. Berto stieg aus, ein Rentner, der auf dem Nachbarhof lebte. Er war immer Bauer gewesen und hatte auch noch weitergemacht, nachdem er bei Benito feierlich verkündet hatte: »Jetzt bin ich endlich in Rente.«

Und so ratterte sein alter Traktor immer noch hin und wieder über die Äcker rings um seinen Hof. Angehängt war der Mähbalken oder der Heuwender oder der Schwader zur Vorbereitung der Ballen. Die Berto dann an Bauern in der Gegend verkaufte, die noch Milchvieh hielten. Manchmal koppelte er auch den Hänger an und lieferte auf Bestellung Brennholz für den Winter. So stockte er auf die eine oder andere Weise die knapp bemessene Rente auf, die ihm der Staat zahlte. Die sowieso sein eigenes Geld und nicht Geld des Staates war, wie er oft betonte.

»Ich hab mein Leben lang die Erde beackert, da hab ich ja wohl das Recht, mein Geld zurückzukriegen, oder?«

»Was machst du hier, Berto?«, fragte Farinon.

»Ich helfe Dùmas ein bisschen.« So nannte man Adùmas in Casedisopra. Das A war irgendwie abhandengekommen.

»Wieso, wo ist er denn?«

»Das weiß ich nicht. Er war heute Morgen bei mir, so um neun, halb zehn …«

Adùmas war bei Berto aufgetaucht, kurz nachdem Farinon Vinacce mit den beiden Patronen verlassen hatte. Er trug eine dicke Jacke und hatte das Gewehr geschultert, den Lauf zum Boden gerichtet, einen Brotzeitbeutel auf dem Rücken, und am Hosenbund spitzte der Patronengurt hervor.

»Dùmas, du weißt doch, dass die Jagdsaison vorbei ist, oder?«

»Was ich jage, dafür ist immer Saison, Berto. Kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Hab ich dir schon mal einen ausgeschlagen?«

»Du müsstest die Viecher versorgen und den Garten ein bisschen gießen, wenn es nicht regnet.«

»Wie lang bist du denn weg?«

»Hm, weiß ich nicht genau. Kommt drauf an.«

»Auf was denn?«

»Wie lang es dauert, ich suche jemanden.«

Berto unterbrach seinen Bericht, um in seiner Hosentasche zu kramen und sich eine Zigarette anzuzünden. Beim ersten Zug ein Hustenanfall.

»Das bringt mich noch ins Grab«, sagte er, als er sich beruhigt hatte. »Wo waren wir stehen geblieben?«

»›Wie lang es dauert, ich suche jemanden‹«, erinnerte ihn Bussard.

»Ja. Ich frage nicht, wen er sucht, er würde es mir sowieso nicht sagen. Wenn Dùmas was nicht sagen will, sagt er es nicht, Schluss aus. Ich kenne ihn schon ewig.«

Bussard steckte sich ebenfalls eine Zigarette an. Farinon bot er auch eine an.

Eine Weile rauchten sie schweigend. Irgendwann fragte der Inspektor: »In welche Richtung ist er dann weiter?«

»Er hat sich ins Auto gesetzt und ist in Richtung Campetti gefahren.« Berto trat die Zigarette aus. »Also, ich muss weitermachen«, sagte er und holte ein Bündel Luzerne und Süßklee aus dem Kofferraum des Panda und ging zum Hasenstall.

»Augenblick noch, Berto«, sagte der Inspektor. »Wen sucht er denn deiner Meinung nach?«

»Puuh … hm …«, meinte er, ohne stehen zu bleiben. Das tat er erst nach ein paar Schritten, und dann sagte er: »Ich glaube aber, dass ich es weiß.« Er legte das Bündel auf den Boden. »Die Hasen können fünf Minuten warten«, sagte er und kehrte zu den beiden Forstpolizisten zurück, die neben dem Geländewagen stehen geblieben waren. »Er sucht bestimmt die beiden Elben, die immer um sein Haus schleichen. Vor zwei, drei Wochen sind wir mal aus dem Catullo-Wald zurückgekommen …«

Der Catullo-Wald gehörte zu einem Gutshof, der seit zwanzig Jahren leer stand, seit der Eigentümer sich verabschiedet hatte. Endgültig und nicht aus freien Stücken. Man fand ihn tot am Rand des Feldwegs, der von der Landstraße zu seinem Haus führte. Der Weg führte zwischen den Feldern hindurch und endete auf dem Vorplatz.

