Er kannte die Elben. Von klein auf hatte er von ihnen gewusst, aber nur vom Hörensagen. Als sich seine Eltern in der Gegend niederließen, misstrauten sie wie viele Einheimische dieser Neuerscheinung und legten keinen Wert darauf, dass er Kontakt mit ihnen hatte.
Er hatte mit den Elben in der Zeit eines Amtsantritts als Leiter der Forstinspektion zu tun gehabt, aber die Kontakte waren formal geblieben. Ein paarmal musste er überprüfen, ob sie privates Eigentum, ob von Einheimischen oder nicht, oder öffentliches Eigentum beschädigten. Es hatte keine Schwierigkeiten gegeben, sie waren hergezogen, um dort oben zu leben, und achteten auf ihre Umgebung. Oft konsequenter als die Urlauber.
Er hatte auch schon bei anderen Gelegenheiten an den Versammlungen teilgenommen, die die Elben selbst oder die örtliche Verwaltung abhielten, um bestimmte Verhaltensregeln aufzustellen.
Die Einladung zum Mittagessen in eines der Häuser war überraschend gekommen, und er hatte sie angenommen, ohne genau zu wissen, was ihn erwartete.
Am Ende bereute er es nicht.
Das Essen, das Elena in kurzer Zeit zubereitet hatte, weckte Erinnerungen an früher, an Geräusche, Gesten und Gerüche, die er auch zu Hause gehört, gesehen und gerochen hatte. Zum Beispiel das rhythmische Geräusch des Wiegemessers auf dem Schneidbrett, wenn Gewürzkräuter wie Thymianblättchen, Rosmarin und Salbei und Knoblauch zerkleinert wurden. Und wie sich Elenas Schultern bewegten, während sie alles miteinander wiegte und ein paar Tropfen Öl und Ziegenricotta hinzufügte.
»Den habe ich von Paolino aus Campetti«, hatte sie erklärt. »Von seiner Cornetta.«
Der angenehme Geschmack des Ricottas, leicht geschärft von einem Hauch Chili »aus meinem Garten«, die sie in die Schüssel gebröselt hatte, bevor sie ihn zusammen mit ein paar heißen Salzkartoffeln auf den Tisch gestellt hatte.
Neben dem Ricotta und den Kartoffeln lagen in Ringe geschnittene Frühlingszwiebeln – »auch aus dem Garten« –, die sie zum Weinen gebracht hatten.
»Mach die Zwiebeln an, wie du magst. Ich gebe nur ein paar Tropfen Öl und eine Prise Salz drauf. Kein Essig. Passt nicht zum Ricotta.«
Marco ließ es sich schmecken. Inklusive Gänsewein.
»Ich hab keinen Wein«, hatte sie sich entschuldigt. Also gab es Quellwasser.
Als sie vom Tisch aufstand – »Jetzt hätte ich noch Beeren anzubieten. Magst du welche?« –, kam sie Marco bekümmert vor.
»Sehr gern«, beruhigte er sie. »Besser als bei Adele«, sagte er und wurde mit einem Lächeln belohnt.
Elena holte die Beeren, und Marco wischte so lange die letzten Spuren der Öl-Ricotta-Mischung mit einem Stück Brot aus der Schüssel.
Elena stellte eine Schale Waldbeeren auf den Tisch, die Saft gelassen hatten, Erdbeeren, Blaubeeren und Himbeeren.
»In Blaubeeren stecken jede Menge Mineralstoffe und Vitamine … Ihre antioxidativen Eigenschaften schützen vor freien Radikalen …«
»Ich habe nichts gegen freie Radikale …«, bemerkte er.
»Du spinnst, das solltest du nämlich. Sie sind für das Altern der Zellen verantwortlich. Blaubeeren enthalten auch Anthocyanidine, die die Sehkraft verbessern …«
»Ich weiß. Im Krieg haben sie die Piloten der britischen Jagdbomber mit Blaubeeren vollgestopft, damit sie während der nächtlichen Angriffe besser sehen.«
»Stimmt das, oder verarschst du mich schon wieder?«
»Ich schwör’s.«
Zufrieden fuhr Elena fort. »Himbeeren wirken entzündungshemmend, senken das Cholesterin, beugen Falten vor …«
»Du siehst nicht so aus, als würdest du das brauchen.«
»… und stärken die Blutgefäße. Die Folsäure beugt Haarausfall vor, und die Ellagsäure ist ein Antioxidans, das das Wachstum von Tumorzellen hemmt, vor allem im Darm …«
»Na, wenn das so ist …«, unterbrach Marco sie und zog die Schale mit den Beeren zu sich her.
Sie aßen zusammen, aus derselben Schale und mit nur einem Löffelchen. Eins für mich, eins für dich.
Am Ende nahm Elena die Schale in beide Hände und hielt sie Marco hin, damit er den letzten Schluck Saft schlürfen konnte, den die Beeren hinterlassen hatten.
»Jetzt bleibe ich lange gesund«, sagte er. »Glaubst du wirklich an alle diese Zauberkräfte?«
Elena schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich hoffe auf sie. Lass mich träumen, deswegen bin ich doch hier.«
Marco zog sie an sich und küsste sie. Ein paar Tropfen der kostbaren Flüssigkeit wanderten von seinen zu Elenas Lippen.
Sie küssten sich wieder.
Allmählich ging die Sonne unter.
In der Tür sagte Marco, bevor er ging: »Was hast du eigentlich mit den seltsamen Sachen gemeint, die bei euch passieren?«
»Du vergisst aber auch nie, dass du Polizist bist. Hm … seltsame Sachen, seltsames Verhalten, ich weiß nicht, es ist mehr ein Gefühl als was Reales. Und …« Sie sprach nicht weiter.
»Und was?«
»Helga, du weißt schon, meine deutsche Freundin, die fast kein Italienisch kann, ist öfter bei Joseph.« Sie sprach nicht weiter, als wäre das Gespräch zu Ende.
»Sollte mich das interessieren?«
»Sie hat mir erzählt, dass er eine Pistole hat. Ich habe nicht viel kapiert, sie spricht ja kaum Italienisch. Aber soviel ich verstanden habe, versteckt Joseph in seinem Haus eine Pistole. Und das passt echt nicht zu einem Elben.«
Langsam wanderte Marco zum Auto zurück. So wie der Tag bisher verlaufen war, hatte er scheinbar keine Ergebnisse in Aussicht gestellt, doch dann hatte er sich gewendet und ihm ein weiteres Fragezeichen beschert. Nur um eine Geschichte, die schon knifflig genug war, noch kniffliger zu machen.
Joseph hatte eine Pistole. Wozu brauchte er die?
Um den Streicher zu töten, hätte er kein Gewehr gebraucht.
Oder hatte er außer der Pistole auch ein Gewehr?
Ziemlich unwahrscheinlich. Wie er ihn einschätzte, war Joseph nicht der Typ, der ein altes Schießeisen mit selbstgeladenen Patronen sein Eigen nannte. Wenn er ein Gewehr hatte, dann ein modernes und mit industriell gefertigter Munition.
Adùmas strich einstweilen immer noch auf der Jagd nach jemandem durch die Wälder. Und er, der Inspektor, verpasste ihn jedes Mal. Fast als wüsste Adùmas das und machte sich einen Spaß daraus. Als würde er ihn herausfordern: »Ich war übrigens da, in der Ca’ Storta, in Pastorale und bin schon wieder weg.«
Es gab noch einen Ort, an dem Marco ihn vermutete. Vielleicht kam Adùmas nicht in den Sinn, dass er ihn kannte. Kaum jemand kannte ihn, und im Lauf der Jahre, mehr als siebzig inzwischen, war er in Vergessenheit geraten.
Auch das Wetter schien an diesem Tag der erzwungenen Wanderungen durch den Apennin seine Meinung zu ändern. Die Wolken, die sich am Morgen vom Westen her gesammelt hatten und keinen Regen zu bringen schienen, waren gegen Abend dunkel geworden.
Marco Gherardini brauchte für den Weg bis zum Auto länger als gedacht. Die Gedanken hatten seinen Schritt verlangsamt, und vereinzelt fielen erste Regentropfen.
Das hat gerade noch gefehlt, nach so einem unnützen Tag.
Nicht ganz unnütz. Die zweite Hälfte war angenehm gewesen. Das Mittagessen bei Elena.
Er dachte inzwischen ein bisschen zu viel an Elena.