Herzinfarkt, stellte der Amtsarzt fest.

Daran starben die Alten, die keine Erben hatten, oder solche, die keine Kinder und keine Enkel in der Nähe hatten und die den Ort, an dem sie geboren und aufgewachsen waren, nicht verlassen wollten.

Nach seinem Tod war niemand vorstellig geworden, um Besitzansprüche geltend zu machen, und Felder und Wald waren im Lauf der Jahre verwildert und sahen aus wie früher, als die Häuser im Gebüsch verborgen lagen und die Felder, die dem steinigen Boden in jahrhundertelanger schweißtreibender Arbeit abgetrotzt worden waren, auf einmal hinter den Bäumen zum Vorschein kamen.

So gehörte der Catullo-Wald mittlerweile ein bisschen allen Bewohnern von Casedisopra. Der Großteil des Brennholzes, das im Dorf verbraucht wurde, kam von dort. Es war kein Diebstahl, es gab ja keinen Eigentümer. Man trug dazu bei, ein Mindestmaß an Gleichgewicht zu erhalten zwischen der Natur, die sich wiederzuholen versuchte, was ihr gehörte, und dem Menschen, der ihr das nicht zurückgeben wollte.

Aus dem Catullo-Wald kam nun Bertos Traktor, und darauf saß, außer Berto am Steuer, auch Adùmas. Der Hänger war mit Brennholz voll beladen, das vor Adùmas Holzschuppen abgeladen werden sollte.

Als der Traktor in den schmalen Weg einbog, der zum Haus führte, fluchte Adùmas: »O verdammt!«, sprang vom Traktor und rannte in Richtung Haus.

Auf dem Vorplatz schlenderten zwei Elben herum, besahen sich das Haus und diskutierten. Als sie Adùmas bemerkten, entfernten sie sich.

Er trat ihnen entgegen. Er packte den Größeren an seinem Kittel und brüllte ihm ins Gesicht: »Was zum Teufel wollt ihr beiden, immer schleicht ihr hier rum!«

Der Kleinere, fast noch ein Kind, blond und krankhaft blass, trat ein paar Schritte zurück. Eingeschüchtert von Adùmas’ Reaktion.

Auch Berto kam dazu, er hielt den Traktor an, sprang herunter und löste Adùmas’ Griff von dem Elben, der keinen Finger gerührt hatte und jetzt nur in rudimentärem Italienisch stotterte: »Nur spazieren. Verboten?«

»Verboten, ja! Das ist verboten! Auf meinem Hof ist das verboten! Vor allem, wenn ich nicht da bin! Geht dir das endlich in die Birne? Kapierst du das?«

»Lass ihn«, sagte Berto. »Er versteht nichts.«

»Der tut doch bloß so.«

Er ließ von ihm ab. Auch weil Berto die beiden Elben wegschubste. »Los, verschwindet.«

Im Haus, bei einem Glas Wein, das sie sich nach dem anstrengenden Holzabladen verdient hatten, erklärte Adùmas: »Die schnüffeln hier immer rum, die beiden. Vor ein paar Tagen erst und davor auch schon. Was wollen die hier? Ein paar Hühner sind weg …«

»Bei mir auch«, sagte Berto beschwichtigend. »Der Fuchs, Dùmas, der Fuchs.«

Berto überlegte eine Weile, ob es dem, was er gerade berichtet hatte, noch etwas hinzuzufügen gab. Nein, eigentlich nicht. Er grüßte die Forstpolizisten mit einem Kopfnicken und wandte sich wieder seinem Kleebüschel zu. Die Tiere warteten schon.

»Du musst mit uns aufs Revier, Berto«, sagte der Inspektor.

»Jetzt? Und die Tiere?«

»Die verhungern schon nicht wegen zehn Minuten. Ferlin bringt dich wieder her.«

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