Umgekehrt auch, wie er aus der Aufmerksamkeit schloss, die sie ihm schenkte. Und aus den Informationen, die sie ihm gab.
Vorausgesetzt, sie stimmten. Wie Josephs Pistole, aber …
Aber hatte Helga richtig gesehen? Und hatte Elena richtig verstanden, was Helga ihr erzählt hatte, mit ihren paar Brocken Italienisch?
Jetzt machte der Regen ernst, und Marco zerrte, ohne die Jacke auszuziehen, die Kapuze aus der verborgenen Tasche am Kragen und zog sie sich über den Kopf.
Er ließ die Gedanken beiseite und beschleunigte den Schritt.
Viel nutzte es nicht. Als er den Wagen erreichte, lief ihm das Wasser über das Gesicht.
Marco sah zum Himmel. Keine Hoffnung, dass das Wetter sich in der Nacht ändern würde.
Morgen früh muss ich auf jeden Fall wieder los.
Keine besonders verlockende Aussicht.
Vielleicht hatte der Regen auch sein Gutes. Adùmas würde sein Versteck nicht verlassen.
Gherardini fuhr nicht aufs Revier. Er rief von zu Hause aus an, noch bevor er aus der Jacke schlüpfte, die angeblich wasserdicht war, aber eine leichte Feuchte durchgelassen hatte.
Farinon ging an den Apparat. »Gefunden?«, fragte er sofort. Er hatte die Nummer auf dem Display erkannt.
»Gerochen. Er hat die Nacht in Pastorale verbracht, bei Florissa. Erinnerst du dich an sie?« Farinon brummte irgendwas, das ja heißen sollte. »Er ist zeitig wieder weg. Ich glaube, ich weiß wohin.« Farinon wartete darauf, es zu erfahren, aber der Inspektor beendete das Gespräch: »Ich ziehe jetzt erst mal meine Klamotten aus und dusche. Hast du Lust auf einen Kaffee bei mir, bevor du nach Hause gehst? Morgen muss ich sehr früh los und werde dann einen langen Marsch hinter mir haben, wenn ich aufs Revier komme.«
Farinon trat ein, ohne anzuklopfen. Bussards Haustür war nie abgesperrt. Er traf ihn am Tisch sitzend an, mit einem Gläschen Grappa. Vor ihm lag ein quadratisches Blatt Papier.
»Was ist das für eine Landkarte?«
»Das ist keine normale Landkarte. Es ist eine Karte des geomilitärischen Instituts, 1:25000. Von Florenz. Wir backen kleine Brötchen. Sie ist 1986 neu herausgekommen, aber die Gegend ist so unwegsam, dass sie sich kaum verändert haben dürfte«, erklärte Gherardini.
Farinon warf einen Blick darauf. Es handelte sich um eine Region an der Grenze des Gemeindegebiets. Darauf waren Wege, Saumpfade, Wildbäche und sogar Quellen eingezeichnet. Nicht alles stimmte mit den tatsächlichen Gegebenheiten überein, aber im Großen und Ganzen entsprach die Karte der Lage.
Er hatte ein kleines Gebiet gelb eingekringelt, in der die Höhenlinien besonders nah nebeneinander verliefen. Was bedeutete, dass es zu der markierten Stelle steil bergauf ging.
»Und du glaubst, dass er da oben ist?«
»Ich bin fast sicher. Kennst du die Gegend?«
Farinon sah sich die Karte noch einmal genau an. »Nein, da war ich noch nie. Da oben sind nur Schluchten und Steilhänge. Keine Menschenseele.«
»Magst du?«, fragte Marco und deutete auf das Glas.
»Den versprochenen Kaffee mag ich.«
Marco machte Farinon einen Kaffee, und während beide tranken, informierte Marco seinen Kollegen über den unnützen, nassen Tag.
»Na ja, ganz unnütz auch wieder nicht. Morgen früh dürfte das bescheuerte Katz- und Mausspiel mit Adùmas vorbei sein.«
»Bis zum Nachmittag ist Regen angesagt.«
»Gut so. Dann bleibt er, wo er ist. Alles in Ordnung auf dem Revier?«
»Im Rahmen. Soll ich mitkommen?«
»Nicht nötig. Es reicht, wenn einer nass wird.«